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Zitiervorschlag

Umgang mit Ängsten: Wie verkraften unsere Kinder diese Nachrichten?

Gertrud Ennulat

 

Das Thema führt uns in einen Bereich menschlichen Erlebens, der in den letzten Monaten ins Zentrum des pädagogischen Interesses gerückt ist: die Ängste der Kinder. Aber über die kann ich nur sprechen, wenn ich auch die Ängste der Erwachsenen mitbedenke. Ich werde also in einem ersten Teil über die Emotion Angst sprechen, um im Hinblick auf die Kinder herauszufinden, wie sie mit ihren Ängsten umgehen bzw. was Angst mit einem Kind machen kann.

Die Frage Wie verkraften unsere Kinder diese Nachrichten? nehme ich dann als Stichwort, um in einem weiteren Teil über den kindlichen Kräftehaushalt nachzudenken, über Ressourcen und Regenerierungsmöglichkeiten. Wie verkraften unsere Kinder diese Nachrichten? Da schwingt auch Sorge mit in dieser Frage, die Befürchtung, die Kinder könnten überfordert werden, ihre Kräfte würden nicht ausreichen für den Umgang mit Angst auslösenden Nachrichten. Doch um welche Nachrichten geht es dabei?

Im Mittelpunkt stehen die Nachrichten über die Katastrophe am 11. September. In den Tagen und Wochen danach waren die Zeitungen voll mit den Fragen der Erwachsenen: Was und wie sollen wir unseren Kindern erklären, was da geschehen ist. Meist wurden Interviews mit Fachleuten aus dem therapeutischen Bereich abgedruckt als Hilfestellung. Das alles liegt nun einige Monate zurück, aber der Prozess der Verarbeitung ist noch nicht abgeschlossen. Die zerstörten Zwillingstürme tauchen weiterhin in Kinderzeichnungen auf, und in den Bauecken werden immer noch zwei Türme gebaut.

Meine Daten stammen aus Besuchen in Kindertagestätten, Gesprächen mit Erzieherinnen, Lehrern, Eltern, Kindern und eigenen Erfahrungen. Außer auf den 11. September werde ich noch Bezug nehmen zu den Angst auslösenden Nachrichten über Bombendrohungen, Kriegsberichten und den Meldungen über die Ermordung von Kindern.

In der Vergangenheit war der Umgang mit Angst kein bevorzugtes Thema in der Pädagogik. Es gab Jahre, in denen ein übertriebener pädagogischer Optimismus von der Forderung angstfreier Räume sprach und vergaß, dass jedes Kind und jeder Erzieher oder Lehrer, der einen Raum betritt, auch seine ganz spezifischen Ängste mitbringt und damit zur Färbung der Atmosphäre beiträgt.

Die veränderte politische Weltlage konfrontiert Erwachsene und Kinder mit der bedrohlichen, gefährlichen, nicht einschätzbaren Seite des Lebens und weckt vielfältige und tief sitzende Ängste. Die Welt ist kein sicherer Ort mehr, die Risiken des Lebens lassen sich nach den Katastrophen im vergangenen Jahr nicht mehr verleugnen. In der Sprache des Alltags tauchen Worte auf wie Krieg, Vergeltungsschlacht, Kampf gegen das Böse, Achse gegen das Böse, Vernichtung des Gegners, um nur einige zu nennen. Bilder des Terrors sind unter die Haut gegangen, und Angst wurde zu einem häufig geäußerten Wort.

Auf einmal lässt sich die problematische und perspektivisch gebrochene Welt in Familie, Kindergarten, Hort und Schule nicht mehr leugnen. Dabei wird sichtbar, wie verunsichert Erwachsene auf die Kinder schauen, wie wenig sie wissen von den Strategien, welche Kinder entwickeln können, um sich in der Ambivalenz des Lebens zu orientieren. Bei dieser Arbeit hängt das Kind ab von der pädagogischen Haltung des Erwachsenen, besonders von seiner Wahrnehmung. Wenn ich in Kindergärten und Tagesstätten nachfrage, wie sich die Terrornachrichten dort niederschlagen, erhalte ich häufiger als mir lieb ist die Antwort: Das ist bei uns kein Problem. Damit haben unsere Kinder keine Schwierigkeiten. Bei uns hat sich nichts verändert. Und im übrigen hat die Mehrheit unserer Eltern sich dafür ausgesprochen, mit den Kindern nicht über die Nachrichten zu sprechen, um sie nicht zu beunruhigen!

Im Angesicht von Ängsten in einer bedrohten Welt zeigt sich Pädagogik oft sprachlos. Sie negiert dabei die Eigengesetzlichkeit kindlichen Wahrnehmens und Strukturierens von Wirklichkeit. Gleichzeitig rationalisiert sie ihr Unvermögen mit der Sorge um die Kinder, die es zu schützen gilt vor der Einsicht in die Endlichkeit und Widersprüchlichkeit des Lebens.

Der pädagogische Grundsatz von Führen und Wachsenlassen möchte Überforderung durch Verfrühung vermeiden, folgt dem Ideal zeitgemäßer Reifung und weist dem Erzieher eine wichtige Schutzfunktion zu. Heutige Pädagogik bevorzugt das offene, neugierige Kind, das auf die Welt zugeht, die sich ihm schrittweise, d.h. den entwicklungspsychologischen Erkenntnissen folgend, erschließt. Aber Tod, Krieg und Terror setzen dieses pädagogische Wunschdenken schachmatt.

Letztendlich geht es um die schwierige Frage, wie viel Realität ich Kindern zumuten kann, wobei die Angst des Erwachsenen im Hintergrund mit berücksichtigt werden muss, wenn er meint, er füge dem Kind Schaden zu, wenn er es offen Anteil nehmen lässt an der Welt, wie sie ist. Tut er dies doch, dann muss er sich auf die Erlebnisebene der Kinder einlassen und ihre konkrete und knallharte Sprache, ihre unbequemen und manchmal kaum zu beantwortenden Fragen an sich heranlassen. Es gilt also genau hinzuhören, wenn definitiv zum Wohl des Kindes argumentiert wird. Oft schützt der Erwachsene vermeintlich das Kind, doch in erster Linie will er aus der Schusslinie kindlicher Fragen. Ganz schnell unterlassen Kinder dann alle ihnen auf der Seele brennenden Fragen, denn gegen die Verleugnungsstrategien der Großen kommen sie nicht an. Das führt zu einer großen Verunsicherung und blockiert ihre Wachstumskräfte.

Das Recht des Kindes auf eine authentische Weltvermittlung kollidiert also mit dem Kindheitsideal der Erwachsenen, denn diese lieben vor allem fröhliche Kinder. Doch die Ereignisse in der Welt verweisen auf die Fragwürdigkeit dieser ausschließlichen Präferenzen. Bullerbü ist auf dem Globus einer ambivalenten Welt zwar immer noch zu finden, aber auch Terror, Mord, Krieg, Sterben und Tod. Die oft gehörte pädagogische Ansicht Das verstehen Kinder doch nicht, das überfordert sie, das ist zu viel für sie nimmt ihr Bestreben, sich auch den problematischen Seiten des Lebens zu nähern, nicht ernst und vergisst, dass im Lehrplan des Lebens die wohlvorbereitete pädagogisch gestaltete Umgebung nicht immer vorgesehen ist. Somit heißt es Abschiednehmen von einer einseitigen Feel-good-Pädagogik, die der Angst nicht den Raum gibt, den sie braucht, um im Leben eines Kindes all die Kräfte wachzurufen, die es benötigt, damit es flexibel auf eine Bedrohung antworten kann.

