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Zitiervorschlag

Rezension

Richard Louv: Das letzte Kind im Wald? Geben wir unseren Kindern die Natur zurück! Freiburg: Herder 2013, 360 Seiten, EUR 12,99 - direkt bestellen durch Anklicken

 

Der amerikanische Journalist, Autor und Aktivist Richard Louv hat im Jahr 2005 das Buch "Last Child in the Woods - Saving our Children from Nature-Deficit Disorder" veröffentlicht, das in zehn Sprachen übersetzt und in fünfzehn Ländern publiziert wurde. Nun liegt der Bestseller auch in deutscher Sprache vor, allerdings mit einem anderen Untertitel. War der Begriff "Natur-Defizit-Störung" dem Beltz Verlag zu medizinisch oder zu unwissenschaftlich? Natürlich handelt es sich hier nicht um ein anerkanntes Krankheitsbild, aber die in den letzten 20, 30 Jahren erfolgte Naturentfremdung der Kinder bzw. die Verhäuslichung von Kindheit entspricht nicht dem menschlichen Leben und trägt zu vielen Krankheiten, Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Problemen bei.

Nach einem Vorwort des Hirnforschers Gerald Hüther, in dem er das Werk von Richard Louv würdigt, führt dieser in seiner Einleitung aus: "Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die Art und Weise, wie Kinder Natur sehen und erleben, grundlegend verändert. Die Polarität der Beziehung hat sich umgekehrt. Heute sind sich die Kinder der globalen Bedrohungen für unsere Umwelt bewusst - aber ihre körperliche Erfahrung, ihre Vertrautheit mit Natur sind im Schwinden begriffen. ... Ein Kind heute kann wahrscheinlich einiges über den Regenwald am Amazonas erzählen - aber nicht darüber, wann es das letzte Mal allein im Wald herumgestreift oder in einer Wiese gelegen ist und dem Wind gelauscht und den Wolken hinterhergeschaut hat" (S. 15 f.).

Dann fährt Louv fort: "Dieses Buch hat sich vorgenommen, die wachsende Kluft zwischen Kindern und der Natur zu untersuchen und welche ökologische, soziale, psychologische und spirituelle Bedeutung dieser Wandel hat. Ebenso geht es auf die wachsende Zahl wissenschaftlicher Arbeiten ein, die auf die Notwendigkeit von Naturkontakt für die gesunde Entwicklung von Kindern - und Erwachsenen - hinweisen" (S. 16). Im Gegensatz zu der amerikanischen Erstausgabe von 2005 enthält die deutsche Übersetzung auch Forschungsergebnisse aus den letzten Jahren, Tipps, Diskussionspunkte und einen Maßnahmekatalog sowie vom Übersetzer und vom Verlag verfasste Exkurse über Entwicklungen in Deutschland.

Im ersten Teil des Buches werden die Erfahrungen von Erwachsenen mit denen heutiger Kinder verglichen: Während Kinder in den 1960er und 1970er Jahren noch viel draußen waren, im Wald und auf der Wiese spielten und so die Natur mit allen Sinnen erlebten, halten sich Kinder heute zumeist in Gebäuden auf. Im gleichen Zeitraum sank die Zahl der auf Bauernhöfen aufwachsenden Kinder auf einen Wert, der nur noch um 1% herum liegt. Fernsehen, Computer und neue Medien werden heute dem nur noch selten ermöglichten Spielen im Wald vorgezogen, das schnell als langweilig erlebt werde. Bei Fahrten wird die vorüber gleitende Natur nicht mehr wahrgenommen, da Kinder auf Bildschirme starren oder Musik hören. Älteren Kindern wird die Natur als etwas präsentiert, was man distanziert betrachtet und schützen sollte, nicht aber als Ort, an dem man etwas tun und sich "abarbeiten" kann - z.B. beim Bau von Hütten, Baumhäusern oder Höhlen. Viele Eltern und Kinder würden glauben, dass Spielen draußen verboten sei.

