Uta Ottmüller
Kränken macht krank. Obwohl die umgangssprachliche Bezeichnung für das Abwerten und Beschämen unserer Mitmenschen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt, sind wir gewohnt, diese Wirkung als momentane Unannehmlichkeit zu verharmlosen, die man am besten ignoriert. Die "beleidigte Leberwurst" erntet zum (genauso verharmlosten) Leid den Spott. Die Mobbingforschung zeigt nun aber, dass wiederholte Kränkungen mit großer Wahrscheinlichkeit zu schweren und langanhaltenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen und bei Kindern darüber hinaus zu sozialen Fehlentwicklungen führen.
Was ist Mobbing?
Der Fachbegriff Mobbing wurde vor 50 Jahren von dem bekannten Verhaltensforscher Konrad Lorenz zur Beschreibung von Vogelschwärmen gebildet, die sich gegenüber Eindringlingen in ihr Nahrungsgebiet verteidigen. Es enthält das englische Wort mob, das aufgebrachte Menschenmenge oder Pöbel bedeutet, und kann mit Pöbeln übersetzt werden. Der deutsche zoologische Fachbegriff lautet übrigens schlicht hassen.
Allgemein bekannt wurde der Begriff Mobbing erst in den 1990er Jahren, nachdem ihn schwedische Ärzte auf wiederkehrende Feindseligkeiten zunächst unter Schulkindern und anschließend auch unter erwachsenen Arbeitskollegen angewendet haben. Sie erklärten damit sonst unerklärliche körperliche und seelische Leiden ihrer Patienten. Als Voraussetzung für solch fatale Wirksamkeit zeigte sich, dass mindestens einmal pro Woche und mindestens ein halbes Jahr lang ein vereinzeltes Opfer von mehreren deutlich überlegenen Tätern geärgert, beschämt und geängstigt wurde. Diese Einseitigkeit unterscheidet Mobbing von anderen Konflikten und rückt es in die Nähe von sozialer Ausgrenzung, von der es sich wiederum durch die Unausweichlichkeit der gemeinsamen Alltagssituationen unterscheidet. Als wichtiger Grund gilt die Konkurrenz um gefährdete Arbeitsplätze, aber es gibt Mobbing auch in anderen geschlossenen Gruppen wie unter Mietshausbewohnern oder in Krankenhausstationen. Dabei geht es nicht immer, wie bei den "mobbenden" Vögeln, um aktuelle wirtschaftliche (Überlebens-) Vorteile, sondern auch um die Weitergabe oder Abreaktion von - manchmal lange zurückliegenden - Kränkungen oder Beschämungen, die die Mobber selbst hinnehmen mussten.
Mobbing am Arbeitsplatz erregte nicht zuletzt deshalb große öffentliche, auch politische Aufmerksamkeit, weil die volkswirtschaftlichen Kosten für die so entstandene Arbeitsunfähigkeit und notwendige Behandlungen auf jährliche Milliardenbeträge geschätzt wurden (Jacobshagen 2004). Aus gewöhnlichen Gemeinheiten oder sogar - aus Mobbersicht - wohlverdienten Demütigungen waren auf diese Weise öffentlich missbilligte Schädigungen geworden, die unter Umständen strafrechtliche Ahndung riskierten und eine Fülle von Beratungs- und Hilfsangeboten auf den Plan riefen.
Die Mobbenden und ihre Alltagshelfer verteidigen sich laut SPIEGEL wiederum gerne mit der "Ufo-Strategie": Wer behauptet, eins gesehen zu haben, wird lächerlich gemacht. Umgekehrt kann nicht ausgeschlossen werden, dass selbsternannte Opfer den Modebegriff Mobbing nutzen, um eigene Konfliktanteile zu verschleiern.
Mobbing unter Kindern
Inzwischen erregt auch Mobbing an Schulen zunehmendes Aufsehen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit "Cybermobbing", mit Schülerselbstmorden und sogar als Vorgeschichte von Amokläufen. Nach Mechthild Schäfer, Mobbing-Expertin an der Universität München, liegt die Zahl der schwerwiegend gemobbten Schulkinder in Deutschland bei ca. 4% bzw. einer halben Million.1)
Kinder sind aufgrund ihrer größeren Abhängigkeit verletzlicher als Erwachsene und deshalb auch Beschämung und Einschüchterung oft noch hilfloser ausgesetzt als diese. Dies gilt sowohl für die häusliche Umgebung als auch für Kindergarten und Schule. Letztere bieten den zu Hause meist unterlegenen Kindern die Möglichkeit, sich selbst als überlegen zu profilieren. Typisch ist dann eine mehrphasige asymmetrische Entwicklung, in der die "Mobber" zunehmend an Beliebtheit gewinnen, während ihre Opfer sich immer schlechter fühlen und in der Gruppe immer weniger Unterstützung finden. Ihr Vitalitätsverlust ist der stärkste Hinweis auf ein Mobbinggeschehen.