Sie merken, Angst ist kein negativer Begriff für mich, ich bin auch nicht Mitglied in der Angst-vor-der-Angst-Liga, sondern habe einen großen Respekt vor dieser Grundemotion menschlichen Lebens. Allerdings habe ich Mühe, mit der Tendenz in unserer Gesellschaft, die Polarität des Lebens nach der hellen Seite hin auflösen zu wollen, um den dunklen Pol, das Sterben, den Tod, die Angst, Krankheit, Behinderung auszugrenzen. Wer die Dunkelseite ausspart, dem fehlt die Spannung der Gegensätze. Aber nur aus dieser Gegensatzspannung entsteht gesundes Leben.

1. Angst ist ein Motor und Begleiter kindlicher Entwicklung

In keinem anderen Lebensabschnitt wird so viel Neues gelernt wie während der Kindheit. Unablässig erweitert ein Kind seine Aktionsräume. Mutig entdeckt und forscht es, hat keine Scheu, die tote Maus zu streicheln, liebt das Überraschende, fällt aufs Knie und blutet, lässt sich trösten und hüpft weiter vom Hellen ins Dunkle und wieder zurück, begibt sich erneut ins Dunkel, will herausfinden, ob es nicht vielleicht doch etwas sehen kann, und stellt am Ende fest, ich kann das Helle sehen, weil ich im Dunklen war, und freut sich auf die Nacht.

Unablässig sammelt ein Kind Eindrücke, erprobt seine Kräfte, erweitert stetig seine emotionale Kompetenz, steigt eine Leiter hoch, so hoch wie noch nie, fragt den unten stehenden Erwachsenen: Du, muss ich jetzt Angst haben? und lernt die Form seiner Angst kennen, die sich einstellt, wenn es sich hoch auf eine Leiter wagt. Es vergewissert sich der Nähe des Erwachsenen und traut sich Sprosse um Sprosse weiter hinauf, bis es feststellt: Du, ich seh' dich kaum noch, ich hab Angst!

Die kindliche Neugierde treibt Tag für Tag ins Unbekannte. Dabei kann die vorwärtsdrängende Neugier ganz schnell umschlagen in ängstliches Zurückweichen. Kinder brauchen Möglichkeiten, diese gegensätzlichen Kräfte zu erproben. Gleichzeitig lernen sie gemäß ihres biologischen Ausstattungsprogramms die Flucht und Kampfreaktionen bei Angsterfahrungen kennen. Das Herz klopft schnell, Angstschweiß bildet sich oder eine Gänsehaut, die Haut rötet sich oder wird ganz blass, die innere Erregung steigt. Vielleicht geht sogar etwas in die Hose. Auf der psychischen Ebene wird dieser Zustand als ein Gefühl der Enge erlebt, Atemnot stellt sich ein, der Boden unter den Füßen scheint zu wanken, ein Gefühl der Desorientierung oder Irritation breitet sich aus. Aus einer solchen Situation wegzulaufen oder abzuhauen hat etwas sehr Befreiendes, weil die Blockierung durch die Angst sich auflöst. Nach überwundener Angst stellt sich ein Gefühl der Erleichterung und Freude ein. Mut gezeigt zu haben, hat eine stabilisierende Wirkung.

Wenn jedoch Distanzierung von der Angst auslösenden Situation nicht möglich ist, versucht sich die innere Erregung durch aggressives Verhalten zu entladen. Und überall, wo diese beiden Verhaltensweisen Flucht oder Kampf nicht greifen, entsteht Ohnmacht. Es ist einfach nichts zu machen! Blockade total! Die Erfahrung, nichts ausrichten zu können, machtlos, hilflos zu sein, verlängert den Zustand der inneren Blockierung. Und weil dieser Zustand manchmal nicht mehr zum Aushalten ist, hilft es, Scheuklappen aufzusetzen, das Gefühl zu verdrängen. Irgendwann taucht, was unter den Teppich gekehrt werden musste, dann schon wieder auf.

Die beschriebenen Verhaltensweisen lernt ein Kind im ganz alltäglichen Leben. Es wird lebenstüchtig und mutig und versucht seine Angstbewältigungsstrategien zu verbessern. So viel Angst habe ich ausgehalten, als ich an dem bissigen Hund vorbei bin! Oder Wenn ich größer bin und nicht mehr so doll Angst habe, dann schaffe ich es, mit ohne Tür auf einzuschlafen.

Generell werden Angsterfahrungen von Erwachsenen negativ bewertet. Diese einseitige Sicht vergisst jedoch die wichtige Weckfunktion der Angst. Sie warnt vor Gefahr und kann gleichzeitig Kräfte wecken, um eine bedrohliche Situation zu meistern. Angst versetzt in einen Zustand erhöhter Wachsamkeit und bereitet auf diese Weise auf den Umgang mit der Gefahr vor. Angst kann also wie ein Motor wirken und liefert Energie, um bedrohliche Ereignisse zu integrieren.

Kinder haben ein Recht auf Angsterfahrungen, denn menschliches Leben ist nicht angstfrei. Sie haben aber auch ein Anrecht, dafür gelobt zu werden. Es ist im Umgang mit Angst ein wichtiger Schritt der Verarbeitung, sie als ein natürliches Phänomen zu erkennen und zu akzeptieren, und am Ende eines langen Tages sich von einem Kind erzählen zu lassen, wo es heute Freude erlebt hat, wo es traurig war, wo es ihm gut ging, wo es überall stark sein konnte und wo es Angst gefühlt und ausgehalten hat.

Ich fasse diesen Abschnitt zusammen: Die Gefühlslandschaft eines Kindes formt sich bei seinem Tun. Mit Hilfe der Emotion Angst nimmt es ein äußeres Ereignis auf, verarbeitet, bewertet und ordnet es ein in sein bisheriges Welt- und Selbstkonzept. Es lernt den körperlichen Niederschlag der Angst kennen und spürt, wie sich sein Verhalten verändert, wenn sich Angst in ihm breit macht.

Eine erste Antwort auf die Frage Wie verkraften unsere Kinder diese Nachrichten? heißt, indem sie Angst erfahren.

Ich komme nun auf die sozial ausgelösten Ängste der Kinder zu sprechen, denn sie spielen in ihrem Leben eine große Rolle und werden in Zeiten schlimmer Nachrichten besonders virulent.

2. Bedrohliche Nachrichten wecken Verlassenheits- und Trennungsängste

Jeder Entwicklungsschritt bewirkt für ein Kind das Anwachsen seiner Autonomie. Es wird größer, doch das geht auf Kosten seiner bisherigen Sicherheit. Stetig verliert ein Kind ein Stück Mutter und Vater, denn es löst sich aus der ausschließlichen Bezogenheit auf den Erwachsenen heraus. Die meisten Kinder tun dies, indem sie sich vom Erwachsenen entfernen und gleichzeitig bei jedem neuen Schritt schauen, ob der Erwachsene noch da ist. Auf Spielplätzen lässt sich das sehr gut beobachten. Ein Kind überwindet seine Angst vor dem großen Klettergerüst, traut sich bis oben hin, dreht sich dabei immer wieder zu dem unten stehenden Erwachsenen um, sucht den Augenkontakt. Auf diese Weise wirkt ein Kind aktiv daran mit, dass die räumliche Trennung erträglich ist.

Fehlt jedoch in sehr beängstigenden Situationen das Echo des Erwachsenen, wird das Kind überschwemmt von Verlassenheits- und Trennungsängsten, findet sich nicht mehr zurecht, gerät aus dem Konzept und geht sich verloren. Eigentlich bräuchte es nun den sprichwörtlichen Rockzipfel des Erwachsenen, an den es sich in bestimmten Situationen klammert, um seine körperliche Nähe zu spüren, ihn festzuhalten, um ihn am Weggehen zu hindern. Geh nicht weg! Bleib bei mir! Durch diese Verhaltensweise versucht das Kind, die gefährliche Situation zu kontrollieren, um nicht vom Strudel der Verlassenheitsangst erfasst zu werden.

