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Zitiervorschlag

Aus: Unsere Jugend 1993, 45, S. 33-44 (aktualisiert)

Stieffamilien: Entwicklung, Charakteristika, Probleme

Martin R. Textor

 

Im Jahr 2019 gab es laut Statistischem Bundesamt (2020) 402.303 Eheschließungen. In 69.378 Fällen (17,2%) war ein Ehepartner zuvor geschieden oder verwitwet, in 56.143 Fällen (14,0%) handelte es sich um Wiederheiraten, bei denen beide Partner geschieden bzw. verwitwet waren. Jedoch wurde nicht erfasst, ob in den letztgenannten Fällen Kinder mit in die Ehe gebracht wurden, also wie oft Stieffamilien entstanden. Gänzlich unbekannt ist, wie viele ledige Mütter bzw. Väter geheiratet, also Zweitfamilien begründet haben. So liegen genaue statistische Angaben trotz der weiten Verbreitung dieser Lebensform nicht vor. Es gibt nur Schätzungen, nach denen zwischen 7 und 13% aller Familien Stieffamilien seien (Balloff 1991; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013).

Inzwischen gibt es sowohl empirische Forschungsergebnisse als auch klinische Erkenntnisse über Stieffamilien, die in diesem Artikel miteinander verknüpft werden sollen (auf die berücksichtigten Publikationen von Therapeuten wird nur im Literaturverzeichnis verwiesen). Ihre Verknüpfung und Integration ist besonders fruchtbar, da Wissenschaftler und Berater Zweitfamilien von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachten und dementsprechend zu verschiedenen Erkenntnissen kommen: Ganong und Coleman (1986) verglichen 43 empirische Studien zu dieser Thematik mit 71 Publikationen von Therapeuten. Sie stellten fest, dass letztere im Vergleich zu Wissenschaftlern eher von einer theoretischen Perspektive (insbesondere der Systemtheorie) aus schrieben, häufiger klinische und sich über einen längeren Zeitraum erstreckende Beobachtungen referierten (im Gegensatz zu den Ergebnissen einer einmaligen Befragung), mehr Typen von Stieffamilien und mehr Familienmitglieder berücksichtigten, vor allem Anpassungsprozesse bei der Entstehung von Stieffamilien thematisierten und sich auf emotionale Reaktionen, Loyalitätskonflikte, Rollenunsicherheit und die Bedeutung von Erwartungen über das Leben in dieser Familienform konzentrierten. Obwohl Therapeuten ihre Erfahrungen mit Stieffamilien nur mit Hilfs- und Therapiebedürftigen sammelten, scheuten sie sich laut Ganong und Coleman (1986) typischerweise nicht, ihre Folgerungen auf alle Stieffamilien zu generalisieren. Auch berücksichtigten sie nicht, dass sie in der Regel nur mit Klienten aus der Mittelschicht zu tun hatten. So ist nicht verwunderlich, dass sie die Probleme und Defizite von Stieffamilien betonten - im Gegensatz zu Wissenschaftlern, die nur wenig Unterschiede im Vergleich zu anderen Familienformen fanden, wobei sie sich auf die Untersuchung von psychischer Gesundheit, Persönlichkeitseigenschaften, Selbstkonzept, Sozialverhalten, Einstellungen und der Wahrnehmung von (Stief-) Eltern-Kind-Beziehungen konzentrierten.

Besonderheiten von Stieffamilien

Die Stieffamilie ist eine eigenständige Familienform, die sich in vielerlei Hinsicht von Erstfamilien unterscheidet. Ihre Existenz widerspricht den Definitionskriterien von "Familie" - dem Wohnen aller Familienmitglieder unter einem Dach, der Blutsverwandtschaft und dem gemeinsamen Namen. So gibt es oft einen außerhalb der Familie lebenden Elternteil, der manchmal mit anderen Kindern zusammenlebt, sind Kinder Mitglieder von zwei Haushalten. Der Stiefelternteil ist mit den Stiefkindern biologisch nicht verwandt; ist er ein Mann, tragen diese nicht seinen Namen (außer bei Adoption). Die Mitglieder von Stieffamilien orientieren sich immer noch an diesen Kriterien und versuchen oft, eine Erstfamilie zu imitieren. So ist eine der wichtigsten Aufgaben, die sich ihnen stellt, die innere Distanzierung vom Modell der Erstfamilie, die Anerkennung des Andersseins ihrer Familienform und die Entscheidung, als "Familie eigener Art" leben zu wollen.

Stieffamilien sind sehr komplexe Gebilde. Sie sind eng mit dem Haushalt des außenstehenden Elternteils und dem Haushalt seiner Eltern verknüpft. Sind beide Ehepartner geschieden, gibt es sogar vier weitere elterliche und großelterliche Haushalte, in denen sich die Kinder aufhalten. So sind Stieffamilien in ein großes Netzwerk eingebettet, das viele Ressourcen enthält, aber auch Konflikte hervorrufen und verstärken kann. Zudem stellt sich in einem solchen System die Frage der Zugehörigkeit. Die einzelnen Mitglieder der Stieffamilie können durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen - die einen mögen den außenstehenden Elternteil oder die in seinem Haushalt lebenden Geschwister zur eigenen Familie rechnen, die anderen nicht. Damit verbunden ist das Problem der Grenzziehung: Die eine Stieffamilie mag die Grenzen so scharf ziehen, dass außenstehende Elternteile ausgeschlossen werden, die andere mag die Grenzen so durchlässig halten, dass Unklarheit über die Mitgliedschaft in ihr besteht.

