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Zitiervorschlag

Aus: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Mehr Chancen für Kinder und Jugendliche. Stand und Perspektiven der Jugendhilfe in Deutschland. Veranstaltungsdokumentation „Jugendhilfe in der Wissensgesellschaft“, Band 3. Bonn 2003, S. 186-195

Elementarbildung

Martin R. Textor

 

Auf den ersten Blick scheint es eindeutig zu sein: Kindertageseinrichtungen haben im Gegensatz zu anderen Bereichen der Jugendhilfe einen Bildungsauftrag. Das sieht man schon am Titel unserer Workshops – Elementarbildung. Und auch die gesetzliche Grundlage ist klar: § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII legt für Tageseinrichtungen fest: „Die Aufgabe umfasst die Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes.“ Aber halt: An erster Stelle im Gesetzestext steht Betreuung. Kommt hier eine Rangordnung zum Ausdruck? Der Grund dafür, weshalb nur in ganz wenigen Bundesländern das Kultusministerium für Kindertageseinrichtungen zuständig sind? Wecken Begriffe wie Kindertagesbetreuung, Kinderkrippe, Kindergarten, Kinderhort und Kindertagesstätte überhaupt Assoziationen an Bildung? Ging es bei der Diskussion um Kinderbetreuung bisher nicht überwiegend um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Um die Vermeidung von Problemen bei Unternehmen und Behörden, wenn Mütter Elternzeit nehmen und für zwei, drei Jahre durch eventuell weniger motivierte Arbeitskräfte mit Zeitvertrag ersetzt werden müssen? Um eine präventive Maßnahme, um dem sich schon abzeichnenden Mangel an qualifizierten Arbeitnehmer/innen zu begegnen? Um die Gleichstellung von Mann und Frau in der Arbeitswelt? Um die Vermeidung von Sozialhilfebedürftigkeit bei allein erziehenden Eltern mit kleinen Kindern? Um die Erhöhung der Geburtenrate? Oder gar um die Reduzierung der Abtreibungsquote?

Wenn über viele Jahre hinweg arbeitsmarktpolitische, wirtschaftspolitische, gleichstellungspolitische, sozialpolitische, bevölkerungspolitische und ähnliche Perspektiven die Diskussion um Kindertageseinrichtungen bestimmten, dürfen wir uns nicht wundern, wenn vielleicht die Bildung zu kurz gekommen ist. Aber spielte „Bildung“ jemals eine größere Rolle bei der Diskussion um Kindertagesbetreuung? Begleiten Sie mich auf einem kurzen Ausflug in die Geschichte der Frühpädagogik…

Kindertagesbetreuung zwischen den Polen kompensatorischer Erziehung, Sozialerziehung und Bildung

Historisch gesehen, war Kindertagesbetreuung zunächst für vernachlässigte oder in ihrer Entwicklung ungenügend geförderte Kleinkinder gedacht, hatte also eine kompensatorische Funktion. In den Anfang des 19. Jahrhunderts gegründeten Kinderbewahranstalten wurden vor allem unbeaufsichtigte und von Verwahrlosung bedrohte Kinder aus den untersten sozialen Schichten aufgenommen. Da deren Mütter ihren Erziehungsaufgaben nicht nachkamen bzw. wegen ihrer 10 bis 12 Stunden am Tag dauernden Erwerbstätigkeit nicht nachkommen konnten, sollten die Kinder nun von „Ersatzmüttern“ betreut, erzogen und sozialisiert werden.

Fröbels Kindergarten war hingegen für andere, eher aus dem Bürgertum stammende Kinder gedacht. Aber auch hier spielte die Vorstellung eine Rolle, dass diese Kinder zu Hause nicht die beste Erziehung erhalten würden. Friedrich Fröbel schrieb: „Der deutsche Kindergarten wurde aus dem tiefgefühlten Bedürfnis entsprechender Pflege der Kinder … als ein gemeinsames deutsches Erziehungswerk gestiftet. Er ruht auf der Überzeugung, daß die Einzelerziehung der vorschulfähigen Kinder in der Familie, wie sie im Ganzen jetzt ist und unter den bestehenden Verhältnissen sein kann, für die Forderungen der Zeit nicht mehr ausreiche. Seine Absicht geht darum dahin, den Familien und den Gesammtheiten dafür die nöthige Hilfe zu bringen“ (nach Textor 1990). Deutlich wird, dass Fröbel die Familienerziehung zu seiner Zeit als ergänzungsbedürftig ansah. So waren Kindergärten als familienunterstützende Einrichtungen gedacht. Letztlich sollten sie überwiegend der Mutterbildung dienen, sie „sollten … nicht eigentlich die Mütter von der Erziehungsarbeit entlasten, sondern sie gerade an das rechte Erziehen heranführen“ (Reble 1975, S. 230) – „Jede Mutter und jedes junge Mädchen sollte eine echte 'Kindergärtnerin' werden und sich ihres hohen Berufes als Pflegerin gerade der frühen Kindheit bewußt sein“ (a.a.O.).