Die heutige Grenze zur Natur wird laut Louv "von wenigstens fünf Tendenzen gekennzeichnet: einer Abkoppelung des öffentlichen und privaten Bewusstseins von der Herkunft unserer Nahrungsmittel, einem Verschwinden der Trennungslinie zwischen Maschine, Mensch und Tier, einem zunehmend intellektbestimmten Verständnis in unserer Beziehung zu anderen Tieren, der Einwanderung wilder Tiere in unsere Städte (...) sowie dem Entstehen neuer suburbaner Lebensräume" (S. 36 f.). Nach einer ausführlichen Darstellung dieser Tendenzen konstatiert der Autor eine "denaturierte Kindheit".

Im zweiten Teil des Buches befasst sich Louv mit der Frage, warum Menschen Natur brauchen. Hier geht es um den gesundheitlichen Nutzen, die therapeutische Wirkung von Gärten und Haustieren, die Verhinderung von Fettleibigkeit sowie die Förderung der motorischen Entwicklung und der emotionalen Gesundheit. Beispielsweise zitiert Louv eine Studie, nach der "Kinder mit mehr Natur in ihrem Lebensraum geringere Werte bei Verhaltensstörungen, Angst und Depressionen aufwiesen als Kinder mit weniger Natur in ihrem Lebensraum" (S. 73). Aber auch die Heilkräfte der Natur könnten genutzt werden, z.B. bei individuellen Problemen oder ADHS. Ferner würden in der Natur die verkümmerten Sinne wieder erwachen und Primärerfahrungen möglich werden.

Dann geht Louv auf die "naturalistische Intelligenz" ein, die Howard Gardner erst später zu den von ihm unterschiedenen sieben Intelligenztypen hinzugefügt hatte. Sie bezieht sich auf das differenzierte Wahrnehmen von Naturphänomenen. Kinder, bei denen diese Intelligenz stark ausgeprägt ist, hätten laut Leslie Owen Wilson gut ausgebildete sensorische Fähigkeiten, seien gerne draußen und hätten ein großes Interesse an Tieren und Pflanzen, lernten mühelos deren Namen und Eigenschaften, legten gerne Sammlungen an und notierten Naturbeobachtungen. Inzwischen gäbe es Lehrer und Eltern, die bewusst diese Intelligenz fördern würden. Dann macht Louv deutlich, was man alles durch Aktivitäten wie das Bauen eines Baumhauses lernen kann. Dank der "loose parts" (Nicholson), der frei verfügbaren Materialien, sei die Natur auch ein guter Ort für die Entfaltung von Kreativität. Anhand von Biographien verdeutlicht Louv, dass viele berühmte Menschen ihre Schöpferkraft, Fantasie und Energie aus Naturerfahrungen zogen.

Im dritten Teil des Buches geht Louv der Frage nach, was Menschen hindert, die Natur zu erleben. Dazu gehören der scheinbare Mangel an Zeit, die geringe Bedeutung, die heute dem Spielen beigemessen wird, konkurrierende "wichtigere" Aktivitäten (z.B. Hausaufgaben) oder weniger aufwändige (z.B. Fernsehen), Leistungsdruck, Angst vor Umweltzerstörung ("Ökophobie"), Reduzierung des Naturkundeunterrichts zu Gunsten anderer Fächer bzw. Bereiche der Biologie, naturfreie Klassenzimmer und Pausenhöfe, der Missbrauch der Natur als Freizeitstätte (z.B. Herumfahren mit Jeeps oder Quads in der Wüste) usw. Immer weniger Menschen würden noch die Namen von lokal vorkommenden Tieren, Insekten und Pflanzen kennen. Wenn aber Menschen keine "Bindungen" an die Natur vor Ort haben, woher sollen dann in Zukunft die Umweltschützer kommen?

Im vierten Teil des Buches widmet sich Louv dem Thema, wie Kindern wieder die Natur nahe gebracht werden könnte: durch kurze Ausflüge, bei denen Eltern eine "ansteckende Begeisterung" für die Natur zeigen, durch das eigene Vorbild (Eltern als Vogelbeobachter oder Wanderer), durch das Vorlesen von Geschichten (z.B. aus dem "Dschungelbuch"), durch das Ermöglichen von Langeweile, aus der heraus Kinder kreativ werden, durch das Initiieren von Naturbeobachtungen, durch die gemeinsame Gartenarbeit, durch die Konfrontation mit "kontrollierten Risiken" (z.B. Klettern) - was auch zu mehr Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein führe -, durch das Einsammeln von Schildkröten, die bei ihrer Frühlingswanderung einen Highway überqueren, durch das Führen eines Naturtagebuchs seitens der ganzen Familie usw.