Die Komplexität von Stieffamilien zeigt sich auch in der Vielzahl ihrer Formen. So lassen sich verschiedene Typen unterscheiden nach ihrer Vorgeschichte (Scheidung, Verwitwung, nichteheliche Mutterschaft), den Partnerkombinationen (lediger Mann - geschiedene Frau, verwitweter Mann - ledige Mutter usw.), den Kinderkonstellationen (beide Eltern bringen Kinder in die Ehe mit, ein leibliches Kind des Vaters - zwei gemeinsame Kinder usw.), den Sorgerechtskombinationen (gemeinsames Sorgerecht mit dem außenstehenden Elternteil beim Kind der Mutter - alleiniges Sorgerecht beim Kind des Vaters, kein Sorgerecht für das beim außenstehenden Elternteil lebende Kind, Sorgerecht für das Stiefkind aufgrund seiner Adoption usw.) und dem Gründungsmuster (Zweitehe nach längerer Zeit der Alleinerzieherschaft, neuer Partner als Grund für das Scheitern der Erstehe usw.). Auch überlagern sich verschiedene Phasen des Lebens-, Ehe- und Familienzyklus: Beispielsweise kann sich der oft viel ältere Mann in der Krise der Lebensmitte befinden, die Frau aber gerade erst der Postadoleszenz entwachsen sein, können beide in der Phase der ersten Ehejahre stehen, zugleich aber auch in der Familienphase mit sich ablösenden Jugendlichen (wenn der Mann ältere Kinder in die Ehe einbrachte).

Charakteristisch für Stieffamilien ist ferner die Tatsache, dass das Teilsystem des Elternteils mit seinen leiblichen Kindern älter als das Gesamtsystem ist, also eigene Strukturen, Regeln und Interaktionsmuster zum Zeitpunkt der Zweitfamiliengründung besitzt. Aufgrund der Komplexität des Systems und der Vielzahl von Stieffamilienformen mangelt es auch an Leitbildern und Normen, an denen sich die Familienmitglieder orientieren könnten. So müssen Rollen, Regeln und Verhaltensmuster erst entwickelt werden. Hinzu kommt, dass Stieffamilien ein schlechtes Image haben: Ihre Mitglieder werden immer wieder mit Vorurteilen ("böse Stiefmutter") konfrontiert. Auch ist seitens der Katholischen Kirche eine Trauung nach Scheidung in vielen Fällen nicht möglich.

Werbungsphase

Der Gründung der Stieffamilie geht eine mehr oder minder lange Werbungsphase voraus. Von großer Bedeutung ist, wie viel Zeit seit dem Partnerverlust vergangen ist - ob die Trauerphase abgeschlossen, alte Bindungen gelöst und die Verlusterfahrung verarbeitet wurde. Hiervon hängt ab, inwieweit die (geschiedene oder verwitwete) Person innerlich frei für eine neue Beziehung ist, welchen Einfluss ihre Vorgeschichte auf die entstehende Partnerschaft ausübt und wie realistisch ihre Erwartungen sind. Problematisch kann sich z.B. auswirken, wenn sie ihren früheren Partner noch liebt oder durch negative Gefühle an ihn gebunden ist, wenn sie den neuen Partner als "Retter" aus einer Situation des Trennungsschmerzes, der Trauer und Depressivität erlebt oder wenn sie glaubt, nach einer gescheiterten Ehe oder aufgrund ihres Alters ihre Erwartungen an einen neuen Partner herunterschrauben zu müssen.

Selbst wenn geschiedene oder ledige Mütter in der Regel Angst vor einem zweiten Fehler haben, glauben sie während der Werbungsphase, nun den "richtigen" Partner gefunden zu haben. Sie beschreiben ihn als verständnisvoll, sympathisch, vertrauenserweckend und liebevoll. Auch glauben sie, mit ihm gut kommunizieren, Probleme lösen, gleichberechtigt Entscheidungen fällen und Familientätigkeiten gerecht aufteilen zu können. Die Wahrnehmung, dass die Dinge nun besser stehen als in früheren Beziehungen, kann positive Erwartungen verstärken und die Bereitschaft wecken, das eigene Verhalten zu verändern und mit neuen Beziehungsmustern zu experimentieren.

Alleinerziehende sind während der Werbungsphase manchmal mehr mit der Kompatibilität zwischen ihren Kindern und dem neuen Partner beschäftigt als mit der Kompatibilität zwischen letzterem und ihnen selbst. Ein großes Konfliktpotential entsteht, wenn der neue Partner vorwiegend aus dem Grund ausgewählt wurde, dass er den Kindern ein guter Vater/eine gute Mutter sein könnte. Oft nimmt sich der Elternteil auch zu wenig Zeit für den Partner, weil er die Elternaufgaben in den Vordergrund stellt. So wird manchmal die Beziehung vom Partner abgebrochen, wenn er schon in der Werbungsphase erkennt, dass er erst an zweiter Stelle nach den Kindern kommt. Auch mag eine so enge, eventuell sogar symbiotische Beziehung zwischen Elternteil und Kindern während der Phase der Alleinerzieherschaft entstanden sein, dass für den neuen Partner nur eine Randposition in dem Familiensystem offen steht, mit der sich dieser nicht begnügen will.

Alleinerziehende erleben während der Werbungsphase oft Konflikte zwischen ihrem Wunsch, mehr Zeit mit ihrem neuen Partner zu verbringen, und ihrem Wunsch, bei den Kindern zu sein. Dies ist besonders oft dann der Fall, wenn sie ganztags arbeiten und somit während der Arbeitswoche wenig Zeit für die Kinder haben. Häufig haben sie ihnen gegenüber auch Schuldgefühle (weil die Kinder so unter der Trennung, der Scheidung oder dem Tod des anderen Elternteils litten) und wollen sie jetzt nicht "vernachlässigen" oder erleben sich als illoyal, weil sie in die neue Beziehung emotional investieren. Dies kann die Entstehung einer primären, gefestigten Ehedyade verhindern.