Die Schweizer Entwicklungspsychologin und internationale Mobbingexpertin Françoise D. Alsaker sieht im Mobbing unter Kindern darüber hinaus eine ernstzunehmende Vorform von Jugendgewalt und Erwachsenenkriminalität, die möglichst frühzeitig unterbunden werden sollte. In der Hoffnung, damit die Gewalt in der Gesellschaft insgesamt zu verringern, appelliert sie an den Mut der Lehrpersonen, nicht länger wegzuschauen, sondern sachkundig einzugreifen - die dazu nötigen Kenntnisse sollten u.a. Bestandteil der Erzieher/innenausbildung werden. In der von ihr mitiniitierten "Kandersteg Declaration Against Bullying in Children and Youth"2) wird von einer internationalen Expertengruppe zur weltweiten Bekämpfung von Mobbing unter Kindern aufgerufen.
Mobbing hat negative Folgen für alle Beteiligten. Im Gruppen- oder Klassenverband ist jedes Kind, auch die eher passiven "Zeugen" oder Zuschauer, in die Gewalt gegen die isolierten Opferkinder einbezogen, auch wenn sie nur aus der Angst heraus, selbst gemobbt zu werden, schweigen. Wenn Erwachsene nicht eingreifen, erleben alle Kinder, dass es normal ist, Schwächere zu beschämen und auszugrenzen.
Die Mobberkinder selbst, die sich durch oft überdurchschnittliche Intelligenz, aber einen Mangel an Mitgefühl auszeichnen, werden durch das lustvolle Machtgefühl, das ihnen das Mobbing verschafft, daran gehindert, im gruppengestützten Reifungsprozess Mitgefühl zu entwickeln. Dieser Mangel kann ihnen später, wenn er nicht direkt in eine Gewaltkarriere führt, als Beeinträchtigung ihrer Teamfähigkeit im Berufsleben schaden. Bei der Partnerschafts- und Familiengestaltung beeinträchtigt er die Bindungs- und Liebesfähigkeit und begünstigt so die emotionale Isolation.
Am meisten leiden die Opferkinder, die kaum Gemeinsamkeiten aufweisen, außer dass viele von ihnen beispielsweise besonders groß, besonders dick, besonders ängstlich oder besonders klug sind. Deutlich überrepräsentiert sind unter den Mobbingopfern allerdings die Kinder aus Migrantenfamilien. Bei allen Opfern untergraben Hänseleien, abfällige Gesten, Nicht-Mitspielenlassen und andere Kränkungen bis hin zum Wegnehmen und Zerstören von Gegenständen und zur Anwendung von körperlicher Gewalt das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, was sich in der Regel sehr rasch in häufigem Weinen, Selbstisolierung, Kopf- oder Bauchweh und in einer hoffnungslosen Körpersprache, oft auch in Bettnässen oder Schlaflosigkeit ausdrückt.
Eine amerikanische Langzeitstudie3) zeigte, dass Kinder, die in der Schule mobbten oder Mobbingopfer waren, noch im Alter von 25 Jahren im Vergleich zu anderen deutlich vermehrt an Depressionen, Angststörungen und Selbstmordneigungen litten. Die schlimmsten Folgen zeigten sich bei denjenigen, die beide Seiten erlebten, also sowohl gemobbt wurden, als auch andere quälten.
Bei allen am Mobbing beteiligten Kindern lässt die frühe Gewöhnung an soziale Ausgrenzung befürchten, dass sie den sozialen Anforderungen der Globalisierung nur unzureichend gewachsen sein werden und stattdessen zur Gefahr für das friedliche Zusammenleben werden. Deshalb und weil jedes Kind ein Recht auf Schutz und ungestörte Entwicklung hat, ist es die Aufgabe von Schulen und Kindertagesstätten, Mobbing in ihrem Verantwortungsbereich weitestgehend zu verhindern.