Verlassenheitsangst wird also ausgelöst durch die schmerzhafte Erfahrung des Alleinseins. Das Kind erlebt sich handlungsunfähig, kann die Situation nicht beeinflussen. Seine Stimmung sinkt ab, es fühlt sich wertlos und nutzlos, hat keine Bedeutung mehr und wird zum kleinen Dreck, den niemand mehr wahrnimmt. Wenn von außen zu viel auf es eindringt, wird es aus seinem stabilisierenden Zusammenhang gerissen, wenn kein Gegenüber da ist, das ihm hilft, die vielen beängstigenden Informationen zu verstehen. Eigentlich will das Kind ja begreifen, was geschieht, will das Ereignis in den entsprechenden Schubladen seines inneren Ordnungssystems ablegen, um weiterzugehen. Aber es ist in diesem Prozess angewiesen auf einen Menschen, der ihm die Situation kognitiv einsichtig macht und mit adäquater emotionaler Beteiligung zu ihm spricht. Kinder sind sehr empfindliche Seismographen und spüren mit ihren feinen Antennen sofort, wenn das Gegenüber nicht stimmt, nicht klar ist, d.h. wenn Worte und Emotion auseinander klaffen. Das führt zu weiterer Verunsicherung und Orientierungslosigkeit.

Häufig fühlen sich Kinder dann schuldig und schämen sich für etwas, wofür sie gar nichts können. Das hängt damit zusammen, dass ihr Denkmuster nach dem Ursache- und Wirkungsprinzip arbeitet. Sie verknüpfen ihren Zustand mit einem äußeren Ereignis, was zu der für Erwachsene kuriosen Aussage führen kann: Ich bin schuld, wenn sich der Papa Sorgen macht, weil ich nicht brav war. Eine kindliche Fehlhandlung wird also als Ursache für ein bedrohliches Ereignis genommen. Weil dies so ist, können Kinder von Erwachsenen schnell verletzt und missbraucht werden, indem sie zu Sündenböcken gemacht werden. Ein recht drastisches Beispiel aus meiner Kindheit veranschaulicht diesen Sachverhalt. Als ich während des Luftangriffs auf Pforzheim 1945 als Dreijährige im Bunker saß, verteilte eine Rotkreuzschwester Essen für die Kinder. Eine böse alte Frau sprach damals den schlimmen Satz: Ihr Kinder seid schuld am Fliegerangriff, weil ihr den Teller nie leer gegessen habt! Mit diesen Worten fand die Alte in den Kindern Objekte für ihre eigene Angst und machte sie zu den schwarzen Schafen. Ein typisches Beispiel für Schuldzuweisung und Schuldübernahme, das bis heute seine Gültigkeit hat und als Erziehungs- und Disziplinierungsmittel weiterhin eingesetzt wird.

Doch zurück in die Gegenwart: Wenn ein Kind besorgt fragt: Mama, kommt der Krieg auch zu uns? und diese kneift, aus Angst, das Kind nicht beunruhigen zu wollen, indem sie antwortet Morgen gehen wir in den Europapark und machen uns einen flotten Tag, dann hat sie ihr Kind im Stich gelassen, obwohl sie neben ihm steht. Sie hat es mit seiner Frage und seinem sorgenden Gefühl nicht wahrgenommen, teilt seine Angst nicht, und diese kann sich nicht verändern, weil sie kein Echo fand. Sie bleibt als diffuses Gefühl weiterhin bestehen und macht dem Kind Schuldgefühle, wenn sie sich später trotz Europapark doch wieder meldet.

In den Tagen, an denen bedrohliche Nachrichten durch die Medien gehen, schnappen die Kinder auf, was in der Luft ist. Fehlen klärende Gespräche, wird der Haufen unverdauten Wissens immer größer und wirkt als schwere Belastung. Eine Minderheit sorgender Eltern meint, die Kinder dadurch schützen zu können, dass diese nie Nachrichten sehen oder hören dürfen. Doch diese Maßnahmen führen selten zum Erfolg, wie das folgende Beispiel zeigt: In einem Kindergarten hatte die Mehrheit der Eltern sich dafür entschieden, dass die Erziehrinnen nicht mit den Kindern über die Ereignisse von N.Y. sprechen sollen. Alles sollte so sein wie vorher. Einen Tag nach diesem Beschluss kam ein Junge aus einer medienfreien Familie in den Kindergarten, hatte ein Spielzeugflugzeug dabei und inszenierte in der Bauecke das Terrorattentat. Im Nu waren die restlichen Kinder der Gruppe um ihn herum, kommentierten sein Tun, und die Erzieherin geriet in große Not. Wo hat der Bub das her? Er hat es mitgekriegt, es ging ihm einfach unter die Haut, er reicht mit seinen Sensorien in die ihn umgebende Atmosphäre hinein und weiß unbewusst, was los ist und agiert es aus.

An dieser Stelle möchte ich Partei ergreifen für die vielen wissensdurstigen Kinder, die Nachrichten mit großem Interesse hören, sich die schwierigen fremden Namen schnell einprägen, stolz sind, weil sie richtige Insider werden, in ihre Vorstellung von der Welt täglich neue Daten einbauen, mit anderen Kindern darüber reden, genauso wie über die Pokemons oder Harry Potter. Doch prasseln vermehrt Nachrichten bedrohlichen Inhalts auf sie ein, dann müssen viele passen, weil sie durch die nüchterne Informationssprache überfordert werden. Erst ein Vergleich mit den Nachrichtensendungen im Kinderkanal macht deutlich, wie Nachrichten kindgerecht aufbereitet werden können. In der Sendung logo bereitet z.B. die Moderatorin mit wenigen Worten auf einen bedrohlichen Sachverhalt vor, es geht um den Holocaust, dabei spiegelt ihr Gesicht den emotionalen Gehalt der Worte, sie wirkt authentisch, echt, lebendig, weil sie nicht aus einer coolen Nachrichtenebene zu den Kindern spricht. Das ist es, was Kinder brauchen!

Meist jedoch sind Kinder bei den üblichen Nachrichtensendungen der Diskrepanz von Informationsgehalt, Bild und oft auch einer pseudosaloppen Sprache ausgesetzt. Ein 6jähriger hört das Wort Krieg, sieht gleichzeitig Soldaten beim Kaffeetrinken im Straßencafé und im selben Moment erfolgt ein Schnitt, er sieht eine lange Kolonne hungernder Menschen, wobei einige Kindergesichter in Großaufnahme gezeigt werden. Wie verkraftet er die Abfolge dieser Nachrichten? Welches Bild vom Krieg setzt sich in ihm fest? Vielleicht muss er stundenlang an die ausgemergelten Gesichter der Kinder denken, hat Mitleid, ist traurig, grübelt und kriecht ganz in sich hinein. Oder er powert aggressiv herum, und der Erwachsene denkt Was hat der Junge nur? Ich hab ihn doch fernsehen lassen!

In den Tagen unmittelbar nach dem 11. September stellten Lehrer und Erzieher ein Anwachsen der Trennungsängste fest, bei Kindern und Erwachsenen, denn auf einmal wurden Kinder wieder zur Einrichtung begleitet, die sonst die Strecke alleine gehen können. Mütter nahmen sich mehr Zeit als sonst, um sich von ihren Kindern zu trennen. Wer aus beruflichen Gründen seine Kinder nicht begleiten konnte, rief im Laufe des Tages besorgt an, ob das Kind auch gut angekommen sei, verbunden mit der Bitte, es zu grüßen.

Nicht immer zeigen sich Verlassenheitsängste so deutlich wie beschrieben, nicht immer können sie so direkt beantwortet werden. Ich denke, sie haben sich im Hinblick auf den 11. September auch in kleinen, nichtigen Anlässen gezeigt, die bei manchen Kindern panikartige Weinkrämpfe hervorgerufen hatten, die in ihrer Heftigkeit irgendwie unpassend schienen. Eine Kollegin meinte Ich habe noch nie während einer Hofpause so viele weinende Kinder trösten müssen. Und in manchen Ganztageseinrichtungen hatten die Erzieherinnen den Eindruck, die Kinder wollen am Abend gar nicht nach Hause gehen, fürchten sich vor der Trennung und dem Abschied. Die Angst Wer weiß, ob wir uns morgen wieder sehen? hing in der Luft.