In manchen Fällen fördern Kinder die neue Partnerbeziehung. In der Regel stehen sie ihr jedoch distanziert, kritisch oder sogar negativ gegenüber. Sie haben Angst, ihren anwesenden Elternteil an den neuen Partner zu verlieren, oder befürchten, dass dieser den abwesenden (nichtsorgeberechtigten oder toten) Elternteil aus ihrem Leben verdrängen möchte. Dies gilt umso mehr, wenn sie ihre Stellung in der Teilfamilie (z.B. als parentifiziertes Kind oder Ersatzpartner) als bedroht erleben, wenn sie eine enge Beziehung zum abwesenden Elternteil haben oder noch auf die Versöhnung geschiedener Eltern hoffen. Ihre ablehnende Haltung kann auch dadurch bedingt sein, dass sie durch negative Mythen über Stiefeltern beeinflusst werden, dass sie Angst vor dem Unbekannten haben oder dass sich andere Bezugspersonen (z.B. Großeltern) gegen den neuen Partner ihres Elternteils ausgesprochen haben. Versuchen sie, die Paarbeziehung zu sabotieren, oder zeigen sie ihre Ablehnung durch Ausagieren, Wutausbrüche oder offene Kritik, so werden ihre Eltern schnell aufmerksam und können auf ihre Vorbehalte reagieren. Ziehen sie sich hingegen zurück, werden sie depressiv oder entwickeln sie psychosomatische Symptome, werden ihr Leid und ihre Ängste oft erst spät wahrgenommen - schließlich sind ihre Eltern durch das neue Liebesverhältnis, romantische Gefühle und paarbezogene Aktivitäten abgelenkt.

Die Partnerbeziehung

Im Familienzyklus der Stieffamilie fehlt die Anfangsphase "Ehe ohne Kinder", in der sich eine starke Ehedyade ausbilden kann und die Partner ihre Beziehung definieren können - unbelastet durch Erziehungspflichten. In der Stieffamilie sind die Kinder von Anfang an dabei. Dementsprechend sind die wechselseitigen Anpassungsprozesse komplexer und damit schwieriger, da mehr Personen beteiligt sind. Es müssen nicht nur mehr Interaktions- und Beziehungsmuster entwickelt und mehr Regeln ausgehandelt werden als in der jungen Erstehe, sondern auch die Haushaltsführung ist zeitaufwendiger und aufgabenreicher, der Tagesablauf muss stärker strukturiert werden, und bei der Planung von Freizeitaktivitäten sind die Interessen von mehr Personen zu berücksichtigen. Ferner müssen die Partner miteinander (und mit den Kindern) aushandeln, wie die Erziehungsverantwortung aufgeteilt und die Elternrolle des Stiefelternteils definiert wird. So können bereits in der Anfangsphase der Zweitehe viele Probleme auftreten, die oft aus Liebe oder aus Angst vor einem erneuten Scheitern der Ehe verdrängt werden.

Vielfach kommt es bei Zweitehen schon bald zu Konflikten um das Geld. Manchmal wurden vor der Eheschließung Einkommen, Schulden oder andere finanzielle Verpflichtungen nicht offen gelegt. Auch besteht eher die Tendenz, an den in die Ehe eingebrachten Besitztümern festzuhalten (z.B. um die Interessen der eigenen, eventuell beim früheren Partner lebenden Kinder zu wahren). So kommt es häufig zu einer getrennten Kassenführung. Ferner kann ein Partner die finanziellen Ansprüche seiner Stiefkinder als zu hoch erleben. Schließlich kann es zu Konflikten kommen, wenn ein Ehegatte einen großen Teil seines Einkommens an seinen früheren Partner und die bei ihm lebenden Kinder abtreten muss und der neue Partner bzw. die Stiefkinder das Gefühl haben, zu kurz zu kommen. Generell ist aber die Einkommenssituation in Stieffamilien besser als in Teilfamilien.

So ist die Anfangsphase einer Zweitehe oft weniger unbeschwert als diejenige einer Erstehe. Aber auch später kommt es vielfach zu Problemen und Konflikten. Beispielsweise ergab eine Untersuchung über 80 Stieffamilien (Knaub, Hanna und Stinnett 1984), dass am häufigsten Ehekonflikte hinsichtlich der Erziehung und Disziplinierung der Kinder genannt wurden (35%), gefolgt von finanziellen Problemen (31%) und verschiedenen zwischenmenschlichen Beeinträchtigungen (23%). Auch beim "Binuclear Family Research Project" (Ahrons und Wallisch 1987) sowie bei einer Studie über 784 verheiratete Personen (Ihinger-Tallman und Pasley 1987) war die Kindererziehung der häufigste Konfliktanlass. Laut der zuletzt genannten Untersuchung kommt es auch oft zu Konflikten hinsichtlich der Partnerbeziehung, insbesondere bezüglich der Sexualität, des (zu geringen) Ausdrucks von Zuneigung und des Mangels an Zeit füreinander. Andere Anlässe für Auseinandersetzungen können die Beziehung zum früheren Partner, Abkapselungstendenzen des Ehegatten ohne Kinder, dessen Ausschluss aus dem Subsystem Elternteil - leibliche Kinder oder die mangelnde Unterstützung des Elternteils mit leiblichen Kindern durch den Stiefelternteil bei der Betreuung und Versorgung der Kinder sein. Bei zusammengesetzten Stieffamilien mögen die Partner auch immer die Partei ihrer leiblichen Kinder ergreifen, so dass es oft nicht zur Integration der beiden Teilfamilien in ein neues Familiensystem kommt und die Ehedyade sehr schwach bleibt. Probleme und Unstimmigkeiten werden oft verneint oder verdrängt, weil die Zweitehe nicht ebenfalls scheitern soll. Jedoch kann das kooperative Bewältigen der genannten Probleme zu enger Verbundenheit zwischen den Partnern führen und die Ehebeziehung stärken.

Viele Untersuchungen befassen sich mit der Ehequalität in Stieffamilien. Beispielsweise gaben bei einer Studie über 80 Zweitfamilien (Knaub, Hanna und Stinnett 1984) 88% der Befragten an, dass sie mit der durchschnittlich vor 3,3 Jahren geschlossenen Ehe glücklich waren - und 79% mit den Kindern. Sie fühlten sich dem Partner (86%) und den Kindern (78%) sehr nahe, waren mit der Kommunikation mit dem Ehegatten (64%) und mit den Kindern (59%) sehr zufrieden. Allerdings glaubten nur 39%, dass sie mit Konflikten gut umgehen können. Vemer und Kollegen (1989) berichten in ihrer Literaturübersicht, dass nach 16 Untersuchungen die Ehezufriedenheit in Zweitehen nur ganz wenig kleiner als in Erstehen war. In 25 Studien wurde herausgefunden, dass wiederverheiratete Männer etwas zufriedener als wiederverheiratete Frauen waren. Nach 8 Untersuchungen war die Ehezufriedenheit in Familien mit einem Stiefvater gleich groß wie in Familien mit einer Stiefmutter. Das Vorhandensein von Kindern hatte keinen Einfluss auf die Ehequalität - auch nicht, wenn beide Partner Kinder in die Zweitehe einbrachten. Laut der bereits erwähnten Untersuchung von Ahrons und Wallisch (1987) war die Ehezufriedenheit bei einer positiven Beziehung zwischen Stiefelternteil und Stiefkindern größer.