In den Schulen wird man sich der Problematik zunehmend bewusst, und es werden eine Reihe von Anti-Mobbingprogrammen angeboten. Wegweisend wurde das Programm des schwedischen Pädagogen Dan Olweus, unter dessen Leitung sich auch Alsaker in die Mobbingforschung einarbeitete. Es fordert die Lehrer/innen zur Früherkennung durch Beobachtung und Befragung der Kinder auf sowie zur Zusammenarbeit mit allen die Klasse unterrichtenden Kolleg/innen und zum Einbezug der Eltern. Vor allem setzt Olweus darauf, die Kinder in Klassengesprächen über die Verlaufsformen und Folgen des Mobbing aufzuklären und mit der vertraglichen Vereinbarung von unterstützenden Verhaltensregeln an ihr Verantwortungsgefühl zu appellieren. Daneben werden atmosphärische Verbesserungen wie gemeinsame Unternehmungen und die Verschönerung der Pausenumgebung empfohlen. Dan Olweus wie auch die englischsprachige Literatur benutzen für das Mobbing unter Schüler/innen allerdings nicht den strafrechtlich konnotierten Begriff des Mobbing, sondern bullying, was auch tyrannisieren, piesacken, schlagen, quälen, plagen oder nötigen heißt. Diese deutliche Unterscheidung zwischen dem Handeln von Erwachsenen und von Kindern dürfte insbesondere die Verständigung mit und unter den Eltern der beteiligten Kinder erleichtern.
Bei gelingender Anwendung von Anti-Mobbingprogrammen (siehe auch Taglieber/ Walter 2005: Berliner Anti-Mobbing-Fibel) können "Mobbingopfer" wirksam geschützt und das Klassenklima deutlich verbessert werden. Dies ist jedoch keinesfalls die Regel, denn oft fehlt es überlasteten Lehrenden an Zeit, Mut oder Fachwissen für ein erfolgreiches Eingreifen. Eine wesentliche Rolle scheint auch das Ausmaß ihrer Authentizität und Glaubwürdigkeit zu spielen, die für die Kinder Verlässlichkeit bedeutet und von diesen oft als ungenügend eingeschätzt wird. Fehlgeschlagene Interventionsversuche können jedenfalls zur Verschärfung des Problems führen, indem beispielsweise dem verfolgten Kind nun auch noch "Petzen" vorgeworfen wird. Dass auf deutschen Schulhöfen inzwischen "Du Opfer" als Schimpfwort kursiert, lässt sich unter anderem in diesem Sinne verstehen. Solche Verhärtungen sprechen für eine möglichst frühzeitige Mobbingprävention.
Mobbing in Kindergärten
Aber gibt es Mobbing wirklich bereits in Kindergärten? Die Münchener Fachberaterin für Gewaltprävention in städtischen Kindergärten Melitta Walter berichtet, dass die dort üblichen Streitereien meist gar nicht lange genug dauern, um die Form von Mobbing anzunehmen, und bezweifelt, dass "Vier- oder Fünfjährige zu derart systematischen Handlungen überhaupt fähig sind" (Tillmann o.J.).
Françoise Alsaker kommt dagegen aufgrund ihrer fragebogen- und interviewgestützten Studien an 70 Schweizer Kindergärten zu dem Ergebnis, dass Mobbing, das sie auch Quälen oder Plagen nennt, unter den hier betreuten Kindern kaum weniger anzutreffen ist als in der Schule (Alsaker 2004, S. 61 ff., und 2012, S. 70 f.).
Diese unterschiedliche Einschätzung erklärt sich u.a. dadurch, dass die Schweizer Studien nur die 5- bis 7-jährigen Kinder des Schweizer "Kindergartenobligatoriums" berücksichtigen, das der Vorschule entspricht. Da Alsaker diese in Deutschland unübliche Einschränkung nur punktuell (Alsaker 2004, S. 57, und 2012, S. 71) und nicht im Zusammenhang ihrer allgemeinen Schlussfolgerungen und Aufforderungen erwähnt, könnten letztere zumindest im Umgang mit kleineren Kindern zu altersgemäß verfrühtem und womöglich kontraproduktivem pädagogischem Eingreifen führen.