Rund 110 Jahre später hatte sich die Sozialisationsfunktion von Familien stark verbessert. In den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts waren die meisten Mütter Hausfrauen und kümmerten sich intensiv um ihre Kinder. Medizinische, psychologische und pädagogische Erkenntnisse über das Wesen und die Entwicklung von Kindern sowie eine gute Pflege und Erziehung waren in den vorausgegangenen Jahrzehnten Allgemeingut geworden und wurden nun von den Eltern berücksichtigt. So entwickelten sich die meisten Kinder in ihren Familien positiv.

In Westdeutschland setzte sich der Halbtagskindergarten durch, den die meisten Kinder nur ein Jahr oder zwei Jahre lang besuchten. Da Erziehung und Bildung in den meisten Familien „funktionierten“, wurde dem Kindergarten als Hauptaufgabe zugeschrieben, Kinder gruppenfähig zu machen, so dass sie sich nach der Einschulung leichter in den Klassenverband integrieren können. Dementsprechend stand die Sozialerziehung im Vordergrund – und dies ist auch heute noch in den meisten Kindertageseinrichtungen der Fall.

Es gab in den 1960-er Jahren jedoch zwei gegenläufige Bewegungen, die allerdings nur von kurzer Dauer waren:

  1. Nach dem „Sputnik-Schock“ wurde in Westdeutschland erstmals von einer „Bildungskatastrophe“ gesprochen. In diesem Kontext wurde darüber diskutiert, ob nicht schon die Fünfjährigen eingeschult werden sollten, da sie an der Schule besser „gebildet“ werden könnten – ein Thema, das heute wieder aktuell ist. Ferner wurden Maßnahmen der „basalen Bildungsförderung“ wie das „Frühlesen“ und die „Vorschuldidaktikprogramme“ entwickelt. Schließlich wurde 1970 im „Strukturplan für das Bildungswesen“ des Deutschen Bildungsrates die vorschulische Erziehung dem Bildungswesen zugeordnet und als „Elementarbereich“ bezeichnet. Zehn Jahre später spielte all dies keine Rolle mehr…
  2. Im Zusammenhang mit der Problematisierung der „Klassengesellschaft“ wurde nochmals die kompensatorische Funktion der Kindertagesbetreuung betont, wurden entsprechende Programme in Kindergärten eingeführt. Diese verloren aber schon Anfang der 70-er Jahre an Bedeutung und verschwanden bis zum Ende dieses Jahrzehnts aus den Einrichtungen.

Die großen pädagogischen Bewegungen der folgenden Jahrzehnte, insbesondere zur interkulturellen Erziehung und zur Integration Behinderter, fokussierten vor allem auf der Sozialerziehung. Auch der Situationsansatz, der sich ab den 1970-er Jahren immer mehr in (West-) Deutschland durchsetzte und schließlich die frühpädagogische Landschaft dominierte, wurde weitgehend so (fehl-) interpretiert, dass insbesondere die Sozialkompetenz von Kleinkindern gefördert werden müsse. Das Freispiel wurde zum Königsweg der Kindergartenpädagogik.