In einem gewissen Widerspruch zu den Forschungsergebnissen über die Ehequalität in Stieffamilien steht die Aussage über die höhere Scheidungswahrscheinlichkeit von Zweitehen, die mit rund 40% angegeben wird. Laut einer Untersuchung über 1.673 Ehepartner, von denen 19% wiederverheiratet waren (White und Booth 1985), war die Scheidungswahrscheinlichkeit bei Zweitehen nicht signifikant größer als bei Erstehen, wenn nur ein Partner wiederverheiratet war - hingegen fast doppelt so groß, wenn beide Ehegatten schon einmal verheiratet waren. Auch war die Scheidungswahrscheinlichkeit mehr als doppelt so groß bei Vorhandensein von Stiefkindern. Nach einer britischen Studie (Ferri 1984) sind Familien mit einem Stiefvater weniger stabil als solche mit einer Stiefmutter.

Der Widerspruch zwischen den Forschungsergebnissen über die gleich hohe Ehezufriedenheit und die höhere Scheidungswahrscheinlichkeit von Zweitehen gegenüber Erstehen lässt sich vielleicht so aufklären: Zum einen kann es sein, dass Wiederverheiratete schneller zu einer Trennung bereit sind, weil sie vielleicht eher aufgeben oder schon einmal eine Scheidung erlebt haben. Zum anderen mag die Ursache für die Trennung weniger in der Ehebeziehung als in der Beziehung zu den (Stief-) Kindern liegen. So sind Wiederverheiratete mit (Stief-) Kindern weniger zufrieden mit dem Familienleben als solche ohne Kinder (Ahrons und Wallisch 1987; White und Booth 1985).

Die Beziehung zum früheren Partner

In vielen Fällen haben der gestorbene oder geschiedene Ehepartner und die frühere Beziehung zu ihm einen großen Einfluss auf die Zweitehe und die neuen Familienverhältnisse. Oft müssen noch Emotionen, die aus der früheren Ehe stammen, verarbeitet werden - wie Trauer, Schmerz, Liebe, Haß, Wut, Versagens- oder Schuldgefühle. Häufig gibt es noch unverarbeitete Bindungen, die z.B. durch Einrichtungsgegenstände oder Fotos am Leben erhalten werden. Ferner wird die frühere Ehe als Maßstab für die neue genommen - endete sie mit dem Tod des Partners, wird sie leicht verklärt, endete sie mit einer Scheidung, kann sie zum negativen Beispiel werden. Aber auch im letztgenannten Fall werden oft Interaktionsmuster, Regeln, Rollenerwartungen usw. unbewusst von der alten auf die neue Ehe bzw. Familie übertragen.

In vielen Fällen besteht die Beziehung zum früheren Ehepartner fort. Beispielsweise gaben bei einer kanadischen Untersuchung über 232 Zweitehen (Hobart 1990) 49% der Frauen und 47% der Männer an, dass sie noch in Kontakt mit ihrem früheren Partner stehen. Die Beziehung bestand umso häufiger fort, je mehr Kinder bei der wiederverheirateten Frau lebten (galt nicht für Männer), und um so seltener, je mehr gemeinsame Kinder in der Stieffamilie lebten und je länger die Zweitehe dauerte. An positiven Aspekten der Beziehung zum früheren Partner wurden besonders häufig die Sorge um das Wohl der Kinder (40% der Männer, 34% der Frauen) und das freundschaftliche Verhältnis (18% der Männer, 31% der Frauen) genannt. Negative Aspekte waren für Männer Spannungen aufgrund unterschiedlicher Erwartungen hinsichtlich Sorge- und Besuchsrecht oder Unterhaltszahlungen (35%) sowie Gefühle der Abneigung (31%); Frauen erwähnten ebenfalls Spannungen (45%) sowie unakzeptable Charaktereigenschaften des früheren Partners (20%). Die Beziehung wurde um so eher als positiv bezeichnet, je älter der befragte Mann war und je länger seine neue Ehe dauerte bzw. je jünger die befragte Frau war, je höher ihr Schulabschluss und ihr beruflicher Status waren und je mehr Kinder aus erster Ehe bei ihr lebten.

Zumeist entspricht die Qualität der Beziehung zum früheren Ehepartner der Beziehungsqualität nach der Wiederheirat. Jedoch wirken sich auch die neuen Familienverhältnisse aus. Dies wird besonders deutlich, wenn die früheren Partner bisher gemeinsam ihre Kinder erzogen haben (z.B. bei gemeinsamer Sorge). Oft ist dies nach der Wiederheirat eines Partners oder beider Partner nur noch unter erschwerten Bedingungen (z.B. bei Umzug in einen weiter entfernten Ort), in Verbindung mit einer Verschlechterung der Beziehung oder überhaupt nicht mehr möglich. Die Hauptursache ist, dass die geteilte Elternschaft und das relativ positive Verhältnis zum früheren Partner die Zweitehe bedrohen bzw. so erlebt werden - insbesondere wenn noch keine "psychische Scheidung" erfolgte. Ähnliches gilt, wenn der ehemalige Ehegatte nur das Umgangsrecht besitzt und wahrnimmt. Aus Angst, den Kontakt zu den Kindern zu verlieren, mag er die Beziehung zu diesen und zu seinem früheren Partner zu intensivieren versuchen, was dann schnell von der anderen Seite als Bedrohung erlebt wird.

So kommt es nach der Wiederheirat oft zu Konflikten um das (gemeinsame) Sorge- und Umgangsrecht, die manchmal zu juristischen Schritten und zur Änderung bisheriger Regelungen führen. Manche Konflikte werden auch dadurch verursacht, dass Unterhaltszahlungen nicht mehr regelmäßig oder vollständig erfolgen, wenn sie eingestellt oder als Druckmittel eingesetzt werden. So ist nicht verwunderlich, dass bei einer Untersuchung über 44 Stieffamilien (Knaub und Hanna 1984) in 36% der Fälle die Beziehung zum nichtsorgeberechtigten Elternteil negativ erlebt wurde. Natürlich hilft auch die Zurückweisung eines früheren Partners beim Aufbau von Solidarität in der neuen Ehebeziehung. In anderen Fällen gehen die ehemaligen Partner einander aus dem Weg und verlassen sich darauf, dass die Kinder die Häufigkeit von Besuchen festlegen und von sich aus den Kontakt zum außenstehenden Elternteil halten.

In manchen Fällen bildet sich eine eigenständige Beziehung zwischen dem früheren und dem neuen Partner heraus. Bei der vorgenannten kanadischen Untersuchung (Hobart 1990) galt dies für 23% der befragten Männer und 26% der Frauen; ein höherer Prozentsatz (rund 50%) wurde von Ahrons und Wallisch (1987) ermittelt. Zumeist entsteht ein distanziert-höfliches, selten ein freundschaftliches Verhältnis. Positiv wirkt sich aus, wenn beide Seiten ihre Beziehung zu den Kindern klären. Geschieht dies nicht, kommt es oft zu Rivalität, wetteifern sie um die Liebe und Gunst der Kinder. Der Stiefelternteil mag sich auch darüber ärgern, dass er die Stiefkinder täglich betreuen und eventuell finanziell unterstützen muss, während der außenstehende Elternteil den "Sonntagsvater" oder die "Sonntagsmutter" spielt und mehr Liebe seitens der Kinder erfährt. Oft ist er auch auf die Beziehung zwischen seinem Ehegatten und dessen früherem Partner eifersüchtig.

Netzwerkkontakte

Mit der Wiederheirat wird das Verwandtschaftssystem erweitert. Es kommen ein neues Schwiegerelternpaar bzw. Stiefgroßelternpaar und weitere Verwandte hinzu. Während die Beziehung zu ihnen intensiviert wird, nehmen die Kontakte zu den früheren Schwiegereltern bzw. außenstehenden Großeltern ab. In diesem System haben die Mitglieder der Stieffamilie viel Entscheidungsfreiheit, mit wem sie den Kontakt pflegen oder reduzieren wollen - Verwandtschaftsbeziehungen werden "konstruiert", können vorübergehend sein.

Das Verwandtschaftssystem kann für die Stieffamilie eine Quelle der Unterstützung sein. Manchmal bieten sogar alle drei Großelternpaare materiellen bzw. manuellen Beistand oder Hilfe bei der Kindererziehung an. Ist die Wiederheirat jedoch mit einem Umzug in einen weiter entfernten Ort verbunden, können die Betroffenen bisherige Quellen der Unterstützung verlieren. Ferner können auch Konflikte vom Verwandtschaftssystem ausgehen - wenn z.B. der neue Partner abgelehnt wird. Ähnliches gilt für das weitere Netzwerk aus Freunden und Bekannten.

Beziehung zwischen Stiefeltern und Kindern

Die Art der Beziehung zwischen Stiefelternteil und Stiefkindern wird zu einem großen Teil von dem leiblichen Elternteil bestimmt. Er kann durch sein Verhalten beeinflussen, ob der Stiefelternteil akzeptiert wird oder nicht. Viele leibliche Eltern wollen wohl Unterstützung bei der Kindererziehung, möchten aber nicht die Führungsrolle aus der Hand geben und wünschen nicht das Eindringen des Stiefelternteils in ihre zumeist recht enge Beziehung zu den Kindern. So übertragen insbesondere Mütter nur wenige Erziehungsaufgaben und -rechte an die Stiefväter. Entwickelt sich eine positive Beziehung zwischen Stiefelternteil und Stiefkindern, reagieren manche leibliche Eltern mit Eifersucht. Maßt sich der Stiefelternteil zu viel Erziehungsrechte nach Meinung des biologischen Elternteils an, so mag dieser die Erziehungsbemühungen unterminieren. Viele der skizzierten Prozesse sind in der Regel nicht bewusst, so dass sie nur selten angesprochen und diskutiert werden können. Das gilt weniger für das Abstimmen des Erziehungsstils, der Regeln, der Disziplinierungstechniken usw. zwischen den Ehepartnern.

Für den Stiefelternteil stellt sich die Frage, wie er seine Rolle gegenüber den Stiefkindern definieren soll. Da Verhaltensmodelle und normierte Erwartungen fehlen, weil ihm - selbst nach jahrelangem Zusammenleben mit den Kindern - keine gesetzlich fixierten Elternrechte zustehen und da er oft von Institutionen wie Kindergärten und Schulen nicht als Elternteil anerkannt wird, muss er nach einer eigenen, individuellen Rollendefinition suchen. Dies ist besonders schwierig, wenn die beiden leiblichen Elternteile das gemeinsame Sorgerecht ausüben oder der außenstehende Elternteil noch erzieherisch aktiv ist. So haben viele Stiefeltern mit Rollen- und Identitätsproblemen zu kämpfen. Die schließlich von ihnen gewählten Rollendefinitionen sind diejenigen des "eigentlichen Elternteils" (nehmen Platz des außenstehenden oder gestorbenen Elternteils ein), des "anderen Elternteils" (neben dem außenstehenden) oder des "Freundes". Wird die jeweilige Rollendefinition von dem Ehepartner, den Stiefkindern oder anderen wichtigen Personen (leibliche Kinder, außenstehender Elternteil usw.) nicht akzeptiert, kommt es zu großen Konflikten. Leben die Stiefkinder bei dem außenstehenden Elternteil, muss nur eine "Wochenend-Stiefelternrolle" definiert und übernommen werden.

