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Zitiervorschlag

Rezension

Irit Wyrobnik: Korczaks Pädagogik heute. Wertschätzung, Partizipation und Lebensfreude in der Kita. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 165 Seiten, EUR 20,00 – direkt bestellen durch Anklicken

Janusz Korczak wurde als Henryk Goldszmit am 22.07.1878 in Warschau geboren. Er studierte Medizin, und arbeitete zunächst als Kinderarzt, war aber nebenher unter dem Pseudonym Janusz Korczak schriftstellerisch tätig und engagierte sich für arme und verwahrloste Kinder. Im Jahr 1912 übernahm er die Leitung des jüdischen Waisenhauses Dom Sierot und im Jahr 1919 die Co-Leitung des polnischen Waisenhauses Nasz Dom. Hier konnte Janusz Korczak seine pädagogischen Vorstellungen umsetzen, wobei er vor allem die Rechte der Kinder betonte und ihnen weitgehende Mitbestimmungsmöglichkeiten einräumte. Im Oktober 1940 musste er mit ca. 200 Kindern aus Dom Sierot in das Warschauer Ghetto umziehen. Im August 1942 begleitete er sie aus freiem Willen in das Vernichtungslager Treblinka und fand dort den Tod. Janusz Korczak beschrieb seine pädagogischen Ideen und Erfahrungen eher in Kinderbüchern und Erzählungen als in pädagogischen Schriften. Die Gesamtausgabe seiner Werke, die vom Gütersloher Verlagshaus veröffentlicht wurde, umfasst 16 Bände.

Irit Wyrobnik, Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit an der Hochschule Koblenz, gebührt das große Verdienst, in ihrem neuen Buch die Konzepte und Vorstellungen von Janusz Korczak für Fachkräfte in Kitas und Tagespflegestellen erschlossen zu haben. Bisher wurden vor allem seine Aussagen zu Kinderrechten und seine Erkenntnisse über die pädagogische Arbeit mit älteren Kindern diskutiert, die er in seiner Funktion als Heimleiter sammelte. Irit Wyrobnik macht in ihrem Buch nun deutlich, dass Korczak auch Babys und Kleinkinder genau beobachtet und seine Erfahrungen in einigen seiner Werke veröffentlicht hat.

In dem ersten von vier Kapiteln geht es zunächst um die Aktualität der Ideen von Janusz Korczak, z.B. hinsichtlich der Grundrechte von Kindern, des Kinderschutzes und (institutionalisierter) Partizipationsmöglichkeiten. Dann wird analysiert, in welchen (früh-) pädagogischen Veröffentlichungen der letzten Jahre auf seine Erkenntnisse eingegangen wurde. Anschließend werden einige biographische Eckdaten präsentiert und seine Wirkungsbereiche als Schriftsteller, Arzt und Pädagoge beschrieben.

Im zweiten Kapitel geht es um die Vorstellungen von Janusz Korczak zur Entwicklung, Erziehung und Bildung von Kleinkindern. Zuerst wird auf seine frühe Kindheit eingegangen, mit der er sich als Erwachsener auseinandergesetzt hat und die z.B. ihren Niederschlag in dem Buch „König Maciuś der Erste“ und in seinem „Tagebuch – Erinnerungen“ fand. Dann werden seine Erfahrungen skizziert, die er als Stationsarzt im Berson-Bauman-Kinderspital, als Gruppenerzieher in der Sommerkolonie Różyczka und in der Ausbildung von Kindergärtnerinnen sammelte. Anschließend werden seine Schriften zur frühen Kindheit nacheinander vorgestellt und die jeweiligen Inhalte zusammengefasst.

Im dritten Kapitel werden Korczaks Vorstellungen vom Erziehungsgeschehen systematisiert, und zwar zunächst unter Überschriften wie „Bild vom Erzieher“, „Der Erzieher als Forscher und Beobachter“, „Der Erzieher als Begleiter und Unterstützer“, „Der Erzieher als Arzt, Psychologe und Krankenpfleger“ sowie „Der Erzieher als Fürsprecher und Anwalt“. Dann wird Korczaks Bild vom Kind beschrieben und anschließend werden seine Vorstellungen von der Bedeutung, der Macht und der Dynamik von Kindergruppen erörtert.

Im vierten – und längsten – Kapitel wird die Bedeutung von Korczaks Pädagogik insbesondere für sozialpädagogische Fachkräfte in Kitas analysiert. Nacheinander werden die Themen „Herzensbildung und Wertschätzung“, „Partizipation und Verantwortung“ sowie „Lebensfreude und Glück“ abgehandelt: „Wertschätzung als eine bestimmte Form von Achtung, Respekt und Anerkennung“; Partizipation im Sinne einer Mitbestimmung bzw. Teilhabe an der Gemeinschaft, die jedem Einzelnen zusteht und mit Rechten, aber auch mit Pflichten verbunden ist; und nicht zuletzt Lebensfreude, also eine ‚Humorvolle Pädagogik‘, wie Korczaks ‚Fröhliche Pädagogik‘ (...) auch genannt werden kann“ (S. 93). Obwohl hier der Text schon sehr praxisorientiert ist, werden zusätzlich am Ende der sechs Abschnitte noch viele Anregungen für den Kita-Alltag aufgelistet.

Es dürfte deutlich geworden sein, dass das gut lesbare Buch von Irit Wyrobnik auch als Korrektiv der Frühpädagogik der Gegenwart dienen kann, die seit zwei Jahrzehnten vor allem die Vermittlung von Bildungsinhalten und die Schulung der Kompetenzen von Kleinkindern betont (in den Bildungsplänen der Bundesländer aufgeschlüsselt nach mindestens 10 Erziehungsbereichen) sowie die sozialpädagogischen Fachkräfte mit einer Vielzahl weiterer Aufgaben belastet (z.B. Beobachtung und Dokumentation, Sprachförderung und Integration von Kindern mit Migrationshintergrund, Förderung von behinderten, benachteiligten und verhaltensauffälligen Kindern, Erziehungspartnerschaft mit Eltern, Kooperation mit der Schule, Qualitätsentwicklung und -sicherung). Die Pädagogik Korczaks kann dazu beitragen, dass der Fokus wieder mehr in Richtung auf „das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist“ und auf „das Recht des Kindes auf den heutigen Tag“ verschoben wird, dass der „Herzensbildung“ und der Beeinflussung der Gruppendynamik wieder eine größere Bedeutung zukommt und dass vermehrt darauf geachtet wird, ob alle Kinder wirklich glücklich sind und ob das Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern durch gegenseitige Wertschätzung und Achtung, durch Freude, Heiterkeit und Humor geprägt ist.

Martin R. Textor