Seit rund fünf Jahren wird die Bildungsfunktion von Kindertageseinrichtungen wieder thematisiert – allerdings unter negativen Vorzeichen: Vor allem Wissenschaftler/innen beklagen, dass Kleinkinder in Kindergärten zu wenig „gebildet“ würden. Das Buch von Donata Elschenbroich (2001) über das, was Siebenjährige an Weltwissen haben sollten, wurde sogar zu einem Bestseller – und verdeutlichte der Öffentlichkeit, wie wenig davon Kinder im Kindergarten lernen. Auch wurden große Qualitätsunterschiede zwischen einzelnen Kindertagesstätten ermittelt. Beispielsweise stellte der Berliner Pädagogikprofessor Wolfgang Tietze (1998) in seiner Studie „Wie gut sind unsere Kindergärten?“, bei der 103 Kindergartengruppen untersucht wurden, Folgendes fest: „Die globale pädagogische Prozeßqualität (KES) liegt im Durchschnitt der Kindergartengruppen im Bereich 'gehobener Mittelmäßigkeit'. Rund 30% der Gruppen erreichen gute Qualität, zwei Drittel eine mittlere, 2% genügen auch minimalen Standards nicht“ (S. 351). Ganztagsgruppen schnitten schlechter als Halbtagsgruppen ab. Tietze ermittelte ferner, dass die Entwicklungsunterschiede bei Kindern, die auf die pädagogische Qualität im Kindergarten zurückgeführt werden können, im Extremfall einem Altersunterschied von einem Jahr entsprechen. Nach Veröffentlichung der PISA-Studie fordern jetzt auch die meisten Politiker/innen „mehr Bildung“ in Kindertageseinrichtungen. Außerdem müssten Kindertagesstätten noch neue, zusätzliche Aufgaben wie z.B. die Durchführung von Sprachlernprogrammen für ausländische Kleinkinder, mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung oder Förderung von „Literacy“ übernehmen, damit die neue „Bildungskatastrophe“ bewältigt werden könne.

Bildungsbegriff – Bildungsauftrag – Bildungsplan

Was heißt nun aber „Elementarbildung“? Was umfasst sie? Was sollte sie beinhalten?

Diese Fragen können in Deutschland nicht beantwortet werden! Es ist noch nicht einmal der Bildungsbegriff in der Frühpädagogik annähernd geklärt, geschweige denn der Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen. Auch fehlt ein Bildungsplan, in dem Bildungsziele, -inhalte und -methoden festgelegt sind. Das bedeutet, dass in Deutschland Bildung in das Belieben der einzelnen Erzieherin gestellt ist – es gibt für sie keine Richtlinien, an denen sie sich orientieren kann, und für die Gesellschaft keinen Maßstab, mit dem sie die bildende Leistung von Kindertagesstätten messen kann. Da hilft auch die vom Bundesfamilienministerium finanzierte Nationale Qualitätsinitiative nicht weiter, denn wie will man Bildungsqualität bestimmen, wenn der Bildungsauftrag nicht definiert ist und ein Curriculum fehlt?

Erst im Jahr 2000 erschien ein Buch für Erzieherinnen, in dem „Bildung“ Teil des Titels ist: Irmgard Maria Burtschers „Mehr Spielraum für Bildung. Kindertagesstätten als Bildungseinrichtungen der Zukunft“. Die Autorin will Erzieher/innen Argumentationshilfen liefern, damit diese „in der Öffentlichkeit mit Vehemenz ihren Bildungs-Kindergarten“ (S. 8) vertreten können. Zunächst konstatiert Burtscher, dass Bildung im Elementarbereich nichts mit schulischer Wissensvermittlung zu tun habe. Vielmehr soll sie einen Beitrag zur Entwicklung von Persönlichkeit, Identität und Selbstbewusstsein leisten, „Lebensführungshaltungen“, Einstellungen zum Lernen, soziale Umgangsformen, Schlüsselqualifikationen, Denkgewohnheiten, Wissensgrundlagen, Weltverständnis, Lebenssinn u.v.a.m. vermitteln. Dabei muss vom „frühkindlichen Lerncharakter“ ausgegangen werden, der durch Neugier und vielfältige Interessen geprägt ist. Auch sollte die frühkindliche Wahrnehmungs- und Fantasiewelt berücksichtigt werden. Dann listet Burtscher kindgemäße Bildungsinhalte aus den Bereichen Naturwissenschaften, Arbeitsleben, Kunst und Gesellschaft auf. Ferner stellt sie dar, wie Erzieher/innen auf den Bildungserfahrungen der Kinder in ihren Familien aufbauen können. Jedoch wird der Begriff „Bildung“ nicht definiert, fehlt eine Systematik der Bildungsziele und -inhalte („Didaktik“), wird die Methodik kaum thematisiert. Auch wird davon ausgegangen, dass Kindertagesstätten bereits „Bildungs-Kindergärten“ wären – was sicherlich so nicht zutreffend ist.

