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Zitiervorschlag

Rezension

Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf. Alle Abenteuer in einem Band. Bilder von Katrin Engelking. Hamburg: Verlag Friedrich Oetinger 2020, 397 Seiten, EUR 20,00 – direkt bestellen durch Anklicken

Ein neunjähriges Mädchen wohnt allein in einem heruntergekommenen Haus in einem verwahrlosten Garten. Ihr Vater ist Kapitän und besucht sie circa einmal im Jahr. Das Mädchen geht nur einen Tag lang in die Schule und führt sich dort so auf, dass die Lehrerin froh ist, dass es den weiteren Schulbesuch verweigert. Es erzählt Lügengeschichten, hält ein Pferd – nicht artgerecht – auf der Veranda und zwängt ein Äffchen in Kleidungsstücke. Das Mädchen ist so stark, dass es Erwachsene in die Luft wirft, zwei Polizisten in die Flucht schlägt und einen ausgewachsenen Hai aus dem Wasser hebt.

Der Fall ist eindeutig: Dem Vater ist sofort das Sorgerecht zu entziehen und das Mädchen in ein Kinderheim einzuweisen. Es benötigt eine intensive Verhaltenstherapie, Förderunterricht und eine Begleitperson beim Schulbesuch, damit es nicht schwänzen kann. Und über so ein Mädchen will jemand drei Kinderbücher schreiben? Das geht auf keinen Fall! So ein schlechtes Vorbild hätte bestimmt einen negativen Einfluss auf andere Kinder. Sollen die alle verhaltensauffällig werden und den Schulbesuch verweigern?

Nun, solche Bücher gibt es! Sie wurden von der berühmten schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren (1907-2002) verfasst und handeln von dem neunjährigen Mädchen Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf. Ihre Entstehungsgeschichte ist recht spannend: Als Astrid Lindgrens Tochter Karin im Herbst 1941 wegen einer Lungenentzündung das Bett hüten musste, erfand sie den Namen „Pippi Langstrumpf“ und bat ihre Mutter, ihr eine Geschichte über dieses Mädchen zu erzählen. Aus einer Erzählung  wurden viele, und als Astrid Lindgren sich am 28. März 1944 den Fuß verstauchte und zwei Wochen lang im Bett liegen bleiben musste, stenographierte sie die Geschichten. Den Text wollte sie ihrer Tochter zum Geburtstag schenken. Als er dann aber getippt vor ihr lag, entschloss sie sich, eine Kopie dem Verlag Bonnier anzubieten. Und da sie wusste, dass Pippi Langstrumpf in den Augen der Erwachsenen der damaligen Zeit ein „böses Kind“ und „schlechtes Vorbild“ war, schloss sie das Anschreiben mit den Worten: „...in der Hoffnung, dass Sie nicht das Jugendamt alarmieren!“

Der Verlag Bonnier lehnte das Manuskript ab, und erst als es 1945 den ersten Preis beim Kinderbuch-Wettbewerb des Verlages Rabén und Sjögren gewann, wurde es dort verlegt. Und natürlich gab es viel Kritik an dem Buch – von Eltern, Medien und sogar von Professoren wie John Landquist: „Kein normales Kind isst eine ganze Sahnetorte während eines Kaffeekränzchens auf, es läuft auch nicht barfuß auf ausgestreutem Zucker herum. Aber beides erinnert an die Fantasien einer Geisteskranken oder an krankhafte Zwangsvorstellungen.“ Und da Pippi Langstrumpf somit die Erfindung einer „Geisteskranken“ war, wundert es nicht, dass auch in Deutschland fünf Verlage das Manuskript ablehnten. Erst Friedrich Oettinger, der einen Freund in Stockholm besuchte und während dieses Aufenthalts Astrid Lindgren kennenlernte, schlug zu – und sein Verlag hat dies nicht bereut...

Kinder reagierten nämlich ganz anders auf die Geschichten über Pippi Langstrumpf als Erwachsene: Welches Kind fühlt sich nicht zumindest zeitweise von seinen Eltern gegängelt, bevormundet oder ungerecht bestraft und möchte dann nicht so frei und unabhängig wie Pippi Langstrumpf sein? Welches Kind langweilt sich nicht gelegentlich in der Schule, möchte keine Hausaufgaben machen oder ärgert sich über die Benotung einer Prüfungsarbeit und möchte dann am liebsten den Unterricht schwänzen? Und welches Kind fühlt sich nicht klein, schwach und durch stärkere Kinder unterdrückt und möchte dann nicht solche Bärenkräfte wie Pippi Langstrumpf haben?