Außerdem zählt Alsaker zu den Mobbingbetroffenen einen beträchtlichen Anteil an aggressiven Kindern, die entweder wegen ihrer unbeherrschten Aggressivität gemobbt werden oder sowohl mobben als auch selbst gemobbt werden (Alsaker 2004, S. 64). Selbst wenn es sicher richtig ist, dass diese Kinder leiden und vermehrte pädagogische Aufmerksamkeit benötigen, fehlt hier das Kriterium der Einseitigkeit, das den Mobbingbegriff ursprünglich prägte. Wie immer man jedoch im Einzelnen zu dieser Begrifflichkeit und den angewandten Messmethoden steht - die nach außen hin anonymisierte persönliche Befragung hat ein besorgniserregendes Ausmaß an kränkenden Verhaltensmustern sichtbar gemacht, die zuvor meist verschwiegen wurden. Da typischerweise ältere Kinder jüngere mobben, können auch kleinere Kinder passiv betroffen sein.
In diesem Zusammenhang entstand das wissenschaftlich begleitete Berner Präventionsprogramms Be-Prox. In diesem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten, wissenschaftlich begleiteten Projekt wurden die Kindergärtner/innen in mehrtägigen Fortbildungen in die Thematik eingewiesen und zur Durchführung von Interviews wie auch der pädagogischen Maßnahmen qualifiziert. Auch die Eltern wurden erfolgreich um Mithilfe gebeten. Nach Abschluss des mehrmonatigen Präventionskurses konnte bei den Kindern ein deutlicher Rückgang von Mobbingvorfällen und ein Anstieg gegenseitiger Hilfsbereitschaft dokumentiert werden. Die Kindergärtner/innen bemerkten für sich einen deutlichen Zuwachs an Sicherheit, wann und wie sie eingreifen sollten.
Die im Internet verfügbare Broschüre "Mobbing im Kindergarten. Beschimpft, geplagt und ausgelacht"4) gibt dazu eine mit ansprechenden Comics versehene Übersicht, die auch als Einstieg für Team- und Elterngespräche geeignet erscheint. In ihrem wissenschaftlich anspruchsvolleren Buch "Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule" liefert Alsaker (2012) dazu umfangreiches Hintergrundwissen und wertvolle Hinweise für die Praxis. Allerdings wurde Be-Prox darin auf Schulklassen ausgeweitet, und die pädagogischen Empfehlungen sind oft wenig altersgemäß differenziert. Für die Arbeit in hiesigen Kindertagesstätten mit altersgemischter und offener Arbeit sind sie auch strukturell teilweise ungeeignet oder nur mit besonderer Vorsicht anwendbar.
Ohnehin verringert die Öffnung der Gruppenstruktur in Kindertagesstätten das Kriterium der Unausweichlichkeit, das als Voraussetzung für Mobbing in allen Altersstufen und Organisationsformen gilt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die einzelnen Teilaktivitäten des Mobbing, wie Beschämen, Bedrohen, Auslachen, Ausschließen und Sachbeschädigungen, hier nicht bereits verbreitet sein können (Eine entsprechende Forschung liegt meines Wissens bislang nicht vor). Die konsequente, gleichwohl das Kind selbst nicht abwertende Missbilligung dieser Abwertungen mit einem klaren "Das wollen wir hier nicht sehen (oder hören)" ist sicherlich eine wertvolle Mobbingvorbeugung für die spätere Schulzeit der Kinder. Um dabei auf für die Kinder glaubwürdige Weise freundlich bleiben zu können, können interaktive Fortbildungen wie beispielsweise in gewaltfreier Kommunikation (GfK) nach Marshall Rosenberg (2012) hilfreich sein.
Ausschließlich für die Arbeit in Kindertagesstätten geschrieben wurde "Schikanen unter Kindern" von Andrea Erkert (2005), das sich ebenfalls an Olweus orientiert und nicht nur ein solides Grundwissen zur Früherkennung und Bearbeitung möglicher Mobbingfälle unter älteren Kindern praxisnah zusammenstellt, sondern auch eine reiche Auswahl an "Hilfen für die ganze Gruppe" in Form von Spielen und Übungen zum spielerischen Einüben von Grenzsetzungen, Fairnessregeln und Wertschätzung anbietet. Diese sollen den "Schikanen" auf der aktiven wie auf der passiven Seite den Boden entziehen. Ob sich Schikane allerdings als pädagogischer Fachbegriff durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.