Im bereits erwähnten Buch „Weltwissen der Siebenjährigen“ geht Donata Elschenbroich (2001) einen anderen Weg: Sie hat nach Auswertung von 150 Gesprächen mit Menschen aller Schichten – Eltern, Hirnforschern, Pädagoginnen, Unternehmern, Psychologinnen, Arbeitslosen usw. – einen Bildungskanon zusammengestellt. Das Weltwissen, das sich Siebenjährige in Familie, Kindertageseinrichtung und anderen Lebensbereichen angeeignet haben sollten, umfasst lebenspraktische, soziale, motorische, kognitive und ästhetische Elemente. Einige Beispiele:

  • „gewinnen wollen und verlieren können…
  • die Erfahrung machen können, dass Wasser den Körper trägt…
  • einen Schneemann gebaut haben. Eine Sandburg. Einen Damm im Bach. Ein Feuer im Freien anzünden und löschen können. Windlicht, Windrad erproben
  • Butter machen. Sahne schlagen. (Elementare Küchenchemie, Küchenphysik kennen: Schimmel, schädlicher und pikanter…
  • in einer anderen Familie übernachten. Mit anderen Familienkulturen, Codes in Berührung kommen. Einen Familienbrauch kennen, der nur in der eigenen Familie gilt…
  • Wunderkammer Museum: die Botschaft der Dinge. Ihre Aura, ihr Altern, ihr Fortbestehen nach unserem Tod. Eine Burg kennen. Ein Gefühl haben dafür, dass sich die Welt verändert. Dass die Großmutter anders aufgewachsen ist. Ein Ding aussondern zum Behalten und Weitergeben, an die eigenen Kinder
  • eine Sammlung angelegt haben (wollen)
  • eine Ahnung von Welträumigkeit, von anderen Kontinenten haben…
  • den Unterschied zwischen Markt und Supermarkt kennen…
  • in einem Streit vermittelt haben. Einem Streit aus dem Weg gegangen sein…
  • einige Blattformen kennen, wissen, was man in der Natur essen kann und was nicht“

(Elschenbroich 2001, S. 28-32). Ein solcher Bildungskanon ist prinzipiell offen und unabgeschlossen. Er dient in erster Linie als Verständigungsbasis darüber, welche Bildungserfahrungen Kleinkinder machen sollten. Erst dann kann ein interessantes und anregendes Bildungsmilieu geschaffen, können entsprechende Anregungen gemacht und das Vorwissen, die Eigenschaften und Stärken der Kinder gesteigert werden. Damit bekommt der Kindergarten einen Bildungsauftrag, den Elschenbroich (2001a) an anderer Stelle andeutet: „Zeit für Experimente, Zeit für Fehler, fürs Üben, für Wiederholungen – der Kindergarten bietet das alles. Elementare Zugänge zu Naturwissenschaften, der Schrift, den Künsten. Im Kindergarten kann ihnen die Welt ein Labor werden, ein Atelier, eine Werkstatt. Oder ein Wald. Oder der Mond.“

Von 1997 bis 2000 wurde das Projekt „Zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen“ durchgeführt, das seitens des Bundes und mehrerer Länder gefördert wurde und dessen Ergebnisse vor einigen Monaten veröffentlicht wurden. Der Projektleiter Hans-Joachim Laewen (2002) zeigt auf, dass Bildung bisher einseitig entweder als Wissenserwerb entsprechend eines „Wissenskanons“ oder aber als Erwerb von Kompetenzen entsprechend eines „Kanons von Schlüsselkompetenzen“ verstanden wurde. Bildung würde damit von außen, von der Seite der (Arbeits-) Welt aus definiert. Für Laewen hingegen ist Bildung Sache des Subjekts und somit Selbstbildung. So geht er vom Kind aus, von dessen Eigenaktivität und Selbsttätigkeit, dessen Bemühen um Weltaneignung und Handlungskompetenz. Damit rückt Laewen den Eigenanteil des Kindes an der eigenen Bildung ins Zentrum, wobei Bildung sowohl Welt-Konstruktionen – d.h. Weltaneignung durch Erforschen, Erfahren, Nachdenken usw. – als auch Selbst-Konstruktionen – d.h. Bildung des Selbst als Kern der Persönlichkeit – umfasst. Letztlich können Kinder nicht gebildet werden, sondern müssen sich selbst bilden, wobei sie aber auf die Hilfe der Erwachsenen angewiesen sind. Bildung wird somit zu einem kooperativen Projekt zwischen Kindern und Erwachsenen, wobei letztere vor allem über die Gestaltung der Umwelt der Kinder – z.B. räumliche Umgebung, Situationen, Zeitstrukturen – und der Interaktionen mit ihnen – z.B. Förderung von dialoghafter Kommunikation, Auswahl von Themen, Eingehen auf die Themen der Kinder – erzieherisch wirken. „Erziehung“ wird damit zu einer Tätigkeit von Erwachsenen, durch die die Bildungsprozesse beim Kind gefördert werden.