3. Kinder lernen von Kindern

In dem spannenden Lernprozess Angst erfahren, Angst aushalten, Angst überwinden, orientiert sich das Kind nicht ausschließlich am Erwachsenen. Kinder lernen sehr viel im Kontakt mit anderen Kindern, schauen sich neue Strategien ab, probieren sie aus, wenden sie an. Durch Freunde und Feinde in der Kindergruppe erweitern sie nicht nur ihre Kräfte, um sich im sozialen Miteinander zu behaupten und durchzusetzen, sondern hören und schauen genau, wie andere Kinder auf fehlerhaftes Vorgehen reagieren, wie sie Enttäuschungen überspielen oder ausdrücken, ob sie Angst zugeben können oder lieber den Clown spielen und wie sie mit Veränderungen ihrer familiären Verhältnisse zurechtkommen. Die Auswahl von Freundin oder Freund, die bei den meisten Kindern häufig wechselt, hängt auch damit zusammen, dass sich Kinder den Stoff für ihre Entwicklung aus ihrem jeweiligen sozialen Umfeld holen. Das möchte ich mit folgendem Beispiel zeigen.

Ein Mädchen, dessen Familie dabei war, sich durch die Scheidung der Eltern zu verändern, äußerte auf einmal den Wunsch, sich neben ein Kind zu setzen, mit dem es vorher nie gerne zusammen gewesen war. Das plötzliche Interesse an dieser neuen Freundin hatte u.a. eine Ursache darin, dass dies ein Kind war, das ohne Vater bei der Mutter aufwuchs. Wochenlang waren beide Kinder ein Herz und eine Seele, verbrachten die Wochenenden miteinander. Auf diese Weise lernte das Kind, das Angst vor der Scheidung der Eltern hatte, wie ein anderes Kind ohne Vater gut durchs Leben kommt. Irgendwann flachte das gegenseitige Interesse wieder ab, hatte das Mädchen probehandelnd erfahren, was auf sie zukommen wird. Ihre subjektive Welt hatte sich erweitert. In ihren Träumen tauchte das Thema familiäre Veränderung auf, variierte sich und wirkte mit an neuen Ausformungen in der Landschaft ihrer Gefühle. Die Angst vor der als Gefahr wahrgenommenen Scheidung hatte Kräfte der Anpassung mobilisiert. Das Mädchen durchlebte den Schmerz und die Trauer ebenso wie Hoffnung und Zuversicht.

In meiner Arbeit mit Kindern spielt die Kindergruppe eine sehr große Rolle. Ich schätze diese soziale Form nicht nur, weil sie der Gefahr der Vereinzelung, die heutigen Kindern droht, entgegenwirkt, sondern vor allem wegen ihrer Angst abbauenden Wirkung. Der bei manchen Pädagogen in Verruf gekommene gute alte Stuhlkreis stellt nach wie vor eine einfach herzustellende effektive Form der Kommunikation dar, wobei der Erwachsene genauso Teil der Gruppe ist wie das Kind und auf diese Weise von der im Kreis fließenden Energie profitiert. Diese Ressource baut Angst ab, lässt Nähe und Vertrautheit wachsen und hilft Kindern gerade in bedrohlichen Krisenzeiten, wieder ein Lebensgefühl zu gewinnen, das ihnen sagt, es ist gut, dass es mich gibt, und es ist gut, dass es uns gibt.

In vielen Kreisgesprächen drückten Kinder ihre spezifische Umgehensweise mit den Ereignissen in N.Y. aus, mussten sich an der Hand fassen, wollten sich spüren, den umgekommenen Kindern gute Wünsche zuschicken. Ein Junge meinte tröstlich Denen geht es gut, die sind jetzt alle Engel. Wie verkraftet dieser Junge die Nachrichten? Er greift aus dem Fundus seiner Erfahrungen auf sein Wissen über Sterben und Tod zurück, denn er hatte vor einem Jahr den Tod seines Onkels erlebt und drückt im Bild des Engels die Metamorphose der Opfer aus.

In einer anderen Gruppe verlangte ein 4jähriges Mädchen danach, dass am Tag nach dem Anschlag alle Kinder im Kreis stehen sollten, und sagte zur Erzieherin, sie solle ein Gebet sprechen, denn das sei bei der Beerdigung ihres Großvaters auch so gewesen. Auch dieses Mädchen verwendet ihre bisherigen Erfahrungen und wendet sie auf die neue Situation an. Sie hilft damit allen Kindern und der Erzieherin, die den Impuls des Kindes dankbar aufgenommen hatte und vom Ernst und der Würde des Mädchens tief angerührt war.

Mit diesem Beispiel taucht zum ersten Mal das Gebet in meinen Ausführungen auf. Es hat nach wie vor im Leben vieler Kinder seinen Platz, stellt einen wichtigen Bestandteil ihrer Spiritualität dar und hilft ihnen dabei, Angst auszuhalten und zu überwinden. Im geschützten Rahmen einer Kindergruppe in Hort, Tagesstätte oder Schule sind Kinder also durchaus in der Lage, mit bedrohlichen Nachrichten so umzugehen, dass sie auch weiterhin mal neugierig und forsch, mal zögernd und tastend sich die Welt erobern. Solange sie am Tempo und der Intensität mitbestimmen können, ihnen nicht von außen Trauer und Betroffenheit verordnet werden, sind sie in der Lage, den restlichen Tag mit Spiel und Spaß zu verbringen.

Daraus ziehen jedoch manche Erwachsene die falschen Schlüsse und meinen, wenn die Kinder nach ernster Betroffenheit sogleich kichernd herumalbern, dann verstehen sie nicht den Ernst der Sache. Aber wer so denkt, hat nichts kapiert von der Besonderheit kindlicher Ressourcen. Diese sind schwächer als bei den Großen und erlauben es einem Kind, nur für kurze Zeitabschnitte zu trauern. Seine Batterien sind schnell erschöpft, laden sich aber erneut auf, wenn das Kind kaspert, Quatsch macht, auf den nächsten Baum steigt und ruft: Fang mich doch, du altes Loch!

Der Schwerpunkt meiner Ausführungen war bisher: Angst ist ein Motor und Begleiter kindlicher Entwicklung. Jetzt wende ich mich den klassischen Lösungsstrategien zu, die Kinder haben, um Angst besetzte Nachrichten zu verarbeiten. Im Gegensatz zu den Erwachsenen agieren Kinder ihre Ängste aus. Sie inszenieren sie Tag für Tag, mal allein, mal mit anderen, offenbaren sich und legen alles auf den Tisch, d.h., in ihrem seelischen Verarbeitungsprozess gehen innen und außen nahtlos ineinander über.

Die folgenden Fragen führen uns weiter: Wie sehen die Lösungsstrategien der Kinder im Hinblick auf Ängste aus? In welche Bereiche führen sie den neugierigen Erwachsenen, der sie begleitet und der durch seine Präsenz dazu beiträgt, dass sie bei der Stange bleiben, ihnen die Puste nicht ausgeht, ihre Kraftreserven sich wieder erneuern?

Dabei sind es vier Lösungsstrategien, auf die ich näher eingehen werde: das Fragen und Erzählen, das Spielen, das Träumen und das Malen von Bildern.

4. Kinder wollen erzählen und stellen Fragen

Warum stellen Kinder eigentlich so viele schwer zu beantwortende Fragen? Wieso will ein 7Jähriger unbedingt wissen, ob die deutschen Soldaten in Afghanistan nachts das Gewehr unterm Deckbett haben, um gleich zu schießen, wenn Bin Laden kommt? Und warum fragt eine 5Jährige, wo der Schutzengel des Mädchens, das sexuell missbraucht und ermordet wurde, gesteckt hat? Ob es vielleicht faule Schutzengel gibt?

