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Zitiervorschlag

Rezension

Brigitte Endres/Marc-Alexander Schulze: Wo gehst du hin, Opa? Ein Bilderbuch über das letzte Geheimnis. Zürich: aracari verlag 2019, 6. Auflage, 32 Seiten, EUR 15,00  direkt bestellen durch Anklicken

Cover Wo gehst du hin Opa 

Literatur bewirkt in Menschen Bilder, die der Fantasie entspringen. Diese inneren Bilder müssen nicht realistisch sein und haben gerade dadurch oft einen besonderen Reiz. Literatur bietet auch Bilder an, die innerlich lösend und klärend wirken können. Autor*innen lösen eventuell neue Gedanken und Gefühle aus, die sich ohne den Text einer Geschichte oder den Impuls durch illustrierende Bilder nicht erschlossen hätten. Daran stärken sich das persönliche Denken und Fühlen, die Vorstellungskraft und sich erweiternde Lösungsideen, die Menschen in ihre Persönlichkeitsentwicklung integrieren können.

Der Sinnspruch …
Ein Buch, das dich nach dem Lesen nicht als ein Anderer entlässt,
ist es nicht wert gelesen zu werden.
… weist darauf hin, dass nicht alle Bücher diese Kraft haben. Sehr viele gute Bücher haben glücklicherweise diese Kraft doch!

Dies trifft auch für Bilderbücher für Kinder zu. Kinderbücher sind in der Regel so verfasst, dass sie sich einem geschlossenen Thema widmen. Und daher gibt es auch Bilderbücher, die das Sterben und den Tod zum Inhalt haben. So wie die menschliche Endlichkeit in die Welt gehört, so gehören Sterben und Tod thematisch auch in die kindliche Welt: als Weltwissen ohne persönliche Betroffenheit, als Gespräche bei konkreter Betroffenheit in Familie und bei Freunden, in die individuelle Betroffenheit bei lebensbedrohlicher Erkrankung. (siehe Fachartikel Elke Schlösser. In: klein & groß. Oldenburg Verlag. Ausgaben 11/2019, 12/ 2019, 01/2020)

Das gemeinsam gelesene Buch im Themenkreis der Endlichkeit des Menschen:
• gibt Gesprächsanregungen über die Bilder.
• bietet hilfreiche sprachliche Formulierungen für verborgene oder offene Gedanken und Gefühle an.
• regt zu erweiterten Fragestellungen an.
• tröstet durch den Eindruck des Alltäglichen der Sterbe- und Todessituation.
• gibt Ideen zur Trauerbewältigung.
• stärkt die Beziehung der gemeinsam Lesenden.

Die Protagonisten sind manchmal Tiere, was indirekter wirkt und so nicht unmittelbar auf den Menschen bezogen werden muss. Diese Geschichten können insofern „unverfänglicher“ wirken.
Andere Geschichten thematisieren direkt den Verlust eines geliebten Menschen. Da Verlust durch Tod in den allermeisten Kinderleben früher oder später einmal tatsächliche Lebenswelt sein kann, sind solche Bilderbücher gute Unterstützer für Kinder und Erwachsene gleichermaßen.

Das oben genannte Bilderbuch zeigt den Gang von Emmi und ihrer Mutter zu einem letzten Besuch beim Opa in Krankenhaus. Kurz vor dem Eintreffen dort formuliert die Mama: „Opa ist sehr, sehr krank. … Vielleicht geht er von uns.“

Emmi versteht zunächst die Dimension dieses Satzes nicht und fragt ihren geliebten Opa kindlich-freimütig: „Opa? Wo willst du denn hingehen?“
Er antwortet: „Es ist ein Geheimnis und ein großes Abenteuer.“ Und dann blättert der todkranke Opa all seine Vorstellungen über das Leben nach dem Tod auf (was in kindgerechten Bildern undramatisch angeboten wird): vom Tunnel mit dem großen Licht, vom Wiedersehen mit lieben bereits Verstorbenen, vom Paradies, vom Wandern ins Weltall bei den Sternen, vom unsichtbaren, aber verlässlichen Leben als Schutzengel, von einer Wiederkehr als Baum oder vom Aufgehen im schmerzlosen Nichts.

Emmi findet diese Gedanken tröstlich, auch wenn sie ihren Opa eigentlich nicht fortgehen lassen möchte. Opas Trost: „Aber ich verspreche dir, immer wenn du an mich denkst, bin ich dir ganz nah.“
Emmi bekommt so die Vorstellungen der Atheisten, Animisten und der Weltreligionen als gedankliches Angebot. Sie wird sich eigenständig aussuchen, welche Fantasie ihr hilft, Opas Sterben und Tod (diese Wörter kommen im Bilderbuch nicht vor, sollten aber auf jeden Fall benannt werden) zu verkraften.
Ein sehr empfehlenswertes, unaufgeregtes und bereicherndes Buch zum Thema, das Kinder wie Erwachsene eindrücklich und nachhaltig stützen kann.

Elke Schlösser