Barbara Perras-Emmer
Authentizität bezeichnet die Echtheit von Gesprächs- und Sozialpartnern.
Diese Echtheit ist eine deutlichere und bejahende Wahrnehmung der eigenen Innenwelt und eine geringere Besorgtheit um die Selbstdarstellung (Schulz von Thun 1981, S. 123). Sie ist nicht einfach trainierbar und durch konkrete Anleitung erlernbar, sondern erfordert die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen um mich herum und mit den Verhältnissen in mir als Individuum. Zu erfahren "Wer bin ich?" bedeutet, sich selbst und anderen nichts vorzumachen. Wer nicht weiß, was mit ihm los ist, wie ihm innerlich zumute ist, kann sich nach außen hin auch nicht so geben. Das Selbstbild beinhaltet das Wissen über sich selbst - das Selbstwertgefühl gibt die Zufriedenheit über die wahrgenommenen Merkmale an. Beide zusammen ergeben das Selbstkonzept. Es wird sowohl durch eigene Interpretationen als durch Rückmeldungen der Umwelt gebildet (Zimmer 1999, S. 53).
"Erziehung ist vor allem Kommunikation zwischen den Zeilen." (Schulz von Thun 1981, S. 189)
Gefühlserziehung kann nur unter geeigneten Voraussetzungen erfolgen. Lernprinzipien wie Anleitung geben, Vorbilder betrachten, Üben und Erfolgsrückmeldung lassen uns leicht übersehen, dass zwischenmenschliches Verhalten nur dann sinnvoll ist, wenn die Außen- und Innenseite eines Verhaltens übereinstimmen. Gefühlserziehung ist zwar möglich, jedoch lässt sich ein idealer innerer Zustand nicht erzwingen. Wir laufen Gefahr, eine konzeptgemäße Verpackung einzuüben, ohne die seelische Seite des Geschehens, die entsprechenden Gefühle und die innere Einstellung, genügend zu berücksichtigen. Aufgrund der Beziehungsabhängigkeit von Verhalten und den auferlegten gesellschaftlichen Rollenvorschriften müssen die vorgegebenen Rahmenbedingungen genau unter die Lupe genommen werden.
Selbsterfahrung und Selbstakzeptierung haben der Einübung eines neuen Verhaltens voraus- oder zumindest mit ihr einherzugehen." (Schulz von Thun 1981, S. 166)
Klarheit bezeichnet eine Lebenseinstellung, bei der ein Mensch sich selbst und anderen nichts vormacht und im Einklang mit seiner Spiritualität lebt (Wilson Schaef 2000a, S. 35). Klarheit über das, was ich fühle, was ich davon bewusst erlebe und was ich davon nach außen mitteile ist die Basis für echtes, meinem persönlichen Empfinden entsprechendes Verhalten. Damit ermögliche ich meinem Sozialpartner und mir für beide Seiten wichtige Reaktionen:
- Er weiß, was ich meine und woran er ist
- Er kann wirklich intensiv zuhören, weil er sich seinerseits nicht möglichst positiv darstellen muss.
- Ich fühle mich verstanden, weil ich aufgrund des entgegenbrachten Interesses positive Wertschätzung erlebe.
- Die positiven Gesprächsmerkmale verstärken sich gegenseitig.
Selbstwertgefühl führt zu seelischer Gesundheit und lebendigem Austausch. Es ist die zweite Voraussetzung für Echtheit. Minderwertigkeitsgefühle und vermehrtes Geltungsstreben führen über deren Kompensation zu Störungen der offenen Kommunikation und Kooperation. Der Einzelne muss sich mit sich selbst aussöhnen, sich akzeptieren und Fehler als Lernchancen nicht als Schande ansehen um mit dieser erworbenen seelischen Gesundheit kommunikationsfähig zu werden und in einen lebendigen Austausch mit seinen Mitmenschen gelangen zu können.