Wie geht es einem Kind, das eine Frage stellt? Ein Mädchen meint Ich fühle mich dann so groß! Die Frage hebt es ein wenig vom Boden, eine Suche beginnt, Energie fließt, zielgerichtet schnappt sich das Kind einen Erwachsenen, die Frage will eine Antwort, jetzt, ja, es muss sein!

Du, wenn im Supermarkt ein Selbstbomber einkauft, und ich steh in der Schlange? Jetzt ist die Frage draußen, und in dem Moment, in dem der Erwachsene bereit ist, in den gemeinsamen Frageraum hineinzugehen, kann ein Dialog entstehen. Die Bereitschaft zuzuhören fördert den Dialog. Bei allzu schnellen Antworten schlägt die Tür zu. Doch wer langsam die Frage mit seiner Stimme wiederholt, kann hören, wie das Kind vielleicht die Ausgangsfrage modifiziert. Vielleicht formuliert es auch selbst eine Antwort, ist aber immer noch nicht zufrieden, der Erwachsene muss antworten. Vielleicht sagt er: Hast du Sorge, so etwas Schlimmes wie in Israel könne auch bei uns passieren? Das Kind nickt, fängt vielleicht zu weinen an und sagt schluchzend: Dann bin ich ja ganz allein! Was soll der Erwachsene sagen? Er nimmt das Kind ganz an sich heran, legt schützende Arme um es und erwidert: Wenn du das nächste Mal zum Supermarkt gehst, gehe ich mit!

Gemeinsam den fantasierten Ort der Angst zu betreten, das kann die Angst vertreiben. Durch das Fragen holen sich Kinder Angstverarbeitungspartner und wirken aktiv darin mit, dass ihr Gefühl der Sicherheit, das durch die bedrohliche Nachricht ins Wanken kam, wieder hergestellt wird.

Ein fragendes Kind gleicht einen Mangel aus. Durch die Information klärt sich eine Unsicherheit, wobei Kinder oft auch Zweifel anmelden, wenn sie eine Antwort hören, denn sie wollen sie dann ein paar mal hören. Erst dann stimmt es auch wirklich. Ihr Bedürfnis nach verlässlichen Informationen ist sehr groß, und manchmal bleibt dem Erwachsenen nichts anderes übrig als zu schwören. Erst jetzt fühlt sich das Kind sicher.

Wann fängt ein Kind eigentlich an zu fragen? Die Entwicklungspsychologie spricht vom Fragealter, das mit der Frage Was ist das? beginnt und mit zunehmendem Spracherwerb in den Warum-Fragen der 4 bis 5Jährigen einen Höhepunkt erreicht. Es ist die Zeit, in der Kinder den Dingen auf den Grund gehen, mit Fragen oft nerven, so dass der Erwachsene Löcher im Bauch hat. Die Ergebnisse ihrer Fragen bauen sie dann zu ihren ganz eigenen Theorien zusammen und machen Aussagen über Zusammenhänge, die man ihnen eigentlich nicht zugetraut hätte.

Das Fragen geht also einher mit der Zuwendung zur Welt. Neugierde und Interesse treiben als mächtige Kräfte vorwärts. Ein waches Kind erlebt das Fragenkönnen als einen Akt zunehmender Freiheit. Mit jeder Frage, jeder Antwort erweitert sich der Spielraum seines Denkens und Fühlens. Es gibt Kinder, die eine wahre Meisterschaft im Ausknobeln von Fragen haben. Ihre Freude wächst proportional der Anzahl der Denkfalten auf der Stirn des Erwachsenen. Und welch ein Triumph kindlicher Macht, eine so schwere Frage gefunden zu haben, dass der Erwachsene passen muss!

Doch bei den Fragen, welche um Katastrophenmeldungen kreisen, geht es weniger um den Spaß an der Wissenserweiterung, sondern um das existentielle Bedürfnis des Kindes, über die Vielfalt des Lebens sprechen zu dürfen. Doch mit solchen Fragen haben Erwachsene manchmal Mühe, denn es geht ans Eingemachte. Die Grundlagen der eigenen Existenz werden angesprochen, denn das Kind kennt keine Angst vor Grenzüberschreitungen. Hand aufs Herz, sind es nicht gerade die kaum zu beantwortenden Fragen, die eine große Bereicherung für uns Erwachsene darstellen? Die Welt mit den Augen des Kindes sehen, die vielen Brillen der Voreingenommenheit ablegen, vorurteilsfrei und offen in die Welt schauen, gemeinsam mit einem Kind an der Seite, das gehört für mich zu den tiefen Erfahrungen meines Lebens, die ich nicht missen möchte, auch wenn mich die kindliche Optik im ersten Moment oft geschockt hat.

Also auch das gehört zu den Lösungsstrategien eines Kindes, das bedrohliche Nachrichten verkraften muss: Es mutet den Erwachsenen unbequeme Fragen und Einsichten zu, zwingt sie, den Blick auf die Realität des Lebens durch ihren Spiegel auszuhalten. So lange sie das dürfen und nicht zensiert werden, erneuert sich ihr Depot an Zuversicht und Hoffnung immer wieder. Ich bin o.k., erfährt das Kind, auch wenn ich den Satz ausspreche Du, Mama, ich mag mit dir sterben!

Manchmal habe ich den Eindruck, Kinder tragen unentwegt durch ihre Fragen dazu bei, dass die Angst dahin kommt, wo sie in erster Linie hingehört, zu den Erwachsenen, die sich mit ihr auseinandersetzen müssen. Das folgende Beispiel wird dies erläutern. Es stammt aus einer Kindertagesstätte.

Viele Wochen nach dem 11. September betritt ein Junge morgens den Gruppenraum und ruft anstelle von Guten Morgen laut: Es ist Krieg! Die Erzieherin sieht sich nicht in der Lage, irgendwie zu reagieren. Sie fühlt sich wie gelähmt. Das Wort Krieg macht ihr Angst. Dafür reagiert ein anderer Junge, der erwidert forsch: Das ist kein Krieg, das sind Haie! Die Erzieherin atmet auf, der Junge, der das Wort Krieg benutzte, übernimmt das Wort Haie und meint Ach so, das sind Haie und geht spielen. Die Situation hat sich gelöst, denn das Angst auslösende Wort Krieg hängt nicht mehr bedrohlich im Raum.

Was ist geschehen? Etwas ganz Alltägliches. Ein verunsicherter Erwachsener hat geschwiegen. Ein Kind aus der Gruppe bietet ein Lösung an. Es hätte natürlich auch anders kommen können, dass der Hinweis mit den Haien nicht greift, der Junge bei seiner Behauptung bleibt, es sei Krieg. Für mich stellt sich die Frage, ob diese Szene nicht ein weiterer Beweis dafür ist, dass in pädagogischen Einrichtungen der Prozess der Verarbeitung medialer Eindrücke unterbunden wird. Das Nachspielen medialer Eindrücke im Rollenspiel z.B. stößt meist nicht auf die ungeteilte Zustimmung der Erzieher, vor allem dann, wenn Kinder Gewaltszenen inszenieren.

Im zuvor beschriebenen Beispiel kam es ja nicht zu einer Inszenierung, denn das Wort Krieg war so angstbesetzt, dass es ersetzt wurde durch das Übergangsobjekt Hai. Ein typischer Fall von Ablenkung? Oder vielleicht doch eher ein Lernen an der Realität, das ja selten ganz geradlinig und wunschgemäß verläuft? Auf jeden Fall geht es um Grenzüberschreitungen. Mit dem Wort Krieg hat das Kind eine Grenze seines Verstehens überschritten. Durch seinen Ausruf, es ist Krieg, bringt es die Erzieherin an eine Grenze. Es verschlägt ihr die Sprache. In dieses Vakuum hinein reagiert ein anderes Kind. Es greift ins Repertoire für kitzlige Angelegenheiten und lenkt ab. Krieg? Du hast nicht richtig zugehört, das sind Haie gewesen! Ja, wenn das so ist, denkt der Verursacher und geht wieder zurück über die Grenze in sein vertrautes Territorium. Irgendwann wird er vielleicht einen neuen Grenzübertritt wagen, denn die Welt formt sich für das Kind nach dem Bild der Sprache, und es will erfassen, was Krieg ist, will es genau wissen, denn jede sprachliche Präzisierung bedeutet zugleich eine Vermehrung und Bereicherung seiner Welt. So wie sich durch das Fragen die äußere Welt im Kind gliedert, gliedert und formt sich auch sein Inneres durch den sprachlichen Ausdruck.

Kinder lernen schon sehr früh, wenn ich Sprache benutzen kann, dann schwindet die Angst, denn Worte mit ihrem festgelegten tradierten Bedeutungsgehalt geben Halt, Schutz und Sicherheit. Aus diesem Grund geht es Kindern ja auch so gut, wenn sie zuhören dürfen, wenn andere erzählen. Darauf werde ich zurückkommen, wenn es ums Träume-Erzählen geht. Ich wende mich nun dem Spiel zu.

5. Kinder verwandeln ihre Ängste beim Spielen

Wenn im kindlichen Spiel eine zweckfreie, lustvolle und selbstbestimmte Tätigkeit gesehen wird, fällt es schwer, dieses Tun mit Angst in Verbindung zu bringen. Und doch verarbeitet ein Kind alleine oder zusammen mit Spielkameraden seine Realitätserfahrungen. In der Art und Weise, wie es die Welt und sich darin erlebt, steckt das breite Spektrum seiner Gefühle. Im gesicherten Rahmen des Spiels kann es Zustände von Unsicherheit aushalten, spürt Spannung, muss ein Risiko eingehen, eine Entscheidung fällen, um dann vielleicht auf ein entspanntes Spielniveau zu gelangen.

Spielend wird die Angst eingegrenzt. Sobald ein Kind sich überfordert fühlt, kann es aus dem Spiel aussteigen. Kinder brauchen Spielräume, in denen sie nachspielen können, was sie gerade bewegt und beschäftigt. Und manchmal ist es gut, wenn der Erzieher oder die Lehrerin für einige Zeit aus dem Gruppenraum geht, wie das folgende Beispiel zeigt.

Eine Schar 8jähriger Jungen und Mädchen bleibt unbeaufsichtigt, die Kinder sind dies gewohnt und sie schätzen solche Auszeiten des Erwachsenen. Ein Junge stürzt mit Karacho in die Bauecke, errichtet die Skyline von New York, lässt sie einstürzen, baut sie wieder auf, lässt sie erneut zusammenkrachen, baut wieder auf, zerstört, baut. Sein wildes Spiel wird von sehr lauten Flugzeug und Bombengeräuschen begleitet, dazwischen ruft er immer wieder: Denen zeig ich's, auf sie, gib's ihnen! Die übrigen Kinder werden ins Spiel hineingezogen, schauen mit steigender Erregung und Empörung zu, während der Junge wie ein Automat weiter agiert. Plötzlich steht die Lehrerin wieder im Raum. Sie erschrickt vor der Atmosphäre der Gewalt, die sich im Raum gebildet hat. Sie erschrickt aber auch vor dem Gesichtsausdruck des Jungen, der weiterbombt. Sie geht auf ihn zu und zieht ihn aus der Bauecke heraus. Dabei ruft sie: Mensch, das ist doch echt gewesen, was du da spielst. Das war kein Fernsehfilm! Die Kinder sind erleichtert, dass das Spiel zuende ist. Der Junge meint kleinlaut: Das habe ich nicht gewusst!

In vielen Variationen ging diese Szene in Kindergärten, Tagesstätten, Grundschulen, Kinderzimmern über die Bühne. Spielen ist nun mal ein Königsweg der Angstverarbeitung. Und Angst steckte ja genug in diesen Szenarien. Der Junge brachte durch sein Spiel Gewalt und Zerstörung ins Klassenzimmer. In seinem Spiel bildete sich Realität ab. Dadurch entstand bei den Zuschauern Angst, denn sie ist von ansteckender Wirkung und färbt ab. Gleichzeitig wird aber auch das Dilemma des Jungen ausgedrückt: Er weiß nicht, dass der Film, den er immer wieder im Fernsehen sehen musste, Realität wiedergab. Das wird ihm erst bewusst, als er spielt. Die Kindergruppe hält ihm den Spiegel vor, die aufgeschreckte Lehrerin ebenso.

Eine solche Verarbeitung medialer Eindrücke brauchen Kinder. Auch wenn sie Bauklötze, Bleistifte, Füllfederhalter oder Schreibmäppchen als Tatwaffen benutzen, sollte ihr Tun nicht mit Verboten sanktioniert werden, weil sonst ein wichtiger Bereich der Angstverarbeitung aus Schule und Kindergarten einfach ausgeblendet wird. Viele Pädagogen haben Angst vor einer Eskalation der Gewalt, sobald diese im Spiel ausagiert wird. Es ist die Angst, die Gruppe gerate außer Kontrolle. Ich freue mich dann immer, wenn ich auf ganz gewitzte Kinder treffe, welche mit der Abwehr der ängstlichen Erwachsenen ganz raffiniert umgehen: Sie sagen beispielsweise: Du, wir tun doch nur so, als ob wir uns umbringen. Oder: Wir täten jetzt Killer sein und schießen alles über den Haufen. Peng! Du tätest jetzt tot sein!

Deshalb habe ich Hochachtung vor den Erzieherinnen einer Kindertagesstätte mit sehr hohem Ausländeranteil, die in den Tagen nach dem 11. September Rollenspiele tolerierten, in denen die bösen Moslems Gestalt bekamen. Immer neue Spielverläufe entwickelten sich, immer neue Lösungen inszenierten sich, wobei die Kinder streng darauf achteten, dass die Rollen der bösen Moslems immer wieder neu besetzt wurden. Das ist Auseinandersetzung mit bedrohlicher Realität, Angst-Verarbeitung auf kindgemäße Weise.

Noch ein weiteres kommt hinzu: Kinder leben in einer magisch geprägten Welt, die Kraft ihrer Fantasie ist ungebrochen und ermöglicht es, dass sie sich aus bedrohlichen Situationen hinauskatapultieren können. Ihr Spiel geht dann von der Realität aus, bildet diese ab und verwandelt sie im Sinne ihres magischen Denkens, das Ohnmacht kompensiert durch Allmacht. Mein 7jähriger Enkel, der abends nicht einschlafen kann, weil er sich Sorgen um die Amerikaner macht, erzählt am nächsten Tag mit kräftiger Stimme, er heiße ab heute Mac Steal und sei der Bezwinger von Seico dem Bösen, der die ganze Welt zerstören will. Aber ihm gelinge es an einem Tag, die Welt vom Bösen zu erlösen. Seine Zuversicht ist grenzenlos, die Energie der Erlösergestalt erfüllt den Raum. Auch dies gehört zu den kindlichen Lösungsstrategien im Umgang mit bedrohlichen Nachrichten. Und ich habe keine Scheu, mich von den Weltverbesserungsfantasien des Kindes mitreißen zu lassen, verlasse gerne den Boden der Realität, hebe mich auf märchenhafte Weise für eine Weile in die Luft und spüre die Kraft der Fantasie.

Ein Kind holt sich den Stoff, den es für seine Entwicklung braucht, aus allem, was ihm begegnet. Diesen Vorgang nennt die Fachsprache "funktionale Äquivalenz". Dadurch bleibt es flexibel in der Aufnahme dessen, was ihm nützt, und stabilisiert sein Selbst und Weltbewusstsein. In diesem Prozess spielt das Fernsehprogramm für viele Kinder eine wichtige Rolle. Bei größeren Grundschulkindern stehen derzeit die Nachmittagssendungen von Gerichtsverhandlungen ganz hoch im Kurs. Warum das so ist? Dort treten verlässliche Männer und Frauengestalten als Richter auf und sorgen dafür, dass in einem überschaubaren kleinen Ausschnitt der Realität Recht gesprochen wird, d.h., das Böse wird bestraft. Eine Gegenwelt zur unüberschaubar gewordenen Realität entsteht und nährt dabei die wichtige Sehnsucht nach der gerechten Welt, in der Menschen leben, die für die Einhaltung bestimmter Werte sorgen.