Zusammenfassend schreibt Laewen (2002): „Bildung als Selbstbildung der Kinder und Erziehung als Aktivität der Erwachsenen stehen so in einem Wechselverhältnis zueinander. Die auf den frühen Bindungen der Kinder basierende Bereitschaft zur wechselseitigen Anerkennung bildet die Brücke, über die Erziehungsziele der Erwachsenen zu Bildungszielen der Kinder werden können. … Der Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen würde in seiner allgemeinsten Formulierung also lauten, die Bildungsprozesse der Kinder durch Erziehung zu beantworten und herauszufordern und durch Betreuung zu sichern“ (S. 92). Wichtige Rahmenbedingungen für gelingende Bildungsprozesse sind der Zugang zu komplexen Sinneswahrnehmungen und damit verbundenen Erfahrungen einerseits und die Entwicklung sicherer Bindungen an Erwachsene andererseits.

Das vom Bundesbildungsministerium geförderte Projekt „Konzeptionelle Neubestimmung von Bildungsqualität in Tageseinrichtungen für Kinder mit Blick auf den Übergang in die Grundschule“ unter der Leitung von Professor Wassilios E. Fthenakis befasst sich ebenfalls mit der Neubestimmung des Bildungsauftrags für Tageseinrichtungen für Kinder von null bis etwa zehn Jahren. Auch hier werden Kinder als aktive, kompetente Wesen gesehen, die ihre eigene Entwicklung mitgestalten. Bildung wird nicht – wie bislang – primär als individuumzentrierter bzw. als Selbstbildungsansatz definiert, sondern als ein sozialer Prozess in einem bestimmten Kontext, an dem das Kind und andere Personen aktiv beteiligt sind. Bildung wird somit als ein ko-konstruktiver Prozess verstanden.

Im Rahmen dieses Projekts werden aber auch veränderte Anforderungen der Wirtschaft und Gesellschaft an das Individuum berücksichtigt. Dementsprechend kommt dem Erwerb von Basiskompetenzen eine große Bedeutung zu: So sollen sich Kinder bereits im frühen Lebensalter lernmethodische Kompetenzen aneignen – also lernen, wie man lernt, wie man Wissen erwirbt, wie man es organisiert und wie man es zur Lösung komplexer Problemstellungen einsetzt. Andere zu fördernde Basiskompetenzen sind Resilienz als die Fähigkeit, sich an akut oder chronisch belastende Lebenssituationen effektiv anzupassen, und Transitionskompetenz, mit deren Hilfe Entwicklungsherausforderungen bewältigt werden können, die mit Übergangsprozessen im familiären oder institutionellen Bereich verbunden sind. Andere wichtige Kompetenzen sind Körperbewusstsein, Frustrationstoleranz, emotionale Stabilität, Autonomie, Selbstregulation, Selbstbewusstsein, Kreativität, Kommunikationsfähigkeit, Empathie, Medienkompetenz und Kooperationsfähigkeit.

Ferner werden derzeit im Auftrag der Bundesregierung oder von einzelnen Landesregierungen Leitlinien für Bildung in Kindertageseinrichtungen entwickelt. Beispielsweise hat das Staatsinstitut für Frühpädagogik vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Frauen den Auftrag erhalten, einen Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder unter sechs Jahren zu entwickeln. Er baut auf den Ergebnissen des vorgenannten Projekts auf und umfasst in seiner gegenwärtigen Fassung drei Teile (vgl. Fthenakis 2002): Im Allgemeinen Teil werden z.B. die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, das Bild vom Kind, das Verständnis von Bildung, die Dimensionen von pädagogischer Qualität und die wichtigsten Prinzipien erläutert, denen sich das bayerische Erziehungs- und Bildungskonzept verpflichtet fühlt (z.B. das Prinzip der Demokratie, die Berücksichtigung der kulturellen Diversität, das Verhältnis von Spielen und Lernen). Im II. Teil werden die bei Kleinkindern zu fördernden personalen, kognitiven, lernmethodischen, motivationalen, sozialen und Orientierungskompetenzen beschrieben. Zudem werden die klassischen und die neuen thematischen Schwerpunkte frühpädagogischer Förderung detailliert dargestellt – von der Sprachförderung über die Medien-, Musik-, Gesundheits- und Bewegungserziehung bis hin zur ästhetischen, religiösen, mathematisch-naturwissenschaftlichen und Umweltbildung. Im III. Teil werden strukturell-organisatorische Rahmenbedingungen wie z.B. das Verhältnis zwischen Einrichtung und Eltern, der Führungsstil der Leitung, die Kooperation mit dem Träger und die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen beschrieben. Ferner werden Fragen der Steuerung des Systems der Tageseinrichtungen, der Aus- und Fortbildung der Fachkräfte, der Evaluation u.a. erörtert.