Für die Früherkennung solcher systematischen Kränkungen ist es wichtig zu bedenken, dass diese sowohl hinter dem Rücken als auch vor den Augen der Erzieher/innen stattfinden können. Letzteres wird besonders deshalb möglich, weil sich die einzelnen Angriffe oft nur schwer von den alterstypischen Balgereien und Streitigkeiten unterscheiden lassen, in denen die Kinder mit wechselndem Erfolg ihre Kräfte messen und im gemeinsamen Entwickeln von Fairnessregeln unverzichtbare soziale Lernprozesse durchlaufen. Hier einzugreifen würde nur stören. Gute Unterscheidungsmerkmale zu "Schikanen" sind der Gesichtsausdruck der beteiligten Kinder, der beim Kräftemessen meist fröhlich und entspannt bleibt und die Verfügbarkeit von Signalen wie "stop" oder "hör auf"!
Besonders schwierig ist nach Alsaker, wie auch Erkert zufolge, das Erkennen der unter Jungen recht häufig vertretenen "aggressiven Opfer", deren Angriffs- und Zerstörungswut die ihrer - meist verbal stärkeren - Mobber oft sogar übertrifft. Deshalb ernten aggressive Opfer meist auch noch den Ärger und die Zurechtweisung durch die Erzieherin, während die schlaueren Mobberkinder in der Gruppenwahrnehmung an Autorität gewinnen. Da letztere meist bereits über beachtliche Umdeutungs- und Verstellungskünste verfügen, ist es für Erzieher/innen oft sehr schwer, einem aggressiven Opferkind zu Hilfe zu kommen. Auch könnten die negativen Folgen einer irrtümlichen Täter-Opfer-Zuordnung beträchtlich sein. Im Zweifel ist hier die Hinzuziehung der Kolleg/innen und der Kita-Leitung sowie gegebenenfalls psychologischer Fachberatung dringend empfohlen.
Im Umgang mit jüngeren Kindern empfiehlt sich eine deutliche Schwerpunktverlagerung der Präventionsbemühungen von der Früherkennung und sprachlichen Problematisierung hin zu den von Erkert in vielen praktischen Beispielen beschriebenen altersgemäßen Spielen und Übungen zum Umgang mit Grenzen und Stärkung des Selbstwertgefühls. Zu dieser Art der "Vorbeugung" sind Kindergärten im Sinne der in Deutschland üblichen, schulunabhängigen und meist kindzentrierten Frühpädagogik sogar besonders geeignet, weil sie nicht, wie die Schulen, vorrangig zur außengeleiteten Wissensvermittlung eingerichtet sind. Auch befindet sich die menschliche Aggressionsentwicklung im Alter von ca. fünf Jahren auf ihrem Höhepunkt und nimmt danach - trotz kräfte- und kenntnisbedingt zunehmender Wirksamkeit der Aggression - beständig ab, so dass die interaktiven Erfahrungen im Kindergarten als grundlegende Weichenstellung im Umgang mit Aggressionen gewertet werden können.
Reflexives Modellverhalten der Erzieher/innen
Ein wichtiger Faktor für das Gelingen aller Präventionsbemühungen ist die selbstreflexive Achtsamkeit der Erzieher/innen im Umgang mit den Gefühlen der Kinder, wie auch mit ihren eigenen. Dies ist nicht primär eine Frage des guten Willens und auch nicht von Bücherwissen oder Examensnoten. Meist erfordert es die Bereitschaft zur Konfrontation mit der eigenen Lebensgeschichte, die auch eine Geschichte von Beschämung und Beschämbarkeit sein kann.
"Schäm Dich!" Noch vor wenigen Jahrzehnten galt diese Aufforderung als legitimes Erziehungsmittel, von dem man u.a. glaubte, es könne aufsässige Kinder zur Vernunft bringen. Heute zeigen Neurobiologen, dass Beschämung das Gegenteil bewirkt: nämlich ein temporäres Aussetzen oder die dauerhafte Beeinträchtigung von denjenigen Hirnregionen, die für überlegtes Handeln und höhere Lernprozesse zuständig sind. Dieses Wissen ist allerdings noch wenig bekannt. Um emotionale Störungen zu verstehen, hat sich die psychologische Forschung lange auf unbewusste Schuldgefühle konzentriert und Scham als oberflächliches und vergleichsweise ungefährliches Gefühl gewertet. Heute sieht man das anders. Während Schuldgefühle von der Angst vor Strafe geleitet werden, die zugleich Vergebung in Aussicht stellt, wird Scham von der Angst vor sozialer Ausstoßung und physischer Vernichtung angetrieben ("Ich verdiene es nicht, zu leben").