Es wird so schnell vergessen, dass solche Film- und Fernsehgestalten an der Ausformung einer innere Richterinstanz bei Kindern und Jugendlichen mitwirken und damit zur Gewissensbildung beitragen. Und mancher kindliche Zuschauer träumt sich in seine Zukunft hinein, will später mal als Erwachsener Richter oder Richterin werden. Mit diesem letzten Satz habe ich das Stichwort für den nächsten Abschnitt gegeben, es geht in die Welt kindlicher Träume.

6. Kinder verarbeiten ihre Ängste beim Träumen

Ich beginne mit einer Frage an Sie: Erinnern Sie sich an einen Traum aus Ihrer Kindheit? Sehr oft müssen Erwachsene diese Frage verneinen, was verwundert, denn Kindheitserinnerungen können bekanntlich weit zurückreichen. Wie erklärt es sich, dass bei dieser gedanklichen Reise in die eigene Vergangenheit kein Traum aus dieser Zeit mit auftaucht? Jeder Erwachsene hatte auch schon als Kind geträumt, viel und intensiv, hat unter Alpträumen gelitten, denn diese spielen im Traumerleben der Kinder eine große Rolle. Ich vermute, dieser Mangel des Sich-Erinnerns hängt damit zusammen, dass Kinder mit ihren Träumen allein geblieben sind, weil niemand Interesse und die nötige Offenheit zeigte, so dass sie für ihr inneres Erleben keine sprachliche Äußerungsform finden konnten. Auf diese Weise ging der Traum wieder verloren. Wenn ihn niemand hören will, hat das Kind auch nicht die Chance, ihn zu erzählen. Und das Erzählen trägt dazu bei, dass etwas im Gedächtnis bleibt.

Der Erwachsene, dem das Kind einen Traum erzählt, hört zu, nimmt Anteil. Kommunikation findet statt, Sprache formt sich und schenkt dem Kind ein Stück Bewusstwerdung seines nächtlichen Traumgeschehens. Träume werden gespeist aus einer Quelle, die äußere Erfahrungen und Ereignisse benutzt, sie in einen veränderten Kontext stellt, ein Geschehen in Gang bringt, dessen Funktion u.a. darin besteht, Energie ins Bewusstsein zu führen. Dabei ist das Traumsymbol einem Transformator vergleichbar, der ständig Energie verwandelt und umsetzt.

Im Gegensatz zu uns Erwachsenen brauchen Kinder keine Traumanalysen, da sie die Bild und Symbolsprache, in der sich Traumgeschehen ausdrückt, noch unmittelbar verstehen. Ihre Wirklichkeit kennt noch nicht die scharfen Trennungen und Unterscheidungen, und wenn ein Kind, das einen Traum erzählt, nach seinem Gefühl beim Aufwachen gefragt wird, dann sagt es meist Ich war noch ganz drin im Traum! Es fühlt sich noch ganz im Geschehen enthalten und ist durchdrungen von dessen energetischer Wirkung, die ja beim Aufwachen noch nicht zu Ende ist.

In meiner Arbeit mit Kindern wurde sichtbar, dass nicht wenige Kinder Mühe haben, in den Tag mit seinen Anforderungen hinein zu kommen, weil sie innerlich mit schwierigen Träumen belastet sind, über die sie unentwegt nachdenken oder die sie wegzudrücken versuchen. Gerade die gefürchteten Alpträume, aus denen das Kind schweißgebadet und schreiend aufwacht, sind dadurch gekennzeichnet, dass das Traumgeschehen nicht zu einem eigentlichen Ende kommt, das Kind dann am nächsten Tag in seiner Fantasie nach einer Lösung sucht oder einfach von dem Angst erregenden Film in seinem Inneren absorbiert ist. Auch sonst aktiv der Welt zugewandte Kinder sind dann zu.

Das ändert sich jedoch schlagartig, sobald der Erwachsene oder ein anderes Kind fragt, wie es geschlafen habe. Plötzlich fängt das Kind an, seinen Traum aus der vergangenen Nacht zu erzählen, dabei geht ein Ruck durch seinen Körper. Sein Gesicht öffnet sich, die Blockade weicht, Sprache fließt und formt das angstvolle Geschehen des Traumes. So, jetzt weißt du, was letzte Nacht mit mir los war, was ich für Angst ausgehalten habe! Aber jetzt ist es vorbei!

Da Träume-Erzählen bei Kindern von ansteckender Wirkung ist, wird schnell eine Erzählrunde daraus. In meiner Arbeit mit Kindern hatte ich solche Traumerzählstunden von Zeit zu Zeit durchgeführt, meist dann, wenn ich den Eindruck hatte, die innere Dynamik der Gruppe ist stark aufgeheizt, vermehrt Angst besetzt. Das war häufig der Fall, wenn in der Presse und im Fernsehen über Kindesentführungen, Missbrauch und anderen Verbrechen an Kindern berichtet wurde. An solchen Tagen erzählten die Kinder vermehrt Träume, in denen Monster, der schwarze Mann, der Kinderklauer, die Hexe oder der Hexenmeister auftauchten. An solchen Tagen brachten sie eine unruhige Spannung und Angst von zuhause mit, die durchs Erzählen der Träume sich verändern konnte. Eine 7Jährige erzählt: Heute nacht habe ich geträumt, ein Mann hat mich an der Hand genommen und ins Wasser geschmissen. Dann bin ich wieder weggegangen, er hat mich nicht gesehen. Ich bin schnell heimgerannt, dann hat er mich gesehen und ist mir nachgerannt. An dem Morgen wollte ich gar nicht zur Schule gehen. Ich muss immer daran denken und meine, es ist echt.

In derselben Nacht träumt ein gleichaltriges Mädchen: Ich war auf der Strasse und da waren so zwei Männer, die haben so Kinder genommen. Und ich hab sie gesehen und hab den anderen Kindern gesagt, die kommen wieder. Dann mussten wir wegrennen, dann hat mich einer geschnappt, dann bin ich dem einfach auf seinen Fuß getreten und bin weitergerannt. Dann waren wir auf dem Spielplatz, und da waren die schon wieder. Die beobachteten uns dauernd. Wir müssen immer wegrennen, denn die wollen immer Kinder nehmen. Beim Aufwachen hab ich mich ganz ganz schlecht gefühlt.

Beide Träume setzen die Mädchen in Angst und Schrecken, denn was im Fernsehen in farbigen Bildern dokumentiert wird, könnte sich ja auch in ihrem Wohngebiet ereignen. Natürlich hat die Auseinandersetzung mit den das Kind überwältigenden Kräften des Bösen viele Varianten. Nach Zeiten der Blockierung verfügt das Kind über einen Zuwachs an Kompetenz, wie der folgende Traum zeigt: Ich hab im Traum gegen den Bösen gekämpft. Da waren Schwarze und Rote dabei, und ich habe gesiegt. Die anderen haben sich nicht an den herangetraut, weil der war so stark. Aber ich bin an ihm hochgesprungen, und dann habe ich ihn besiegt. Da bin ich ganz prima aufgewacht, ich fühl mich ganz stark!