Fehler sind Lernchancen, lebendige Gefühle fördern die seelische Gesundheit und zwischenmenschliche Beziehungen. Menschen mit direktem Zugang zu ihren Gefühlen müssen nicht darüber nachdenken, was sie fühlen. Sie machen sich selbst nichts vor, können zwar nicht immer ihre Ruhe bewahren, erhalten sich dafür aber ihre Lebendigkeit. Neben seelischer Gesundheit haben sie meist tiefergehende zwischenmenschliche Beziehungen.
Haben (Schein) oder Sein? Aktivität anstelle von Konsum und Gefühle statt Besitz
In unserer Gesellschaft, die Haben in Form von Besitz, purer Geschäftigkeit und Betriebsamkeit, Selbstsucht und unbegrenzten Konsum, ein Maximum an Lust, Selbstsucht und Habgier als erstrebenswert vermittelt, ist es schwer nur zu "Sein". Es bedeutet die Möglichkeit eines erfüllten, nicht entfremdeten Lebens: Unabhängigkeit, Freiheit und kritische Vernunft. Der Mensch kommt zu sich, entfaltet eine innere Aktivität, setzt seine menschlichen Fähigkeiten wirklich produktiv ein. Diesem Menschen gilt Besitz nichts, Liebe jedoch alles ... (Fromm 1999). "Erst ist das Sein, dann das Handeln und Mit-einem-gehandelt-werden. Zu Anfang jedoch ist das Sein." (Winnicott 1995, S. 99)
Ein starres Selbstkonzept ist der größte Verhinderer einer Gefühlswahrnehmung. Ungeliebte Teile unseres Ichs wie Angst, Schwäche, Wut usw., die von der eigenen Persönlichkeit abgespalten wurden, und verleugnete Erfahrungen können nicht nur zu psychosomatischen und psychischen Krankheiten (z. B. Muskelverspannungen oder Neurosen) führen, sondern auch zu Unmenschlichkeit gegenüber uns selbst und anderen (Sucht und Gewalt). An uns selbst verleugnete Eigenschaften sehen wir dann vermehrt im anderen (Projektion) und sind dann fanatisch bemüht, sie dort zu bekämpfen. Erst die schrittweise Aussöhnung mit uns selbst lässt uns das Verlorene wieder spüren und als einen Teil unserer Persönlichkeit akzeptieren (Miller 1983a).
Co-Abhängigkeit - ein emotionaler und psychischer verhaltensmäßiger Zustand. Er entsteht, wenn ein Mensch längere Zeit starren Regeln, die seine Gefühle unterdrücken und offene Kommunikation verhindern, ausgesetzt ist und befolgt. "Sucht ist alles, was wir uns und anderen nicht eingestehen wollen." (Wilson Schaef 2000a, S. 32)
Eingefahrene Regeln in Familien lauten:
- über Probleme spricht man nicht
- seine Gefühle zeigt man nicht
- Kommunikation findet am besten indirekt statt
- sei stark, sei selbstlos
- mach uns keine Schande usw.
Diese Regeln zeigen ich-ferne und selbstverbergende Sprache in Man-Sätzen und Appellen. Ich teile nichts persönliches, etwas von mir und aus mir mit, sondern lediglich Allgemeines, das die gesamte Menschheit betrifft. Ich-Botschaften teilen Persönliches mit und erfordern einen unerschrockenen Blick nach innen. Sind sich Eltern der destruktiven Art von (Du-)Botschaften bewusst, fällt es ihnen leichter, effektivere Arten der Konfrontation mit Kindern zu lernen.
"Du störst immer, spiel alleine!" ist eine herabsetzende Verallgemeinerung. Besser: "Ich bin müde und habe deshalb jetzt keine Lust mit dir zu spielen."
Ich-Botschaften zu senden erfordert Mut. Der Sender offenbart seine inneren Empfindungen und läuft Gefahr, dass der Andere ihn kennenlernt, wie er wirklich ist. Manchen Eltern fällt es schwer, eigene Unzulänglichkeiten zuzugeben und verstecken sich deshalb lieber hinter Du-Botschaften (Gordon 1997, S. 133). Aufrichtigkeit und Offenheit begünstigen Vertrautheit. Eine authentische Beziehung: zwei Menschen sind gewillt, einander in ihrer Echtheit zu kennen (Gordon 1997, S. 134).
Die Wirkung von Ich-Botschaften:
- Kinder werden zugänglich und verantwortungsbewusst, wenn ihnen ehrlich und ohne Umschweife gesagt wird, wie andere empfinden.
- Das Kind fühlt sich vollwertig und respektiert, wenn ihm nicht vorgeschrieben wird, was es zu tun hat.
- Es versucht eigene, für sich stimmige Lösungen zu finden, wenn ihm die Möglichkeit dazu gegeben wird.
- Das Kind wird ermutigt und lernt das auszudrücken, was es empfindet und erreicht mehr Verständnis durch die Umwelt.
- Beide Seiten sind zugänglicher für Veränderungen.
Stimmigkeit bezeichnet die Übereinstimmung mit der Wahrheit der Gesamtsituation. Persönlicher Ausdruck der eigenen Befindlichkeit ist wichtiger als die Wirkung auf andere. Gefühle, Körpersignale und Träume sind Botschaften, die uns weiterführen auf unserem Lebenskurs hin zum Sinn unseres Lebens. Sie verdienen weit mehr Beachtung als vernünftige Überlegungen. Wenn die Wirkung meines Handelns mehr zählt als mein persönlicher Ausdruck, meine Lebendigkeit und mein Glück ist meine Stimmigkeit gefährdet. Sie wertet die Meinung der anderen über mich höher als meine Gefühle, meine Aktivität, mein Lebensziel. Ganz bei der Sache sein oder: die gesamte innere Energie steht zur Verfügung. Ist dies nicht der Fall, so entseht halbherziges Beisammensein mit Belang- und Kontaktlosigkeit und damit ein Stück ungelebtes Leben (siehe auch: Ausbildung von Abwehrgrenzen)
Erziehungsmethoden bringen Kinder dazu, den Kontakt zu ihren Gefühlen zu verlieren. Ihnen wird verboten, zu fühlen, was sie fühlen. Sie lernen ihre Gefühle nicht auszudrücken um in den Augen Erwachsener taktvoll und nett zu sein. Aber auch positive Gefühle wie Freude und Glück scheinen "verdächtig". Gefühle stören, sie äußern heißt: Probleme haben. Gefühle sind jedoch eine wichtige Informationsquelle dafür, wie wir uns und die Welt wahrnehmen. Wenn wir sie unterdrücken werden wir anfällig für Kontrolle und Manipulation.
In der Familie dreht sich vieles darum, was Kinder falsch machen. Eltern wollen aus Liebe für ihre Kinder nur das beste und erwecken dabei in ihnen den Eindruck, gar nichts richtig machen zu können. Kinder wollen ihren Eltern gefallen und bemühen sich alles perfekt zu machen. Sie leiden dabei gleichzeitig unter dem Perfektionismus ihrer Eltern, die selbst ein labiles Selbstwertgefühl haben. Solche Eltern sehen ihr Ziel nicht darin, dass ihre Kinder eigene Persönlichkeiten entwickeln, also ganz sie selbst werden, sondern befürchten stets, dass ihre Kinder ihnen Schande bereiten. Die Schande besteht bereits darin, dass sie geringfügig abweichen von dem, "was man tut". Wir sehen leichter was fehlt (negativ), als das, was bereits vorhanden ist (positiv). Die Motopädagogik geht von den Stärken aus, also von dem was bereits da ist. Wenn wir nur abwarten können, kommt das Kind von ganz allein, kreativ und mit größter Freude zu einem Verständnis. Eltern und Erzieher sollten diese Freude mehr genießen können als das Gefühl klug bzw. klüger zu sein.
Mit der biologischen Entwicklung des Jugendlichen wollen auch Gefühle wie Auflehnung, Verliebtheit, Sexualität usw. voll erlebt werden. In vielen Fällen würde dies das psychische Gleichgewicht seiner Eltern stören. Depression, Leere, Sinnlosigkeit des Daseins und Einsamkeit sind Folgen von Selbstverlust und Selbstentfremdung. Beide sind in unserer Gesellschaft regelmäßig anzutreffen (Miller 1983b, S. 57).
Zu den Merkmalen gelungener lebendiger Erziehung zählen:
- Jedes Kind hat das legitime Recht, von der Mutter gesehen, verstanden, ernstgenommen und respektiert zu werden.
- Es darf in den ersten Lebenswochen und -monaten über die Mutter verfügen, sie gebrauchen ... in Form einer Objektbeziehung.
- Die Mutter sieht wirklich das kleine einmalige, hilflose Wesen, nicht ihre Erwartungen, Ängste und Pläne.
- Können Mütter ihren Kinder nicht das notwendige Klima und Verständnis für eine gesunde Entwicklung bieten, ermöglichen sie ihnen, sich bei anderen Personen, das zu holen, was bei der Mutter fehlt.
- Aggressive Regungen werden neutralisiert, sie erschüttern nicht die Selbstachtung und Sicherheit der Mutter, der Erwachsenen, der Erzieher und ...
- Bestrebungen nach Freiheit und Unabhängigkeit werden als solche erlebt und nicht als Angriff auf die Erzieherperson.
- Das Kind darf Gefühle haben, zeigen und ausleben.
- Weil das Kind widersprüchliche Gefühle zeigen darf, kann es ein Gleichgewicht zwischen gut und böse erzeugen, ohne die negativen Teile verleugnen zu müssen (abspalten).
- Das Kind ist eine eigenständige Persönlichkeit, nicht das Vorzeigeschild der Eltern, erfolgreicher Vorschulerziehung usw.
- Das Kind kann die Eltern (Erwachsenen, Erzieher) brauchen, wie es seinen Bedürfnissen entspricht, weil die Eltern von ihm unabhängige Persönlichkeiten (Subjekte) sind.
- Die narzisstischen Bedürfnisse des Kindes werden akzeptiert und im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung und eines entsprechenden Sozialverhaltens integriert.
- Die Integration und Umformung erfolgen auf der Basis von Versuch-und-Irrtum-Lernens. (Miller 1983b, S. 61)
In der Schule werden Gefühle meist als störend empfunden, wir lernen zu äußern, was wir denken. Logisches, rationales und lineares Lernen stehen im Vordergrund. Da die Gesellschaft Druck auf die Schulen und diese wiederum Forderungen an die Eltern und Kindergärten stellt, müssen wir im Gegenzug fordern, dass unsere Kinder Unterstützung erhalten, ihre Gefühle kennenzulernen, zu ergründen und auszudrücken. Zu wissen "Wer bin ich?" und "Was fühle ich?" fördert die Teamarbeit und die Leistungsmotivation.
Die Verachtung für den Kleineren und Schwächeren ist der beste Schutz gegen den Durchbruch der eigenen Ohnmachtgefühle. Sie ist Ausdruck der abgespalteten Schwäche. Wer seine Ohnmacht kennt, weil er sie erlebt hat und ausleben durfte, braucht nicht mit Verachtung Stärke zu demonstrieren. Viele Gefühle werden von Erwachsenen erst mit der Auseinandersetzung mit Kindern erfahren, weil diese in ihrer Kindheit keine Chance hatten, Ohnmacht, Eifersucht, Wut, Angst und Verlassenwerden bewusst zu erleben. (Miller 1983b, S. 111)
Was bewirkt, dass ein Mensch Verbindung zu sich selbst und anderen hat, dass ein Kind sich lebendig und authentisch fühlt?
"Was entscheidet darüber, ob unser Selbstgefühl gefestigt oder gestört wird?"