Episoden gesunder Scham - etwa bei zufälliger Entblößung, missglückten Leistungen oder peinlichen Versprechern - können in der Tat zum Lernanlass werden, in Zukunft besser acht zu geben. Während solche Schreckensmomente in gesunden Beziehungsgefügen rasch vergehen und durch positive Rückmeldungen ausgeglichen werden, werden sie in stark schambelasteten Gruppierungen durch fremdmotivierte Beschämung und Demütigung bis zur Unerträglichkeit verstärkt. Auch die gewohnheitsmäßige Abwertung von ethnisch definierten "sozialen Minderheiten" durch die einheimische Mehrheit kann eine ähnliche Rolle spielen. Schließlich kann verstetigte Scham bereits im zweiten Lebensjahr im Zusammenhang mit Windelwechsel und Reinlichkeitserziehung entstanden sein. Bei allen dauerhaft oder übermäßig Beschämten entsteht eine Art psychischer Bodensatz, der ständig zum Abruf bereit steht und die negativen Urteile anderer gleichsam vorwegnimmt.
Darüber hinaus ist Scham ein selbstverbergendes Gefühl, das durch Gewohnheitsbildung weitgehend aus dem Bewusstsein verschwindet. Wir vermeiden vieles, ohne nachzudenken, weil wir uns sonst schämen müssten. Manche kleine und große Menschen wagen es nicht, zu singen oder zu tanzen, weil sie fürchten, verspottet zu werden. Wenn wir dennoch in eine beschämende Situation geraten, in der wir beispielsweise eigene oder fremde Leistungsansprüche nicht erfüllen können, greift unser Gehirn unbewusst in die Trickkiste der Abwehrmechanismen und findet jemand, der noch unwürdiger ist als wir selbst. Wenn ein anderer beschämt wird, sind wir selbst entlastet (vgl. Marks 2005, 2007).
Ein schwer einschätzbarer, aber sicherlich beträchtlicher Anteil der heutigen Erwachsenen sind in der einen oder anderen Weise schambelastet aufgewachsen. Erzieher/innen scheinen dabei keine Ausnahme zu sein. Auch wenn die meisten von ihnen Erziehungstheorien im Kopf haben, die auf Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl abzielen, können ihre unbewussten Ausdrucksweisen, wie Tonfall, Körpersprache und sogar die Wortwahl, weiterhin Beschämung als Mittel zur Herstellung einer oberflächlichen Ordnung einsetzen. Dies kann besonders in Stresssituationen geschehen, wie sie beispielsweise durch Zeitknappheit, Personalengpässe oder auch private Belastungen entstehen. Je weniger diese Belastungen als solche wahrgenommenen und zum Abbau von Selbstüberforderung berücksichtigt werden können, desto ungenügender erscheint die eigene Leistung. Wenn auch die Scham über diese Unzulänglichkeit aufgrund von unbearbeiteten Beschämungserfahrungen nicht wahrgenommenen werden kann, sucht sie sich Abhilfe in der Beschämung Schwächerer, also meist der Kinder, manchmal auch einer Kollegin oder eines Elternteils. Alle diese Beschämungen haben für Kinder Modellcharakter und können im Mobbingverhalten kopiert werden.
Den Erzieher/innen können hier selbsterfahrungs- und biografieorientierte Fortbildungen, gegebenenfalls auch Psychotherapien weiterhelfen. Die letztere Möglichkeit sollte dabei - auch im Kollegengespräch - nicht als Behebung eines peinlichen Makels, sondern als Chance zu einem persönlichen Wachstum begriffen werden, das nicht nur der beruflichen Qualifikation dienlich ist, sondern auch der persönlichen Lebensqualität und Gesundheit. Eine einfache Sofortmassnahme gegen Stress sind übrigens ein paar ruhige und bewusste Atemzüge. Im Bedarfsfall daran zu denken, kann man üben, als Erwachsene(r) wie als Kind.