Von einem Kind, das einen solchen Traum erzählt, strahlt viel Kraft und Sicherheit ab, von der andere Kinder profitieren. Wenn innerhalb einer Gruppe Angsterfahrungen in Alpträumen geteilt werden, entsteht nach einiger Zeit eine Atmosphäre der Solidarität, Nähe und des Vertrauens. Dann braucht kein Erwachsener Angst zu haben, sein Kind könne die Widrigkeiten des Lebens nicht verkraften. Kinder sind von Natur aus wachstumsorientiert, nach vorne, in die Zukunft gerichtet und ausgestattet mit einer großen Anpassungsbereitschaft, die es ihnen gestattet, auch noch unter widrigsten Umständen zu leben.

Mit großem Interesse verfolge ich eine leichte Akzentverschiebung in der pädagogischen Diskussion. Wurde in der Vergangenheit großen Wert auf eine optimale Ausstattung des Kindes gelegt, stets genau aufgelistet, wie gefährdet ein Kind in seiner Entwicklung ist, wenn es nicht in einer optimalen Umgebung groß wird, verschiebt sich m.E. der Akzent: Der pädagogische Blick will auf einmal neugierig wissen Wie schaffen es z.B. Kinder, dass sie auch in eigentlich kinderschädlichen Milieus wachsen und gedeihen? Der Begriff der Resilienz, fast schon ein Modebegriff, drückt dieses Vermögen aus, an schmerzlichen Erfahrungen nicht zu scheitern, durch schmerzliche Erfahrungen nicht zwangsläufig zum Junkee werden zu müssen, stattdessen die Wachstums- und Überlebenskräfte zu entwickeln.

Wenn ich an dieser Stelle eine Liste meiner pädagogischen Forderungen aufstelle, dann kann ich die in einem Satz unterbringen: Kinder brauchen Kinder, Kinder brauchen verlässliche Erwachsene, die Fragen beantworten, Pflaster auf blutende Knie kleben, ein Heile, heile Segen sagen und Spucke drauf tun und ihnen Gelegenheiten des Erzählens und Zuhörens bieten. Zwar sind Kinder einem Dauerangebot von Medien ausgesetzt, zappen sich viele gleich morgens nach dem Aufwachen durch alle Kanäle, aber allen kulturpessimistischen Unkenrufen zum Trotz ist die kindliche Freude am Erzählen und Zuhören von Geschichten dadurch nicht bedroht. Wie ist das möglich?

Einen Schlüssel zur Beantwortung der Frage findet man in der Erzählrunde, deren herausragende Eigenschaft darin besteht, dass sie menschliche Nähe vermittelt. Das Kind erfährt ein Gegenüber ebenso wie Nachbarn. Kontakte werden hergestellt. Sein Blick kann sich frei schweifend im Raum bewegen. All dies geschieht ohne Druck, denn im Mittelpunkt stehen das Erzählen und Zuhören. Ob es nun eine Alltagsgeschichte, ein Traumgeschehen ist oder Großvater erzählt vom Krieg, immer bindet das Erzählen das Kind in die neu entstehende Wirklichkeit ein. Zuhörend ist es dabei, nimmt die andern wahr, wird wahrgenommen, fühlt sich geborgen in der Runde. Unablässig fließt der Strom des Erzählens. Auch das Erzählen wird von einer Kraft gesteuert, welche als positive Energie aufgenommen wird. In der Erzählrunde laden sich die leeren Akkus wieder auf, ein Bedürfnis nach Kontinuität wird beantwortet.

Nicht immer muss der Erwachsene die Rolle des Erzählers einnehmen, denn Kinder hören Kindern sehr gerne zu . Beim Träume-Erzählen war es für viele Kinder sehr wichtig zu hören, dass auch andere Kinder Alpträume haben, dies also nichts Abnormes ist. Auf diese Weise transformiert sich Angst.

Da wir nicht in einer Kultur leben, die Träumen einen hohen Wert zuspricht, kommt es immer wieder vor, dass Erwachsene Kindern ihre nächtlichen Angstträume ausreden wollen, darauf hinweisen, es gäbe keine Gespenster, obwohl sie für das Kind noch spürbar sind. Dabei wird vom Erwachsenen eigentlich nicht viel verlangt, wie das folgende Beispiel zeigt. Ein Junge erzählt: Ich hab abends beim Ins-Bett-Gehen ins Wohnzimmer geschaut, wo die Mama Nachrichten geguckt hat und hab die Bilder von den Flugzeugen gesehen. Nachts hab ich dann einen Alptraum gehabt. Ich war auf einem Turm, da sind viele Flugzeuge gekommen, und ich hab laut gebrüllt und bin aufgewacht. Dann ist die Mama gekommen.

An diesem Beispiel wird sichtbar, wie Fernsehbilder einen Traum induzieren können, wie offen Kinder aufnehmen, was um sie herum geschieht. Im Traumgeschehen drückt sich Angst aus. Das Weinen des Kindes wirkt als Signal für die Mutter, deren körperliche Nähe die Angst verwandelt. Auch hier zeigt sich die beziehungsstiftende Funktion der Angst, denn Mutter und Kind rücken zusammen. Das Kind erzählt seinen Traum und kann weiter schlafen. Die Angst hat sich transformiert.

Kinder verarbeiten ihre Ängste durchs Malen

Ich komme zum letzten Teil meiner Ausführungen und werde einige Bilder zeigen, die Kinder nach dem 11. September spontan gemalt haben. Malen gehört zu den elementaren Lösungsstrategien eines Kindes im Umgang mit bedrohlichen Inhalten. Schon sehr früh fangen kleine Kinder zu kritzeln an. Solche Äußerungen können bedeutsam werden, wenn das Kind den Erwachsenen in seinen abgebildeten Erlebnisraum hineinnimmt und beide Worte finden für das, was sich gestaltet hat. Wieder geschieht Bewusstwerdung und Erweiterung des Selbst- und Weltbildes im Gespräch.

Wenn sich der kreative kindliche Gestaltungstrieb ungehemmt entfalten darf, setzen sich Kinder ins Bild, setzen damit uns Erwachsene ins Bild. Viele Kindertagesstätten haben Maltische oder extra Malräume, und nicht wenige Kinder nehmen morgens dort als erstes Platz und malen sich in den Tag hinein. Gerade bei Angst auslösenden Ereignissen hat Malen eine heilsame Wirkung. Das Kind erlebt eine Distanzierung vom bedrohlichen Inhalt, fühlt sich entlastet und weiß, ich kann gestalten, ich kann etwas bewirken, etwas wird sichtbar, und ich fühle mich gut, und wenn du dich für mein Bild interessierst, dann schenke ich es dir und male gleich noch ein viel Schöneres hinterher.

Die folgenden Bilder möchte ich nicht analysieren. Sie sollen einen Eindruck vermitteln, wie Kinder den 11. September ins Bild gesetzt haben. Es wird sichtbar, dass Kinder sehr wohl in der Lage sind, sich mit der gefährdeten Seite des Lebens auseinander zu setzen und zwischen den gegensätzlichen Erfahrungen unterscheiden können. Das letzte Bild drückt diesen Sachverhalt besonders gut aus. In Zeiten großer Bedrohung hat es für ein Kind ja auch eine tröstliche Funktion: Das Kind weiß, jetzt bin ich auf der Seite des traurigen Kindes, aber das kann sich auch wieder ändern.

Ich schließe mit dem Titel eines Buches von Günther Büttner: Kinder in die Welt, die Welt in die Kinder setzen. Ich mag dieses Wortspiel, weil es klar macht, worum es geht. Wir setzen Kinder in die Welt. Es geht also nach außen. Gleichzeitig setzen wir die Welt in die Kinder hinein, d.h., sie verinnerlichen die Welt, in die wir sie gesetzt haben. Wir Erwachsenen dürfen in diesem Wechselspiel auf ihre wachsende Kompetenz vertrauen im Umgang mit der ambivalenten Welt. Aber wir müssen begreifen, dass wir sie in diesem Weltentstehungsprozess verantwortungsvoll, neugierig und offen begleiten müssen. Dann verkraften Kinder auch Angst auslösende Nachrichten!

Anmerkung

Vortrag auf der Bildungsmesse in Köln, Februar 2002