"Welche Art von Beziehung 'befähigt' ein Kind dazu, überhaupt zu existieren, ein persönliches Ich auszubilden, seine Triebe zu kontrollieren und mit allen Schwierigkeiten des Lebens umzugehen?" (Benjamin 1999, S. 22)
Wichtig ist, dass der Andere, dem das Kind begegnet, ein eigenständiges Selbst ist. Das Kind hat die Fähigkeit und das Bedürfnis, den Anderen als von ihm verschieden und ihm doch ähnlich anzuerkennen. Eine Person, welche die Fähigkeit besitzt, psychische Erfahrungen mit ihm zu teilen. Anerkennung ist jene Reaktion der anderen, die die Gefühle, Intentionen und Aktionen des Kindes überhaupt erst sinnvoll macht. Sie ist die Bedingung für die Entwicklung von Selbsttätigkeit und Urheberschaft. (Benjamin 1999, S. 16)
Die Mutter ist die erste Bindungsperson des Säuglings und wird zum Objekt seines Begehrens. Sie darf nicht nur Objekt für die Bedürfnisse ihres Kindes sein. Sie braucht einen unabhängigen Mittelpunkt ihres Lebens. Sie muss ein eigenständiges Subjekt mit einer selbständigen Identität sein, wenn sie ihrem Kind die Anerkennung geben will, die es braucht. Anerkennung kann uns nur von einem Anderen zuteil werden, den wir als eigenständige Person anerkennen. Das Bedürfnis nach Anerkennung meint auch: die Unabhängigkeitsbestrebungen des Kindes zu akzeptieren und seine Unabhängigkeit zu fördern. Diese Anteile der Persönlichkeit muss sich der Erwachsene selbst zugestehen und sie ausleben können.
Der Erzieher bestätigt eigene Aktivität und Selbsttätigkeit. Damit wird sich das Kind seines Selbst und seines Tuns bewusst und wird zunehmend unabhängiger von Lob und Tadel (extrinsische Verstärker): Es verinnerlicht ein eigenes Wertesystem (intrinsische Verstärker). Anerkennung erfolgt nicht auf erbrachte Leistung, sondern ist ein konstantes Element, das alle Ereignisse und Phasen des Lebens durchzieht.
Ein Scheitern von Gegenseitigkeit kann zu einer verfrühten Ausbildung von Abwehrgrenzen zwischen Innen und Außen führen. Aus einem Spiel zwischen Mutter und Kind wird leicht Ernst, wenn das Kind erschöpft oder zerstreut ist. Ist die Mutter gelangweilt oder deprimiert und das Kind reagiert nicht wie gewünscht, kann die Mutter leicht aus dem Gleichgewicht kommen. Auf den Versuch des Kindes, sich der Mutter zu entziehen reagiert die Mutter mit einer Verfolgung. Sie versteht die Botschaft des Kindes, dass es in Ruhe gelassen werden möchte, als Scheitern ihres eigenen Bemühens um Anerkennung. Das Kind lernt im negativen Sinne: Alleinsein ist nur durch Vernichtung der aufdringlichen Anderen und Einssein nur durch Unterwerfung unter die Andere möglich. Damit schließt sich ein Teufelskreis: Die Mutter fordert immer mehr Zuwendung und Interaktion, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Gefühle des Kindes "auf der Flucht" sind nicht echt und entsprechen deshalb nicht den Erwartungen der Mutter. Hier wird die Qualität der Beziehung durch die Quantität von Austausch "ersetzt".
Das Kind könnte die Spannung in der Beziehung regulieren, wenn die Beziehungspartner auf seine Erregung bzw. die Forderung sich zurückzuhalten entsprechend reagieren würden. Dadurch erlebt das Kind ein Nachlassen der Spannung und lernt dabei, dass die Beziehung erhalten bleibt und doch gleichzeitig Ablösung möglich ist. Die Fähigkeit, Einssein und Getrenntsein miteinander zu versöhnen, ist die Voraussetzung für die intensivsten Erfahrungen im Leben. Bewusste Freude an gemeinsamen Empfindungen eröffnen eine neue Ebene der Gegenseitigkeit: erlebte (innere) Gefühle können mit anderen geteilt werden. Die Gewissheit geteilter Gefühle bietet Sicherheit und lustvolle Verbundenheit.
Die Mutter muss für das Kind vom Beziehungsobjekt zum Beziehungssubjekt werden. D. h. dass das Kind die Mutter in seiner Phantasie zerstören muss, um sich von ihr ablösen zu können. Sie muss wiederum diese Zerstörung "überleben", damit sich das Kind frei und selbständig entwickeln kann, ohne dabei Schuldgefühle und Aggression zu entwickeln (Winnicott 1995, S. 105).