Durchschnittlich rund ein Viertel der Kinder sind in ihrer häuslichen Umgebung als Zuschauer oder Adressat mit wiederkehrender Beschämung, Gewalt oder sexuellem Missbrauch konfrontiert. Sie alle unterliegen einem erhöhten Risiko, "nichts anderes zu kennen", und sich in der Kindergruppe als "Mobber" oder "Gemobbte" zu positionieren. Eine Erzieherin, die im Einklang mit sich selbst handelt und sich ihrer Fähigkeiten und Grenzen sicher ist, bietet den ihr anvertrauten Kindern dagegen das Modell einer wertschätzenden Verständigung und ein einfühlsames Gegenüber, dem die Kinder notfalls ihr Herz ausschütten können. Sie beweist damit, dass ein Alltag ohne dauerhafte Beschämung möglich und die bessere Alternative ist.
Zusammenfassung
Mobbing ist ein gruppenunterstütztes Verhaltensmuster, das bei Erwachsenen und Kindern großen individuellen und gesellschaftlichen Schaden anrichtet. Mit der Erforschung des Problems gehen Bemühungen um seine Verhinderung oder Eindämmung einher. Bei Kindern ist Prävention und Schutz vor Mobbing aufgrund der Kindesrechte auf gesunde Entwicklung dringend geboten. Während Prävention im Schulalter stark auf Kontrolle, Verbote und Schutzverpflichtungen der Mitschüler setzt, stehen im Kindergarten gruppenunterstützte soziale Lernprozesse im Vordergrund, und der achtsame Umgang mit Scham und Beschämung könnte möglichen Mobbingimpulsen gleichsam die Antriebskraft entziehen. Diese Art der Mobbingprävention erfordert von den Erzieher/innen oftmals die Bereitschaft zur reflexiven Bearbeitung ihrer eigenen Schamgeschichte.
Anmerkungen
- siehe den Artikel "500.000 Mobbing-Opfer an Deutschlands Schulen" in Süddeutsche.de vom 17.05.2010 (http://www.sueddeutsche.de/karriere/studie-mobbing-opfer-an-deutschlands-schulen-1.547615)
- http://www.esdp.info/Kandersteg-Declaration-Against.376.0.html
- siehe den Artikel "Mobbing mit Langzeitfolgen: Die seelischen Wunden der Schulzeit" in SPIEGEL ONLINE vom 22.02.2013 (http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/mobbing-betroffene-leiden-noch-jahre-spaeter-an-psychischen-folgen-a-884981.html)
- Mobbing im Kindergarten. Beschimpft, geplagt und ausgelacht. Nationales Forschungsprogramm. NFP 52, Projektleitung Alsaker, Françoise D. u.a. Bern, o.J., 20 S. (http://www.kik-verband.ch/wzk/gefuehle/Mobbing%20im%20Kindergarten%20-%20Januar%202006.pdf)
Literatur
Alsaker, Françoise D.: Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule. Bern 2012
Alsaker, Françoise D.: Quälgeister und ihre Opfer: Mobbing unter Kindern - und wie man damit umgeht. Bern, Neudr. 2004
Erkert, Andrea: Schikanen unter Kindern. Erkennen, benennen, eindämmen und vorbeugen. Freiburg 2005
Jacobshagen, Nicola: Mobbing - ein langer, zermürbender Prozess. Schweiz Med Forum 2004, 4, S.873-878 (http://www.medicalforum.ch/pdf/pdf_d/2004/2004-35/2004-35-552.PDF)
Marks, Stephan: Von der Beschämung zur Anerkennung. bildung & wissenschaft 2005, Oktober, S. 6-13 (https://www.ph-freiburg.de/fileadmin/dateien/fakultaet3/sozialwissenschaft/Marks/B___W_Artikel.pdf)
Marks, Stephan: Scham - die tabuisierte Emotion. Düsseldorf 2007
Rosenberg, Marshall: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Paderborn 2012
Schopf, Sylvia: Mit dem spielen wir nicht! (Bilderbuch für Kinder) München 2009
Taglieber, Walter: Berliner Anti-Mobbing-Fibel. Berlin 2005 (Herausgeber: Berliner Landesinstitut für Schule und Medien (LISUM), http://www.lisum.de)
Tillmann, Natascha: Mobbing im Sandkasten. o.J. (http://www.eltern.de/kindergarten/erziehung/mobbing-im-kindergarten.html?page=3)
Autorin
Dr. Uta Ottmüller, Psychohistorikerin, Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin. Freie Autorin und Dozentin u.a. an der Freien Universität Berlin und am Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg (SFBB). Biografisch orientierte Fortbildungen für Erzieher/innen auf Anfrage.
E-Mail: uottmueller@gmail.com
Homepage:
http://www.Uta-Ottmueller.de