Zur Reformierbarkeit des Elementarbereichs

Trotz all dieser Bücher, Projekte und Bildungspläne muss man aber provokativ fragen, ob sie wirklich zu „mehr Bildung“ in Kindertageseinrichtungen führen werden. Meines Erachtens sind Erzieher/innen wenig geeignet, die Bildungskatastrophe zu bewältigen:

  1. Sie sind selbst wenig gebildet – in Westeuropa und Nordamerika sind nur noch die österreichischen Erzieher/innen schlechter qualifiziert. In den anderen hoch entwickelten Ländern werden Fachkräfte für vorschulische Einrichtungen an Universitäten oder auf Fachhochschulniveau ausgebildet, haben sie zumeist den Status von Lehrer/innen. Deutschen Erzieher/innen mangelt es an relevantem Fachwissen aus den Bereichen Hirnforschung, Psychologie und Frühpädagogik; sie verfügen nicht über eine ausdifferenzierte Methodik und Didaktik. Allerdings sind sie auch keine „Basteltanten“, wie sie noch manchmal verunglimpft werden.
  2. Erzieher/innen müssen nahezu ihre gesamte Arbeitszeit in der Kindergruppe verbringen. Die knappe Verfügungszeit reicht schon längst nicht mehr für Teamsitzungen, Elterngespräche, Büroarbeit und die Vorbereitung von Beschäftigungsangeboten aus. So mangelt es schlichtweg an Zeit, um Bildungsangebote zu planen und zu evaluieren, die Entwicklungsfortschritte einzelner Kinder zu erfassen und zu dokumentieren, sich neue Kompetenzen wie z.B. den Umgang mit Lernprogrammen anzueignen usw.
  3. Erzieher/innen sind mit vielen zusätzlichen Aufgaben belastet, die z.B. Lehrer/innen nie übernehmen würden: Sie müssen Jahres-, Monats- bzw. Wochenpläne entwickeln, da es im Gegensatz zur Schule keine Curricula und Lehrbücher gibt. Sie haben Kindergartenkonzeptionen erstellt und schreiben diese fort. Die gesamte Verwaltungsarbeit muss nebenbei erledigt werden, ohne Freistellung oder Reduzierung der Stundenzahl in der Kindergruppe. Die Anforderungen an die Elternarbeit haben zugenommen: Es reichen nicht wie an der Schule ein oder zwei Elternabende im Halbjahr, sondern vielfältige Angebote werden verlangt. Diese und andere Aufgaben kosten viel Zeit und Energie, die schon jetzt für bildende Aktivitäten fehlen.

Aber auch die Rahmenbedingungen sind sehr ungünstig. Vier Beispiele:

  1. Wegen der zurückgehenden Kinderzahl müssen Kindergärten vermehrt Säuglinge, Ein- bzw. Zweijährige oder Schulkinder aufnehmen. Dementsprechend gibt es immer mehr Kindertagesstätten mit einer breiten Altersmischung, also mit Ein- bis Sechsjährigen oder gar mit Ein- bis 12-Jährigen in den Gruppen. Dies dürfte ein pädagogisches Arbeiten sehr erschweren. Welcher Lehrer wäre bereit und in der Lage, eine Klasse mit acht Altersjahrgängen zu „bilden“? Schließlich wurden Dorfschulen aus gutem Grund abgeschafft…
  2. Viele Kindergärten haben einen Ausländeranteil von 25% und mehr. Hier erschweren mangelnde Sprachkenntnisse die pädagogische Arbeit mit den Kindern. Hinzu kommt, dass sich die Deutschkenntnisse ausländischer Kleinkinder in den letzten Jahren verschlechtert haben und durch ihre Massierung in einzelnen Kindertageseinrichtungen die Gefahr größer geworden ist, dass sie dort miteinander in ihrer Muttersprache sprechen.
  3. Ein Großteil der Kindertagesstätten ist in freigemeinnütziger Trägerschaft. Sie sind damit relativ unabhängig. Viele Träger, insbesondere Pfarrer, sind wenig an ihren Kindergärten interessiert und im Bereich der Frühpädagogik nicht kompetent. So fehlt ein System wie z.B. die Schulverwaltung, über das alle Kindertagesstätten erreicht, beeinflusst und kontrolliert werden können.
  4. In den letzten Jahren sind die Standards in vielen Bundesländern verschlechtert worden. Beispielsweise wurde die maximale Zahl der Kinder pro Gruppe erhöht oder wurden die Qualifikationsanforderungen für Zweitkräfte gesenkt.

Dies bedeutet m.E., dass der Elementarbereich derzeit wenig zur Bewältigung der Bildungskatastrophe beitragen kann – es sei denn, es werden neben der Aus- und Fortbildung von Erzieher/innen auch die Rahmenbedingungen verbessert: Beispielsweise sollte die Gruppengröße reduziert, die Verfügungszeit verlängert, die Fachkraft von nicht pädagogischen Arbeiten entlastet und ein Unterstützungssystem für Kindertagesstätten geschaffen werden. Auch müsste die pädagogische Arbeit von außen evaluiert werden, um die Qualität von Bildung, Erziehung und Betreuung zu sichern.

Natürlich werden die Verbesserung der Qualität von Fremdbetreuung und die Intensivierung der Bildungsfunktion von Kindertagesstätten Geld kosten, und so wäre zu überlegen, ob nicht ein kleiner Teil der von der neuen Bundesregierung für den Ausbau der Ganztagsbetreuung vorgesehenen Mittel hierfür ausgegeben werden sollte. In diesem Zusammenhang soll auch an die Forderung des Netzwerks Kinderbetreuung der Europäischen Kommission (1996) erinnert werden, dass die Mitgliedsstaaten der EU mindestens 1% des Bruttoinlandprodukts zur Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen Kindertagesbetreuung bereitstellen sollten – in Deutschland werden derzeit weniger als 0,5% des BIP hierfür ausgegeben.

Literatur

Burtscher, I.M.: Mehr Spielraum für Bildung. Kindertagesstätten als Bildungseinrichtungen der Zukunft. München: Don Bosco 2000

Elschenbroich, D.: Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können. München: A. Kunstmann Verlag 2001

Elschenbroich, D.: Verwandelt Kindergärten in Labors, Ateliers, Wälder. Kinder können und wollen mehr lernen, als wir ihnen zutrauen. Ein Plädoyer gegen Langeweile und Monotonie in deutschen Kindergärten. DIE ZEIT 2001a, Heft 44, Rubrik „Wissen“

Fthenakis, W.E.: Bildung und Erziehung für Kinder unter sechs Jahren: Der bayerische Bildungs- und Erziehungsplan. Bildung, Erziehung, Betreuung von Kindern in Bayern 2002, 7 (1), S.4-6

Fthenakis, W.E. (Hrsg.): Konzeptionelle Neubestimmung von Bildungsqualität in Tageseinrichtungen für Kinder mit Blick auf den Übergang in die Grundschule. In Vorb.

Laewen, H.-J.: Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen. In: Laewen, H.-J./Andres, B. (Hrsg.): Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit. Bausteine zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen. Weinheim, Berlin, Basel: Beltz 2002, S. 16-102

Netzwerk Kinderbetreuung und andere Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen und Männer der Europäischen Kommission: Qualitätsziele in Einrichtungen für kleine Kinder. Vorschläge für ein zehnjähriges Aktionsprogramm. Ohne Ort: Selbstverlag, Januar 1996

Reble, A.: Geschichte der Pädagogik. Stuttgart: Klett, 12. Aufl. 1975

Textor, M.R.: Jede Mutter eine Kindergärtnerin. Elternbildung bei Fröbel. Welt des Kindes 1990, 68 (6), S. 55-37

Tietze, W. (Hrsg.): Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kindergärten. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag 1998

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.

Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de