Solange die Bezugspartner Objekte sind, glaubt das Kind allmächtig (omnipotent) zu sein und beliebig über sie verfügen zu können. Durch Autoritätsbestrebungen der Erwachsenen entstehen Machtspiele aber keine produktive, partnerschaftliche Erziehung. Erwachsene müssen stimmig (authentisch) ein eigenes, vom Kind unabhängiges Leben führen, um die Spannung der Erziehungspartnerschaft erhalten zu können. Dies ist sehr schwierig in einer Gesellschaft, die dazu neigt, Mutterschaft zu idealisieren und die gesamte Verantwortung der Erziehung an die Frauen abwälzt. Dabei sind die Mütter isoliert in der Kleinfamilie und in ihren sozialen Bindungen zur Außenwelt geschwächt. Die eheliche Solidarität ist oft nur Schein, die Väter werden im Berufsleben ausgelaugt und können die Erziehung nicht im notwendigen (Zeit-) Umfang unterstützen. Wirtschaftlich sind die Frauen nach wie vor abhängig. Teilzeitarbeitsplätze und entsprechende Kinderbetreuung fehlen, aber auch gesellschaftliche Akzeptanz berufstätiger Mütter. Gelingt es einer Frau, die genannten Schwierigkeiten zu überwinden, bleibt immer noch das schlechte Gewissen, auch "das Beste" für die Entwicklung des Kindes zu tun.
Es mangelt an Professionalisierung der Kleinkinderbetreuung mit Einbeziehung der Eltern durch Partizipation, gemeinsame Fort- und Weiterbildung. Doch auch hier sind die Forderungen kaum zu erfüllen, handelt es sich im Kindergarten doch um einen reinen Frauenberuf mit nahezu den gleichen Problemen wie in den Familien. Häufig sind beide Bereiche gekoppelt und begünstigen sich gegenseitig: "Erziehen muss man nicht lernen, kindgemäßes naives Spiel entspricht der Persönlichkeit von Frauen!" so lautete bereits in den Anfängen der Erzieherausbildung ein weit verbreitetes Vorurteil.
Menschen können anderen gegenüber nur so annehmend sein, wie sie sich selbst annehmen können. Selbstannahme und Selbstschätzung sind die Basis für Toleranz gegenüber anderen. Dem "das Kind ist aktiv, mächtig und kompetent," aus der Reggio-Pädagogik steht die Meinung vieler Eltern und Erzieher gegenüber, ein Kind würde sich ohne konkrete Unterweisung durch sie nicht entwickeln. Wir füllen die Kinder nicht einfach ab, von außen nach innen, um sich dann mit dem Erworbenen möglichst günstig selbst darstellen zu können. Wir ermutigen sie, das Innere zu zeigen, außen entsprechend zu formen und wieder zu verinnerlichen. Dadurch entwickeln sie die Überzeugung, durch das eigene Tun etwas bewirken zu können. Sie besitzen ein positives Selbstwertgefühl, eine größere Leistungsmotivation, Phantasie und Kreativität und zudem das Vertrauen, dem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Sie können Einfluss auf die eigenen Geschicke nehmen und selbst unter chaotischen Verhältnissen Struktur in ihr Leben zu bringen.
Das Kind gestaltet seine Entwicklung selbst. Das Kind folgt einem inneren Bauplan. "Es wäre absurd anzunehmen, dass gerade der Mensch, der sich von allen anderen Geschöpfen durch die Großartigkeit seines Seelenlebens auszeichnet, als einziges Lebewesen keinen seelischen Entwicklungsplan in sich tragen sollte." (Montessori 1971, S. 51) Das Kind als schöpferisches Wesen betreibt sein Selbstwerden aktiv (Zimmer 1999, S. 29). Der Mensch wird in seiner Entwicklung nicht von Instinkten beherrscht, sondern verfügt über eine Handlungsfreiheit, welche erst langsam heranreift: Eine Schöpfung, die dem einzelnen Individuum überlassen bleibt: (zeit-) aufwendige Handarbeit also im Vergleich zu Serienproduktion. Das Kind wird als handelndes Subjekt verstanden. Es kann Verantwortung übernehmen und für sich selbst Entscheidungen treffen. Eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Handeln wird zur Methode statt nur als Ziel am Ende von Fördermaßnahmen zu stehen. Der Erzieher kennt den Bauplan und begleitet die einzelnen Entwicklungsschritte.
