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Zitiervorschlag

Zur gesellschaftlichen Situation von Menschen mit Behinderung:

Frühe Hochkulturen, Mittelalter und Aufklärung

Frederik Schmitt

 

Im Jahr 2021 legt Udo Sierck die Publikation „Bösewicht, Sorgenkind, Alltagsheld“ vor und analysiert darin Kinder- und Jugendliteratur des Zeitraums 1897 bis 2020, deren Protagonisten Menschen mit Behinderung sind. In seinem als Perspektivwechsel angelegten Fazit kommt der Autor zu einer bemerkenswerten Feststellung: „Warum sollten (…) (Menschen mit Behinderung, d. Verf.) keine Helden oder Verlierer sein, warum sollten sie nicht bekümmert oder glücklich sein, warum sollten sie nicht irrealen Hoffnungen nachjagen oder die Realität sehen? Wären diese Selbstverständlichkeiten Wirklichkeit, würde dies bedeuten, dass über die Idee der Inklusion nicht nur gesprochen und geschrieben wird, sondern dass sie gelungen ist“ (Sierck 2021, S. 107). Dennoch machen die geschilderten Überlegungen einen Blick in die Sozialgeschichte der Behindertenhilfe, die durch Macht, Gewalt (vgl. Sierck 2019), Stigmatisierung, soziale Ausschließung und Mord gekennzeichnet ist, erforderlich. Dies wird im Folgenden chronologisch, zunächst am Beispiel antiker Gesellschaften, dargestellt (vgl. Neubert/Cloerkes 2001, S. 10; Mürner/Sierck 2012, S. 9). Ferner soll die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Mittelalter und zur Zeit der Aufklärung thematisiert werden.

Von Ägypten nach Rom: Menschen mit Behinderung in antiken Gesellschaften

Weisheitslehren spielen im Ägypten des 12. Jahrhunderts vor Christus, etwa zur Zeit der 20. Dynastie und ihres Begründers König Sethnacht, eine wichtige Rolle. Schlögl hebt die gesellschafts- und kulturbildende Funktion von Religion hervor (vgl. Schlögl 2019, S. 13). Dabei „(…) liegt die Erschaffung des Menschen – auch des Lahmen und des Blinden – im Belieben Gottes“ (Mattner 2000, S. 16). Kontextuell dürfen Menschen mit Behinderung nicht diskriminiert werden und gelangen zu Ruhm und Ansehen. Die weitere Entwicklung der altägyptischen Gesellschaft zeigt dennoch, dass der Mensch mit Behinderung „(…) als Hofnarr für die tägliche Erheiterung seines Herrn (verantwortlich ist, d. Verf.)“ (Mattner 2000, S. 17). In Mesopotamien sind Menschen mit Behinderung integriert, was auf die Staatswesen Spartas und Athens wie das Imperium Romanum keinesfalls zutrifft (vgl. Bringmann 2019, S. 50; Gehrke 2013, S. 20). Hier werden Gesundheit und Brauchbarkeit des Menschen zur handlungsleitenden Maxime; „(…) behinderte Menschen (sind, d. Verf.) Ausgrenzungen bis hin zur Aberkennung des Lebensrechts ausgesetzt“ (Mattner 2000, S. 19).

Tollhäuser und Hospitäler: Der „Irr-Sinn“ des Mittelalters

Christina Vanja stellt in einem ihrer Aufsätze das Potenzial einer sozialgeschichtlichen Perspektive auf Behinderung heraus. Sie formuliert: „Das Thema bleibt außerordentlich vielseitig. Insbesondere habe ich es vermieden, mit festen (soziologischen) Konzepten Geschichte in ein Schema zu pressen, auch wenn moderne Fragen nach Stigmatisierung, Disziplinierung und Ausgrenzung behinderter Menschen ebenso wie Überlegungen zu den Intentionen der Anstaltsgründer natürlich in die Überlegungen einbezogen wurden (…) Geschichte erweist sich gemäß diesem vorläufigen Überblick in jedem Falle nicht als linearer Prozess, sondern in allen Zeitabschnitten durchaus unterschiedlich und ohne den Blick auf die größeren epochalen Zusammenhänge unverständlich. Durch diese Heterogenität von Geschichte jedoch begründet sich Hoffnung für ganz eigene, selbstbestimmte Lebenskonzepte mit Behinderung für die Zukunft“ (Vanja 2007, S. 92).