Stiefeltern ohne leibliche Kinder müssen in relativ kurzer Zeit lernen, mit Kindern umzugehen und erzieherisch tätig zu werden. Sie tendieren dazu, zu hohe Erwartungen an sich selbst zu stellen und sich zu überfordern: Sie wollen "perfekte" Eltern sein oder den außenstehenden Elternteil übertreffen. Dies gilt insbesondere für Stiefmütter. Dementsprechend sind Stiefeltern oft mit ihren Erziehungsbemühungen unzufrieden. Manchmal sind sie auch sehr fürsorglich, verwöhnend und nachgiebig, da sie auf diese Weise die Liebe der Stiefkinder erlangen wollen. Damit erschweren sie es den leiblichen Eltern, für Disziplin und Ordnung zu sorgen.

Die weitaus meisten Stiefeltern haben eine Beziehung zu den Stiefkindern bereits vor der Wiederheirat aufgebaut - nur selten kennen sie einander zu diesem Zeitpunkt kaum (Knaub und Hanna 1984). Dennoch kommen die Stiefelternfunktionen nach der Eheschließung eher plötzlich auf die Erwachsenen und Kinder zu. Zumeist wird der Stiefelternteil nicht sofort als Elternteil anerkannt; er wird generell schneller von kleinen Kindern und Heranwachsenden akzeptiert als von Schulkindern und Jugendlichen. Die Widerstände sind besonders groß, wenn er sich zu rasch und zu stark erzieherisch engagiert, sofortige Liebe und die Anerkennung seiner Autorität erwartet. Die Kinder akzeptieren seine Erziehungsmaßnahmen in der Regel erst, wenn sie eine tiefere Beziehung zu ihm entwickelt haben - das kann durchaus ein oder zwei Jahre dauern. Die Widerstände sind auch groß, wenn während der Phase der Alleinerzieherschaft eine besonders enge, eventuell sogar symbiotische Beziehung zwischen Elternteil und Kindern entstand, wenn letztere parentifiziert oder zu Ersatzpartnern gemacht wurden. Dann befürchten sie nach der Wiederheirat den Verlust ihrer Position und eines Teils der Liebe ihres leiblichen Elternteils, reagieren dementsprechend mit Eifersucht, Wut und anderen negativen Gefühlen und wehren sich gegen die Erziehungsversuche des Stiefelternteils.

Zu Widerspenstigkeit, Feindseligkeit, emotionalem Rückzug, Schuldgefühlen usw. kommt es, wenn von den Kindern verlangt wird, den Stiefelternteil als wirklichen Elternteil zu akzeptieren. Dies gilt umso mehr, je intensiver die Beziehung zum außenstehenden Elternteil ist und je stärker die Versöhnungsphantasien noch sind. Oft wird nicht toleriert, dass die Kinder Mitglieder zweier Familiensysteme sind und beide leiblichen Elternteile lieben. Aber auch, wenn dies akzeptiert wird, kann es zu großen Loyalitätskonflikten kommen, insbesondere wenn die Stiefeltern besonders liebevoll sind. So wirkt sich positiv aus, wenn der außenstehende Elternteil explizit den Kindern erlaubt, eine Beziehung zum Stiefelternteil zu entwickeln. Jedoch bleibt diese eher distanziert, wenn der außenstehende Elternteil noch eine große Rolle im Leben der Kinder spielt. Lehnen ältere Kinder auf Dauer den Stiefelternteil ab und entwickeln sie Verhaltensauffälligkeiten, werden sie oft aus der Stieffamilie ausgestoßen (z.B. Heimeinweisung).Jugendliche und Heranwachsende lösen sich auch besonders schnell ab und ziehen in eine eigene Wohnung oder Wohngemeinschaft.

In den meisten Fällen entsteht dennoch im Verlauf der Zeit eine positive Beziehung zwischen Stiefelternteil und Stiefkindern. Beim "Binuclear Family Research Project" (Ahrons und Wallisch 1987) gaben 81% der Stiefväter und 64% der Stiefmütter an, dass sie mit der Beziehung zufrieden waren - 14% bzw. 25% waren unzufrieden. Die Stiefväter sahen sich den Stiefkindern gegenüber eher in einer Elternrolle (49% versus 28%)‚ die Stiefmütter eher in der Rolle eines Freundes oder Kameraden (42% versus 35%). Dementsprechend wurde auch ein Drittel der Stiefväter mit "Vati" angeredet, aber nur 12% der Stiefmütter mit "Mama". Ein Viertel der Stiefeltern hatte sehr viel und ein knappes Fünftel sehr wenig Erziehungsverantwortung übernommen; etwa 40% der leiblichen Eltern wünschten sich ein größeres Engagement der Stiefeltern bei der Betreuung und Erziehung der Kinder. Bei einer Untersuchung über 80 Stieffamilien (Knaub, Hanna und Stinnett 1984) gaben 69% der Befragten an, dass sie mit ihren Stiefkindern glücklich seien; 66% fühlten sich ihnen nahe. Nur 14% erlebten häufig Konflikte mit ihnen. Auch bei einer britischen Längsschnittuntersuchung (Ferri 1984) wurden überwiegend positive Beziehungen zwischen Stiefeltern und Stiefkindern ermittelt. Rund 26% der Mädchen und 16% der Jungen kamen nicht mit der Stiefmutter aus (gegenüber 5% bzw. 4% in Erstfamilien), während das Verhältnis zum Stiefvater nur in Arbeiterfamilien etwas schlechter war als die Beziehung zum leiblichen Vater in Erstfamilien. Mitchell (1985) stellte bei der Befragung von 50 Jugendlichen fest, dass diese die Beziehung zum Stiefelternteil negativer darstellten als ihre Eltern.

Generell werden höhere Erwartungen an Stiefmütter als an Stiefväter gerichtet: Sie sind für das emotionale Klima in der Familie, die Erziehung und das psychische Wohlbefinden der Mitglieder verantwortlich. Zudem stehen sie unter dem durch Märchen und Vorurteile erzeugten Druck, beweisen zu müssen, dass sie keine "bösen" Stiefmütter sind. Da sie mehr mit den Kindern beschäftigt sind, gibt es mehr Gelegenheiten für Probleme und Konflikte. Stiefväter können hingegen leichter eine distanzierte und sachliche Beziehung zu den Stiefkindern etablieren. Sie halten sich oft auch zurück, weil sie nicht in die (zu) enge Mutter-Kind-Beziehung einbrechen wollen oder da nach ihrem Rollenleitbild die Mutter alleine für die Kindererziehung zuständig ist. Zumeist kommen sie besser mit Stiefsöhnen als mit Stieftöchtern zurecht. Manchmal distanzieren sie sich von den Stieftöchtern, da sie sexuelle Anziehung verspüren. In solchen Fällen kann es aber auch zu sexuellem Missbrauch oder Inzest kommen. Entsprechend der skizzierten geschlechtsspezifischen Unterschiede kümmern sich in Stieffamilien leibliche Mütter mehr um ihre Kinder als leibliche Väter (gemeinsamer Einkauf, gemeinsame Freizeitaktivitäten, Besprechen von Problemen, Disziplinierung usw.). Jedoch engagieren sich letztere mehr in der Kindererziehung als Väter in Erstfamilien. Auch ihre Kinder erleben die Beziehung zu ihren Vätern als besonders eng (Santrock und Sitterle 1987).

Das Verhältnis zwischen (Stief-) Eltern und Kindern kann sich ändern, wenn ein gemeinsames Kind geboren wird. Eine amerikanische Untersuchung über 3.858 Zweitehen (Wineberg 1990) ergab, dass in mehr als der Hälfte ein Kind nach der Wiederheirat geboren wurde. In rund einem Viertel der Fälle geschah dies in den ersten anderthalb Jahren nach der Wiederheirat. Die Existenz eines gemeinsamen Kindes kann z.B. dazu führen, dass die Stiefkinder vernachlässigt werden. Oft lässt aber auch der Druck nach, dass sie den Stiefelternteil lieben und als Vater oder Mutter akzeptieren sollen, so dass die Spannungen in der Stieffamilie abnehmen. Vielfach reagieren die Kinder auch mit Eifersucht und fühlen sich von dem leiblichen Elternteil zurückgesetzt.

Da durch die Wiederheirat keine gesetzlich geregelte Beziehung zwischen Kindern und Stiefeltern entsteht, obwohl Letztere in vielen Fällen eine Elternrolle übernehmen, wird manchmal versucht, durch eine Stiefkindadoption die Rechtslage der aktuellen Lebenssituation anzupassen. Das Stiefkind wird an Kindes Statt angenommen und erhält denselben Rechtsstatus wie ein leibliches Kind, ist also z.B. unterhalts- und erbberechtigt. Wird es vom Stiefvater adoptiert, bekommt es auch den Familiennamen. Dem Stiefelternteil wird das elterliche Sorgerecht übertragen. Bei einer Stiefkindadoption spielen neben juristischen Gründen noch viele andere Motive eine Rolle: Beispielsweise soll der Stiefelternteil seine Selbstverpflichtung gegenüber den Kindern beweisen und an die Familie gebunden werden, soll die Vergangenheit verheimlicht oder der außenstehende Elternteil ausgeschlossen werden. Oft ist auch die Stiefkindadoption ein Indiz für das Ignorieren der Andersartigkeit von Stieffamilien, für das Leugnen der Realität und die Tabuisierung des Stiefeltern- bzw. Stiefkind-Seins.

Bei einer Stiefkindadoption besteht zumeist keine Beziehung mehr zwischen den Kindern und dem außenstehenden Elternteil. So ergab z.B. eine Studie über 1.255 Fälle (Masson, Norbury und Chatterton 1983), dass nur 30% der geschiedenen und 9% der unverheirateten (nichtsorgeberechtigten) Elternteile in den zwei Jahren vor der Antragstellung noch Kontakt zu ihren Kindern hatten - nur 13 bzw. 3% sahen sie häufiger als einmal im Monat. Aber auch in diesen Fällen stimmten die außenstehenden Elternteile in der Regel der Adoption und damit dem Verlust ihrer Elternrechte zu; nur in 7 von 1.669 untersuchten Fällen erfolgte keine Zustimmung (a.a.O.). Zudem können auch nach einer Adoption die Kontakte fortgesetzt werden; es kommt zu einer sogenannten "offenen" Adoption.

Beziehung zum außenstehenden Elternteil

Wie bereits erwähnt, gibt es in vielen Fällen keine Beziehung mehr zwischen dem außenstehenden Elternteil und seinen Kindern. Nichteheliche Väter haben oft ihre Kinder nicht kennengelernt - aber auch in Scheidungsfällen waren die Kinder zum Zeitpunkt der Trennung vielfach noch so jung, dass keine Beziehung entstanden war oder aufrechterhalten werden konnte. Häufig werden Kontakte eingestellt, weil die nichtsorgeberechtigten Elternteile nicht mehr mit ihrem früheren Partner oder dessen Ehegatten zusammentreffen wollen, da sie nicht in die Teil- bzw. Stieffamilie eindringen möchten, weil sie mit den Kindern nichts anfangen konnten oder da Kontakte von dem sorgeberechtigten Elternteil unterbunden wurden. So stellten Furstenberg und Spanier (1987) fest, dass in der Regel auch in Stieffamilien nur zwei Elternteile eine aktive Rolle im Leben der Kinder spielen. Das schließt aber nicht aus, dass die Kinder nicht innere Bilder von dem außenstehenden Elternteil behalten. Das gilt natürlich auch, wenn dieser gestorben ist.