So wurde dieses starke und wilde Mädchen für viele Kinder zu einer Identifikationsfigur: Es kommt alleine im Leben zurecht, stellt sich körperlichen Gefahren, ist frech und schlagfertig, hat viele Ideen und Einfälle, lehnt Regeln ab und widersetzt sich Autoritäten. Pippi Langstrumpf hat zudem einen starken Gerechtigkeitssinn und ein Herz für Schwache, liebt ihre Freunde und setzt sich für sie ein. Sie verkörpert vieles, was sich Kinder für ihr eigenes Leben wünschen.

Ein, zwei Jahrzehnte nach Erscheinen der Bücher von Astrid Lindgren begann die Emanzipationsbewegung der Frauen, und für viele von ihnen wurde Pippi Langstrumpf zum Vorbild eines mutigen, durchsetzungskräftigen, selbstständigen und unabhängigen Mädchens. Aber auch die Rolle von Kindern änderte sich: Ihnen wurden mehr Rechte gesprochen, sie mussten sich nicht länger ihren Eltern, Lehrern und anderen Erwachsenen unterordnen. Kinder sollten offen ihre Meinung sagen – wie Pippi Langstrumpf – und durften sich während der Phase der antiautoritären Erziehung sogar wie sie verhalten. Und in der heutigen verschulten und durchgetakteten Stadtkindheit werden Pippis Abenteuer wie das Klettern auf Bäume und Hausdächer, das Durchstreifen von Wäldern oder das Baden in Seen und haiverseuchten Südseegewässern zu einer Traumwelt, in die sich Kinder flüchten können.

So beurteilen Fachleute die Bücher von Astrid Lindgren heute ganz anders als in den Jahren nach ihrem Erscheinen. Beispielsweise sagte der Psychologieprofessor Herbert Scheithauer am 14. November 2007 im Deutschlandfunk: „In gewisser Weise ist Pippi Langstrumpf zeitlos, denn Pippi Langstrumpf behandelt ja das Einhalten von Regeln beziehungsweise gerade das nicht Einhalten von Regeln. Das ist etwas, was in der Entwicklung von Kindern in dem typischen Alter, wenn sie dann Pippi Langstrumpf lesen oder auf DVD sehen, von besonderer Bedeutung. Das heißt Pippi steht für eine Person, die vieles was sich Kinder in ihrer Fantasie wünschen einfach umsetzen kann. Sie hat eine gewisse Stärke und kann auch das Stärkeverhältnis Erwachsene-Kind sozusagen umdrehen. Gleichzeitig weist sie aber auch Schwächen auf wie zum Beispiel ihr Appetit oder ihre Unwissenheit in manchen Situationen. Das heißt die Kinder können sich einerseits mit Pippi Langstrumpf sehr gut identifizieren, aber andererseits können sie sich auch ein bisschen von ihr distanzieren. Letztlich ist es auch so, dass das Thema Freundschaft, hier die Freundschaft zu Tommy und Annika, berührt wird. Das heißt all diese Themen sind nach wie vor für Kinder heute in diesem Lebensalter von großer Bedeutung“.

Kein Wunder, dass die drei Bücher von Astrid Lindgren, die inzwischen in 77 Sprachen übersetzt und mehr als 66 Millionen Mal verkauft wurden, nicht nur zu mehrfach verfilmten Bestsellern wurden, sondern auch zu Longsellern: Am 21. Mai 2020, dem 86. Geburtstag von Lindgrens Tochter Karin, wurde Pippis 75. Jubiläum gefeiert. Anlässlich dieses Ereignisses hat der Verlag Friedrich Oetinger die drei Bücher über Pippi Langstrumpf in einem Band herausgegeben, der von Katrin Engelking mit Bildern voller Farben- und Lebensfreude illustriert wurde. Die Geschichten werden sicherlich noch weitere Generationen von Kindern begeistern!

Martin R. Textor