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Zitiervorschlag

Lernen mit der rechten Gehirnhälfte

Barbara Perras

 

Bei einer Veranstaltung zu Lernschwächen wie Legasthenie, Dyskalkulie und AD(H)S mit Ergotherapeuten, Logopäden und Schulpsychologen fiel mir (wieder einmal) auf, dass Lernen vor allem im Sitzen und anhand von Arbeitsblättern in den Köpfen von Erwachsenen vorherrscht. Eine Begründung dafür ist die leichte Darstellung der Methoden über Laptop und Beamer bei Vorträgen...

Kinder lernen anders als wir Erwachsenen. Sie folgen ihrem inneren Bauplan (nach Montessori) und ihrer individuellen Hirnreifung gemäß der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Aus homo erectus wurde homo sapiens. Die Aufrichtung war ein wichtiger Schritt in der Menschheitsgeschichte, nicht nur für die Sprache. Homo habilitis war der geschickte. Heute sind wir wissende Menschen, aber auch sitzende.

Kinder lernen zunächst mit der rechten Hemisphäre, d.h. eigentlich mit den Qualitäten, welche später der rechten Gehirnhälfte zugeschrieben werden. Beide Hemisphären spezialisieren sich erst parallel mit der Entwicklung einer dominanten Hand beim Kind. Evolutionsforscher stellten fest, dass gleichzeitig mit der Entwicklung einer Werfhand für die Jagd sich auch die Gehirne von homo veränderten.

"Sachliche" und eher inhaltlose oder abstrahierte Zeichen und Symbole kann das Kind erst relativ spät lernen. Die Zahl Null entstand im Vergleich zu den anderen Zahlen relativ spät im Verlauf der Evolution. Ich kenne keine Null bei den römischen Ziffern. Maria Montessori führte die Null auch erst ein, nachdem den Kindern die anderen Zahlen bekannt waren: Beim Spindelkasten, der sehr stark auf den stereognostischen Sinn des Kindes baut, wird zum Schluss die Null benannt. Das Kind kann vergleichen, wie sich ein Stäbchen - neun Stäbchen - und zu Schluss die leere Hand anfühlen.

"Alles, was wir uns im Geiste ausmalen, wird genau wie jeder Gedanke, den wir denken, in körperliche Veränderungen und Gefühle umgesetzt. Die Vorstellungskraft wirkt allerdings noch wesentlich schneller als unsere Gedanken. Dies ist durch die Teilung unseres Gehirns erklärbar. Unser Gehirn besteht aus einer rechten und einer linken Hirnhälfte. Während die linke Hirnhälfte bei Rechtshändern (bei Linkshändern ist es umgekehrt) für Gedanken, Logik, Sprache, Symbole zuständig ist, ist die rechte Hirnhälfte für Raumwahrnehmung, Phantasie und Gewohnheiten zuständig. Die rechte Hirnhälfte weist noch eine Besonderheit auf, sie kann keine Verneinungen entschlüsseln" (Wolf 2001, S. 55 f.). Wenn ich jetzt schreibe, dass Sie an alles denken dürfen, nur nicht an einen rosaroten Elefanten, so werden aller Leser sofort an einen rosaroten Elefanten denken! Sie können gar nicht anders.

Leider wurde die Bedeutung der rechten Hemisphäre oft aufgrund von Rollenklischees abgewertet: Frauen denken kreativ und ganzheitlich, künstlerisch usw., wohingegen Männer es schaffen, analytisch, objektiv und linear vorzugehen. Bedienungsanleitungen für Elektrogeräte sind so (von Männern?) geschrieben, was bedeutet, dass vor allem Frauen diese nicht lesen, sondern selbst ausprobieren! Unsere Schulen vermitteln "linkslastig" Wissen, welches abfragbar ist. Wir brauchen aber beide Formen des Lernens; nur so nützen wir alle Möglichkeiten unseres Gehirns. Bei den Stärken ansetzen bedeutet, individuell optimale Leistungen anzuerkennen.

Neben starken Bewegungserlebnissen können die Phantasie und die Musik sozusagen für spätere nüchterne Lerninhalte "eingespannt" werden (vgl. meinen Artikel "ABC-Countdown" unter www.kindergartenpaedagogik.de/2000.html). Geschichten und Lieder sind jedoch nicht beGREIFbar. Es gibt bereits vorgefertigte Materialien wie z.B. die großen Stoffzahlen aus dem Zahlenland oder die "Alphas" aus der Alphabox von LOGO. Sehr interessant finde ich persönlich auch die "Squidgy-Zahlen" von 0 bis 9 aus Kunststoff, gefüllt mit zweifarbiger Flüssigkeit und Glitzer (zu beziehen bei Aurednik). Diese haben zwar keine "Persönlichkeit" wie die Figuren aus Stoff. Wenn wir jedoch bedenken, wie gerne Kinder die blauen Kühlpackungen kneten, lassen sich mehrere intensive Sinneswahrnehmungen und Gefühle verbinden (visuell, taktil und propriozeptiv). Sie sind richtige "Handschmeichler wie Marmoreier und Erzählsteine". Diese angenehmen Eindrücke hinterlassen Spuren im Gehirn. Sie bilden vernetztes Wissen, welches später schneller abgerufen werden kann, weil es über mehrere Sinne, d.h. über verschiedene Anknüpfpunkte, abrufbar ist. Statt einer überlasteten Autobahn entstehen viele Wege im Gehirn: Teerstraßen, Kreuzungen, aber auch weniger befahrene Feldwege.

Kunst mit Buchstaben

Neben feinmotorischen Techniken wie Buchstaben filzen, mit Bügelperlen gestalten usw. bieten sich viele freie Möglichkeiten an, die Kinder ihre Erfahrungen und ihr Wissen mit Buchstaben kreativ und ganz individuell ausdrücken zu lassen. Bereits Begriffenes wird erneut greifbar gemacht...

Auf Keilrahmen gestaltet jedes Kind einen ausgewählten Buchstaben. Es kann z.B. den Buchstaben A in verschiedenen Farben übereinander drucken, das B mit Stanzformen aus Wellpappe, Moosgummi, Filz usw. aufkleben, ein großes C mit Farbe aufmalen und nach dem Trocknen mit kleinen Mustern verzieren. Für das D wird der Rahmen mit Stoff bezogen und der Buchstabe mit Knöpfen gestaltet. Für das K habe ich selbst ein besonders schön gestaltetes Bild mit einer Käsesorten-Serviette als Grundlage, einem gelben K aus Gips und Holzkäse mit einer Maus. Dabei können die Bilder auch etwas aus dem Rahmen fallen, d.h. mehrere gleiche kleine Buchstaben oder auch einzelne Utensilien können über den Rahmen hinausragen oder unten angehängt werden.

Bei 26 Buchstaben gibt es für jedes Kind der Gruppe einen individuellen Buchstaben zu gestalten. Diese Form der Kreativitätserziehung ermöglicht dem Kind, sein "Werk" doppelt wieder zu erkennen: Es ist SEIN Buchstabe und SEINE individuellste Auslegung. "Ich kann etwas, darf ich selbst sein und gehöre dennoch zum Ganzen" ist eine gute Basis für Selbstbewusstsein und den Schrift-Sprach-Erwerb.

Literatur

Wolf, Doris: Ängste verstehen und überwinden. Gezielte Strategien für ein Leben ohne Angst. Mannheim, 15. Auflage 2001

Autorin

Barbara Perras, Erzieherin und Motopädagogin, Sprachberaterin beim Evang. Landesverband. Kontakt: [email protected]