Nach der Untersuchung von Jacobson (1987) verbrachten jüngere Kinder mehr Zeit im Haushalt des außenstehenden Elternteils als ältere Kinder. Laut der Studie von Santrock und Sitterle (1987) galt dasselbe für Kinder mit einer Stiefmutter im Gegensatz zu denjenigen mit einem Stiefvater. Eine amerikanische Untersuchung über 44 Stieffamilien (Knaub und Hanna 1984) ergab, dass nur ein Viertel der Kinder die Beziehung zum außenstehenden Elternteil als schlecht oder sehr schlecht erlebte; einige wollten sogar lieber bei ihm als in der Stieffamilie leben. Kinder können also durchaus in zwei elterlichen Haushalten leben und sich verschiedenen Erziehungsstilen, Regeln und Verhaltenserwartungen anpassen. Sie trennen zumeist zwischen beiden Sphären, insbesondere wenn sie nicht darüber sprechen dürfen, was sie in der jeweils anderen Familie erlebten. Für sie ist schlimm, wenn die leiblichen Eltern weiter miteinander streiten und die Beziehung ihrer Kinder zum jeweils anderen Elternteil oder zu den Stiefeltern zu unterminieren versuchen. Tolerieren hingegen beide Seiten einander oder kommen sie gut miteinander aus, so hat dies eine positive Wirkung auf die Entwicklung der Kinder und ihre Beziehung zu den Stiefeltern.

Hat der außenstehende Elternteil erneut geheiratet, so gewinnen die Kinder einen zusätzlichen Stiefelternteil. Dieser wird oft zunächst abgelehnt. Die Kinder fühlen sich in der neuen Familie häufig als Besucher, sind zurückhaltend und befangen. Vielfach haben ihre dortigen Eltern nur wenig Zeit für sie, insbesondere wenn sie ebenfalls (Stief-) Kinder haben. Auch mag der Stiefelternteil gegen die Besuche sein, weil er nur Arbeit mit ihnen hat oder generell gegen die Kontakte ist - was beim außenstehenden Elternteil leicht zu Loyalitätskonflikten oder Schuldgefühlen führt. In der Familie lebende Kinder lehnen manchmal die Stiefgeschwister ab, weil sie während der Besuche Kinderzimmer, Spielsachen und die Aufmerksamkeit der Eltern mit ihnen teilen müssen. So fühlen sich die Besucher häufig unerwünscht.

Beziehung zu Stiefgeschwistern

Bringen beide Partner bei der Wiederheirat Kinder in die Ehe ein, so entsteht ein neues Geschwistersystem. Dabei ändern sich oft Rollenpositionen - beispielsweise mag das jüngste aus einer der beiden Teilfamilien nun das mittlere Kind werden und die vorteilhafte "Nesthäkchen"-Stellung verlieren. Auch für ein Einzelkind, das bisher im Mittelpunkt der Teilfamilie stand, mag es sehr schwer sein, plötzlich die Liebe der Eltern mit Stiefgeschwistern teilen zu müssen. So kommt es häufig zu Eifersuchtsszenen und zu Geschwisterrivalität. Vielfach ist die Geschwisterbeziehung auf Dauer durch feindselige Gefühle, Ablehnung oder wechselseitiges Ignorieren gekennzeichnet.

In vielen Fällen werden Stiefgeschwister aber auch zu Freunden. Sie genießen es, in der Stieffamilie nahezu gleichaltrige Spielkameraden, den gewünschten "großen" Bruder bzw. die Schwester oder ein "süßes" Kleinkind zu haben, und verbringen viel Zeit miteinander. Oft verbünden sie sich auch gegen die Eitern, helfen und unterstützen einander. Vor allem die Geburt eines Geschwisterteils kann sie zusammenführen, wenn sie in dieser Situation fürchten, nun einen Teil der Liebe ihrer Eltern zu verlieren und für sie weniger wichtig zu werden (gilt ebenfalls für leibliche Geschwister in nicht zusammengesetzten Stieffamilien). In Einzelfällen wirkt auch erotische Attraktion; manchmal kommt es zu Geschlechtsverkehr. Generell ist das Familienklima besser, wenn Stiefgeschwister gut miteinander auskommen.

Entwicklung von Stiefkindern

Nach einer britischen Längsschnittuntersuchung (Ferri 1984), bei der auch 591 Stiefkinder erfasst wurden, wiesen diese nur schlechtere Schulleistungen auf, wenn sie zuvor die Trennung bzw. Scheidung ihrer Eltern erlebt hatten. Kinder mit Stiefvätern, insbesondere männliche Jugendliche, tendierten auch eher dazu, ihre Schullaufbahn so früh wie möglich beenden zu wollen. Mädchen mit Stiefvätern wiesen doppelt so häufig (22% versus 11% laut der "Rutter Home Behaviour Scale") und Jungen mit Stiefvätern etwas häufiger (18% versus 10%) Verhaltensauffälligkeiten auf als Gleichaltrige. Dasselbe galt im verstärkten Maße für Mädchen mit Stiefmüttern (29% versus 11%) und im gleichen Maße für Jungen mit Stiefmüttern (18% versus 10%). Die befragten Lehrer bezeichneten Kinder aus Stieffamilien häufiger als verhaltensauffällig, insbesondere Jungen mit Stiefvätern (20% versus 12%; nicht aber Jungen mit Stiefmüttern!) und Mädchen mit Stiefmüttern (16% versus 8%), aber auch solche mit Stiefvätern (15% versus 8%). So ist nicht verwunderlich, dass überdurchschnittlich viele Stiefkinder (vor allem Jungen) in Beratungsstellen vorgestellt wurden, mit der Polizei in Berührung gekommen waren oder einen Heimaufenthalt hinter sich hatten.

Auch nach amerikanischen Untersuchungen (Hetherington, Cox und Cox 1985; Ihinger- Tallman und Pasley 1987; Jacobson 1987; Rickel und Langner 1985) treten in Stieffamilien häufiger Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern auf. Dies gilt vor allem für Kinder mit Stiefmüttern, bei einer schlechten Beziehung zum Stiefelternteil, bei häufigen Familienkonflikten und für Kinder, die zum Zeitpunkt der Wiederheirat bereits älter waren. Zumeist bessert sich das Verhalten der Kinder, je länger die Stieffamilie besteht. Auch sind Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern aus Stieffamilien seltener als bei solchen aus Teilfamilien. Generell muss festgehalten werden, dass die meisten untersuchten Stiefkinder mit Verhaltensauffälligkeiten keineswegs therapiebedürftig waren.

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Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de