Aber auch die Schule kann einen Beitrag leisten, wie Louv im fünften Teil des Buches erläutert: Inzwischen sei eine - relativ kleine - Bewegung für eine "naturbasierte Schulreform" entstanden. Beispielsweise habe Finnland, ein Siegerland bei der PISA-Studie, "einen beträchtlichen Teil der Unterrichtszeit in die freie Natur oder die nähere Umgebung verlagert" (S. 224). Aber auch einige amerikanische Schulen würden inzwischen Unterricht in der Natur, in Treibhäusern und schuleigenen Gärten durchführen - mit großem Erfolg. Andere Schulen hätten den Schulhof zu Lebensräumen umgestaltet: mit Baumpflanzungen, Felsgruppen, Bächen, Fischteichen, Gärten, Vogelhäuschen und -tränken. Einige seien sogar zu Öko- oder Farmschulen geworden. Ferner würden wieder vermehrt Zeltlager veranstaltet, sodass Kinder Naturerfahrungen machen, sich aber auch erholen könnten.

Im sechsten Teil des Buches fordert Louv, dass die Wildnis in die Stadt zurückgeholt und diese zu einer "Zoopolis" umgestaltet werden sollte: mit Inseln unberührter Natur, verwilderten Grundstücken, Korridoren für Wanderbewegungen wild lebender Tiere, grünen Dächern, Abenteuerspielplätzen und Klettergärten. Zugleich müsse es in der Landwirtschaft eine ökologische Wende geben. Louv beschreibt utopisch anmutende Zukunftsszenarien, nach denen Großstädte und große Farmen verschwinden und sich weitgehend selbst versorgende "Bioregionen" mit "grünen" Kleinstädten und vielen kleinen Bauernhöfen entstehen würden.

Im siebten und letzten Teil des Buches befasst sich Louv mit spirituellen Erfahrungen, die Menschen in der Natur machen. Er empfiehlt Umweltbewegungen, sich aktiven Christen zu nähern: "Erhaltung und Bewahrung sind im Kern spirituelle Handlungen. Schließlich ist es Gottes Schöpfung, die für zukünftige Generationen erhalten wird" (S. 300). Deshalb sollten Erwachsene die kurze Zeit nutzen, in der sie ihre Liebe zur "Mutter Natur" an Kinder weitergeben könnten.

Es folgt ein Anhang, in dem Louv beschreibt, wie Leser/innen in der Bewegung gegen das Natur-Defizit-Syndrom aktiv werden, was für Naturunternehmungen Familien machen und welchen Beitrag Kommunen, Schulen und Organisationen leisten könnten. Ferner werden Fragenkataloge für Eltern, Kinder, Lehrer und andere relevante Berufsgruppen abgedruckt. Es folgen Anmerkungen (statt eines Literaturverzeichnisses), Danksagung und Autorenvorstellung.

In dem mit einem Hardcover versehenen Buch kommen viele Menschen - Eltern, Kinder, Wissenschaftler, Aktivisten usw. - zu Wort. So ist das Buch nicht nur wegen des Inhalts, sondern auch wegen des lebendigen journalistischen Stils sehr lesenswert. Selbst wenn es sich nicht an Erzieher/innen wendet, sind viele Aussagen und Tipps auch für diese Berufsgruppe relevant. Gelegentlich wird direkt auf die Gestaltung des Außengeländes von Kindertageseinrichtungen und die frühpädagogische Arbeit Bezug genommen. Auf jeden Fall sollten Erzieher/innen alle Chancen nutzen, um Kleinkindern Naturerfahrungen zu vermitteln!

Martin R. Textor

Anmerkung

Die Rezension bezieht sich auf die 2011 bei Beltz erschienene Ausgabe des Buches.