Ist Authentizität ein weiteres, neues Erziehungsziel, welches im BayKiG (Kindergartengesetz) berücksichtigt wird?
Nein. Der kritische Erzieher bildet sich eine eigene Meinung, welche mit seinem Inneren im Einklang ist und ihm äußere Unabhängigkeit bewahrt. Lebendigkeit und der Zugang zu den eigenen Gefühlen müssen in allen Lernzielbereichen Anwendung finden. Die Persönlichkeit des Erziehers, seine Wertvorstellungen und seine Haltung als unabhängiges Selbst ist beständig und nicht aufteilbar nach Lernzielbereichen. Echtheit zunächst zugeordnet dem sozial-emotionalen Bereich bildet die Basis für offene Kommunikation und Kreativität. Für die religiöse oder ethische Erziehung gilt der Grundsatz: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst. Wer sich selbst nicht liebt, kann auch keinen anderen lieben. Kritisch stehe ich dem Vollkommenheitsanspruch der Kirche als Institution gegenüber, welche damit Kontrolle ausüben will. Echtheit entspricht der Ganzheitlichkeit und der Gesundheitserziehung, vor allem der Prävention. Sie bezeichnet die Haltung im freien Spiel und die Einstellung zur Natur und zur Umwelt.
Im Kindergarten besonders bedeutsam ist der senso-motorische Bereich, der vor allem der Wahrnehmung der Kinder in diesem Alter entspricht. Das Prinzip der Motopädagogik oder Psychomotorik kommt den Bedürfnissen des Kleinkindes entgegen:
- Die Kinder bemerken die Wirkung ihrer eigenen Aktivität selbst und unverfälscht von sozialen menschlichen Einflüssen (Selbsttätigkeit und Rückmeldung).
- Selbständigkeit wird dem Kind über körperlich-motorische Erfahrungen bewusst.
- Kommunikation beschränkt sich nicht nur auf Sprache.
- Kinder setzen sich mit der beständigen Schwerkraft auseinander.
- Sie erleben Gleichgewicht.
- Sie fühlen Schwindel, Anspannung und Entspannung.
- Sie werden sensibel für Oberflächen- und Tiefenwahrnehmung (Tastsinn, Haut, Propriozeption)
- Sie lernen durch Bewegung.
- Sie erhalten die notwendige Energie für ihre Entwicklung und zum Lernen (zu 90 %) über den Hör- bzw. Gleichgewichtssinn (Ohr und Innenohr).
Die Echtheit des Erziehers heißt, dem Kind zu vertrauen, dass es seinen Körper beherrschen und mit Gefahren umgehen kann. Mit seinen eigenen, unreflektierten Ängsten kann er das Kind so verunsichern, dass seine Befürchtungen eintreten (= sich erfüllende Prophezeiung). Er überträgt seine verdrängten Persönlichkeitsanteile auch in diesem Bereich leicht auf das Kind (Projektion).
Störungen haben Vorrang. Sie weisen uns darauf hin, dass der Andere nicht ganz - engagiert und diszipliniert - bei der Sache ist (Schulz von Thun 1981, S. 130). Nach dem Grundsatz der Echtheit kann keiner gezwungen werden innerlich Anteil zu nehmen. Für eine längerfristige Kooperation ist es nicht sinnvoll, Gefühle und Empfindungen auszuklammern. Engagierte kreative Sachlichkeit braucht positive mitmenschliche Beziehungen. Bei offiziellem Verbot von Störungen gehen diese in den Untergrund und sind dort wesentlich schädlicher aktiv. Lebendige, gefühlsbetonte Körper und Seelen sind Träger unserer Gedanken und Handlungen, deshalb lohnt es sich, über die Art, wie wir in solchen Situationen miteinander umgehen, zu kommunizieren (= Metakommunikation, s. Schulz von Thun 1981 S. 131-132). "Unterbrich das Gespräch, wenn Du nicht wirklich teilnehmen kannst, wenn Du gelangweilt, ärgerlich oder aus einem anderen Grund unkonzentriert bist." (Langmaak 1995, S.99)
Jeder übernimmt die Verantwortung für sich selbst. Er schaut nach innen, um sich selbst, seine Gefühle, Ideen, Gedanken und Wünsche bewusst wahrzunehmen und zu akzeptieren. Nach außen, um die Anderen und die gemeinsame Aufgabe im Blick zu haben, denn nur beides, das zweifache Hinschauen, verhindert Egoismus, der den anderen vergisst, oder eine Helferhaltung (Co-Abhängigkeit), die sich selbst vergisst (Langmaak 1995, S. 99). Nur ein selbstverantwortliches Individuum kann Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen. Ein Mensch, der sich selbst verändern kann, kann auch zu Veränderungen der Umwelt beitragen (Zimmer 1999, S. 26). Störendes Verhalten des Kindes wird in der Motopädagogik als ein Weg gesehen, wie das Kind seinen Problemen Ausdruck verleiht. Es ist immer eine Botschaft des Kindes an seine Umwelt. "Gelingt es dem Erwachsenen, diese Botschaft und damit auch das Kind in seinem Lebens- und Verhaltenszusammenhang zu verstehen, kann er Wege finden, die Schwierigkeiten gemeinsam mit ihm aufzuarbeiten (Zimmer 1999, S. 47).
Ist die Aufgabe des Erziehers "Nichtstun"?
Trotz ihrer Aktivität und Widerstandskraft dürfen wir die Kinder nicht sich selbst überlassen. Neben Selbstwertgefühl, Selbständigkeit, aktivem Umgang mit Problemen, Zeit und Raum benötigen sie die emotionale Bindung an mehrere Menschen: Erwachsene, Gleichaltrige, ältere und jüngere Kinder.
Wenn wir nun im Kindergartenalltag alle genannten Punkte befolgen, selbst echt und stimmig sind, reflektieren, Ich-Botschaften senden, gezielt und zufällig beobachten, mit Eltern und Kindern bedürfnis- und situationsorientiert arbeiten, sie im Alltag und an Entscheidungen beteiligen (Partizipation), äußerst flexible Öffnungszeiten anbieten und vieles mehr ...
So können wir doch nicht auf Rahmenpläne verzichten, um gezielt und methodisch pädagogisch fundiert arbeiten zu können. Doch dann sind unsere Pläne mit unserer Person stimmig und wir brauchen uns nicht am Papier festzuhalten. Gleichzeitig demonstrieren wir pädagogische Echtheit in Qualität und Professionalität.
Literatur
Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe. Frankfurt am Main, 5. Aufl. 1999
Erich Fromm: Haben oder Sein. München, 27. Aufl. 1999
Thomas Gordon: Familienkonferenz. München, 23. Aufl. 1997
Barbara Langmaak: Wie die Gruppe laufen lernt. Weinheim, 5. Aufl. 1995
Alice Miller: Am Anfang war Erziehung. Frankfurt am Main, 1. Aufl. 1983a
Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes. Frankfurt am Main, 1. Aufl. 1983b
Maria Montessori: Kinder sind anders. Stuttgart, 9. Aufl. 1971
Friedemann Schulz von Thun: miteinander reden, Bd. 1. Hamburg, 1981
Anne Wilson Schaef: Co-Abhängigkeit. München, 7. Aufl. 2000a
Anne Wilson Schaef: Im Zeitalter der Sucht. München, 7. Aufl. 2000b
Donald W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Donauwörth, 8. Aufl. 1995
Renate Zimmer: Handbuch der Psychomotorik. Freiburg im Breisgau 1999
Autorin
Barbara Perras-Emmer, Städtischer Kindergarten Parsberg