So umfasst das europäische Mittelalter den Zeitraum von 500 bis etwa 1500 nach Christus und markiert gleichermaßen den Beginn mildtätiger Armenfürsorge durch die römisch-katholische Kirche, welche jedoch nicht als Indiz barmherzigen Umgangs mit Menschen mit Behinderung gesehen werden kann (vgl. Rexroth 2007, S. 7; Röh 2009, S. 14). Zudem tragen volkstümliche Erzählungen, etwa Märchen und Sagen, nicht dazu bei, die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung kritisch in den Blick zu nehmen, sondern bewirken eher „(…) eine Verquickung des Abnormen mit dem Satanischen (…), womit die Ursache des Anderen der mittelalterlich konstituierten Normalität in den transzendenten Bereich verlegt wurde“ (Mattner 2000, S.  21). In den Städten kommen die Einrichtungen der Armenfürsorge nicht über den Status von Verwahranstalten hinaus; man „(…) darf sich diese Institutionen (…) nicht als idyllische Orte (…) vorstellen“ (Mattner 2000, S. 24).

„Irr-Sinn“, Aufklärung und der Beginn der psychiatrischen Wissenschaften

Die wohl bekannteste Formulierung des aus Königsberg stammenden Philosophen Immanuel Kant ist sein Wahlspruch der Aufklärung. Der Mensch soll selbstständig denken, sich nicht von Obrigkeiten beeinflussen lassen oder abhängig machen. Bedingt durch die Französische Revolution des Jahres 1789 macht die Aufklärung, verstanden als Geistesbewegung des 17. und 18. Jahrhunderts, Veränderungen auf europäischer Ebene und in allen Wissenschaften möglich. Bernhard Nitsche und Florian Baab schreiben erklärend: „Immanuel Kant hat für die Philosophie eine herausragende Bedeutung, weil er die neuzeitliche Wende zum Subjekt methodologisch auf den Punkt bringt. Seine Wende im Denken, welche er als kopernikanische Wende ansieht, liegt darin, dass der Weltbezug des Menschen von jenen Bedingungen her betrachtet wird, die im Subjekt selbst gegeben sind bzw. sein müssen“ (Nitsche/Baab 2017, S. 141). Die Gründung professionell arbeitender psychiatrischer Kliniken erfolgt im 17. Jahrhundert und ist eng verbunden mit den Überlegungen zu totalen Institutionen, wie sie der kanadische Soziologe Erving Goffman ausführt (vgl. Goffman 1973, S. 15). In der Epoche der Aufklärung wird das Individuum „(…) ein kranker, in seinen Sinnen und Empfindungen irrender Mensch“ (Mattner 2000, S. 25; vgl. Caspar/Pjanic/Westermann 2018, S. 4).

Literatur

Bringmann, K.: Römische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Spätantike. München: Verlag C. H. Beck, 2019.

Caspar, F./Pjanic, I./Westermann, S.: Klinische Psychologie. Wiesbaden: Springer VS, 2018.

Gehrke, H.-J.: Alexander der Große. München: Verlag C. H. Beck, 2013.

Goffman, E.: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1973.

Mattner, D.: Behinderte Menschen in der Gesellschaft. Zwischen Ausgrenzung und Integration. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 2000.

Mürner, C./Sierck, U.: Behinderung. Chronik eines Jahrhunderts. Weinheim: Beltz Juventa, 2012.

Neubert, D./Cloerkes, G.: Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen. Eine vergleichende Analyse ethnologischer Studien. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2001.

Nitsche, B./Raab, F.: Immanuel Kant. In: Breul, M./Langenfeld, A. (Hrsg.): Kleine Philosophiegeschichte. Eine Einführung für das Theologiestudium. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh, 2017, S. 141-151.

Rexroth, F.: Deutsche Geschichte im Mittelalter. München: Verlag C. H. Beck, 2007.

Röh, D.: Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe. München: Ernst Reinhardt Verlag, 2009.

Schlögl, H.A.: Das alte Ägypten. München: Verlag C. H. Beck, 2019.

Sierck, U.: Bösewicht, Sorgenkind, Alltagsheld. 120 Jahre Behindertenbilder in der Kinder- und Jugendliteratur. Weinheim: Beltz Juventa, 2021.

Sierck, U.: Macht und Gewalt. Tabuisierte Realitäten in der Behindertenhilfe. Weinheim: Beltz Juventa, 2019.

Vanja, C.: Vom Hospital zum betreuten Wohnen. Die institutionelle Versorgung behinderter Menschen seit dem späten Mittelalter. In: Cloerkes, G./Kastl, J. M. (Hrsg.): Leben und Arbeiten unter erschwerten Bedingungen. Menschen mit Behinderungen im Netz der Institutionen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2007, S. 79-100.

Autor

Frederik Schmitt, ist Erziehungswissenschaftler (Master of Arts) und verfügt über mehrjährige Erfahrung in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen.