Katja Ludwig
Zusammenfassung:
Der Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie kommt insbesondere bei pädagogischen Fachkräften eine hohe Bedeutung zu. Ihre Persönlichkeit besitzt unmittelbaren Einfluss auf professionelles Handeln im Alltag von Kindertagesstätten.
In dem Beitrag wird der Frage nachgegangen, inwieweit die biografische Selbstreflexion von persönlichen Diskriminierungs- und Einseitigkeitserfahrungen eine Möglichkeit darstellt, das eigene pädagogische Handeln weiterzuentwickeln. Ebenso von Interesse ist, wie eine solche Auseinandersetzung mit der Biografie im Kita-Alltag angeregt werden kann.
1. Hinführung
Jede/r von uns besitzt Vorurteile und verwendet Stereotype. Wir benötigen sie zur Orientierung in der komplexen Welt. Mit ihrer Hilfe schätzen wir Personen ein. Ebenso vermitteln sie Sicherheit und bewahren uns oftmals vor Gefahren. Es gibt jedoch Vorurteile und Stereotype, die diskriminierend wirken und aus diesem Grund reflektiert werden müssen. Dies erscheint umso bedeutsamer, wenn man bedenkt, dass die Handlungspraxis in der Kita durch die Wertevorstellungen und Normorientierungen der pädagogischen Fachkräfte beeinflusst wird.
Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die biografische Selbstreflexion von persönlichen Diskriminierungs- und Einseitigkeitserfahrungen eine Möglichkeit darstellt, das eigene pädagogische Handeln weiterzuentwickeln. Ebenso von Interesse ist, wie eine solche Auseinandersetzung mit der Biografie im Kita-Alltag angeregt werden kann.
Im ersten Kapitel des vorliegenden Artikels wird anhand einer kurzen Erzählsequenz einer Kita-Leiterin aufgezeigt, inwieweit Vorurteile und Diskriminierungen in ihrer Kita eine Rolle spielen. Diese Einschätzung soll exemplarisch für eine Vielzahl von Situationen stehen, in denen Kinder, Eltern und Teammitglieder in der Kita Abwertungen erfahren und erleben. Als eine Möglichkeit pädagogische Fachkräfte diesbezüglich professionell pädagogisch weiterzuentwickeln, wird die biografische Selbstreflexion gesehen. Nachdem im zweiten Kapitel verdeutlicht wird, dass Vorurteile und Stereotype Bestandteile jeder Biografie sind, sollen anschließend Chancen und Herausforderungen von biografischer Selbstreflexion herausgearbeitet werden. Im letzten Kapitel werden ausgewählte praxiserprobte Methoden zur biografischen Selbstreflexion vorgestellt, wobei der Anspruch besteht, dass diese im Kita-Alltag, zum Beispiel in Dienstberatungen, integriert werden können.
2. Vorurteile und Stereotype in der Kita – ein Erfahrungsbericht einer Kita-Leiterin
Auf den erzählgenerierenden Stimulus „Welche Vorurteile begegnen Ihnen denn in Ihrer Kita?“, konstatiert eine Kita-Leiterin:
„Mir ist das Thema bei einer Fortbildung bewusst geworden, wie wichtig das mehr oder weniger für uns als Team ist. Ich habe in dem Moment noch gar nicht an die Kinder, an die Vielfalt der Kinder in meiner Einrichtung gedacht, sondern ans Team. Weil die im Team schon erst einmal vom Alter her ganz unterschiedlich besetzt sind und die Probleme zwischen Alt und Jung da sind. Und dann sind wir ja Brennpunktkita. Ich beobachte, wie manche Mitarbeiter mit den Eltern, die hmm bildungsfern oder ausländisch sind, also wie sie mit denen reden, wie sie den Eltern gegenüber treten. Das waren für mich die zwei ausschlaggebenden Punkte. Wo eben die Meinung bei den älteren Kollegen besteht, das machen wir schon 35 Jahre so, das war 35 gut, warum sollen wir das jetzt anders machen. Die jungen Hühner sollen uns erst mal beweisen, was sie können. Die Jungen sagen, ne, wir können ja gar nicht, weil wir getrauen uns ja gar nicht vor den Älteren, weil die watschen uns ja eh gleich ab und sagen uns, dass wir nichts können. Also diese Vorurteile vom Alter her und eben der Umgang mit unseren Eltern. Ich kann da mit meinen Kollegen reden wie ich will. Ne Fortbildung bringt da auch nichts. Das habe ich auch schon versucht. Ich hab da zum Beispiel eine Kollegin, wo die Eltern das Gefühl haben, die steht eh 2 Stufen über mir. Die ist von oben herab und weiß sowieso alles besser. Genauso andersrum. Oder Kollegen sagen, och, das habe ich der Mutter jetzt schon dreimal gesagt, die kapiert es eh nicht, der brauch ich das eh nicht mehr sagen. [...] Ursprünglich habe ich wie gesagt gedacht, das Thema ist dringend bei meinem Team. Im Endeffekt stellt sich jedoch heraus, das sind Themen auch für die Elternarbeit und den Umgang mit Kindern. Das wird mir gerade bewusst, je länger ich darüber nachdenke.“ (Leiterin einer Kindertagesstätte)
Vermeintlich bildungsferne Eltern, junge unerfahrene Kolleg/innen, alte starrköpfige Kolleg/innen, Eltern mit Migrationshintergrund – jeder kennt die geschilderten oder ähnliche Vorurteile und Stereotype in Bezug auf den Umgang mit Eltern, Teamkolleg/innen und Kindern in der Kita. Die Liste der Vorurteile und Stereotype kann endlos fortgesetzt werden. Jeder besitzt sie und wurde bereits in seiner Kindheit in eine „Schublade“ gesteckt. „Heule nicht, Jungen sind stark“, „Mädchen mögen rosa“, „Typisch Einzelkind“ und „Wenn du groß und stark werden willst, musst du aufessen“ stehen beispielhaft dafür.
Der Begriff Vorurteil ist in der Psychologie definitorisch eng mit dem Stereotyp verknüpft. Ein Vorurteil umfasst in Anlehnung an Hort (2007, S. 34ff.) Einstellungen gegenüber Objekten (Ideen, Personen, Gruppen, Ideologien, Sprache, etc.) und zeichnet sich durch eine verfestigte Meinung, verbunden mit einer normativen oder moralischen Bewertung sowie einer Resistenz gegenüber neuen Informationen aus. Nach Lüddecke (2007, S. 26 ff.) bestehen Vorurteile aus einer affektiven, einer kognitiven und einer konativen Komponente: Die affektive Komponente umfasst den emotionalen Bestandteil, also Gefühle gegenüber Personen, sozialen Gruppen und deren Angehörigen. Sie sind bewertend (z.B. Misstrauen oder Feindseligkeit gegenüber jungen Kolleg/innen, Verachtung gegenüber bildungsfernen Eltern oder Eltern mit Migrationshintergrund). Die kognitive Komponente bilden Stereotype. Sie beziehen sich auf identische Eigenschaften und charakteristische Merkmale, die Gruppen zugeschrieben werden, ohne Beachtung der Individualität einzelnen Mitglieder (vgl. Aronson et al. 2004, S. 486). Aus der Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten sozialen Gruppe werden Rückschlüsse auf Persönlichkeitseigenschaften gezogen, die dieser Gruppe im Allgemeinen zugeschrieben werden (z.B. „Junge Kolleg/innen können nichts“ oder „Menschen mit Migrationshintergrund wollen sich nicht integrieren“). Die konative Komponente bezeichnet die Handlungsbereitschaft sich anderen Personen gegenüber aufgrund ihrer Gruppenmitgliedschaft diskriminierend zu verhalten. Eine Diskriminierung „bringt in direkter Art und Weise die Aberkennung des gleichen „Wertes“ bzw. der Gleichberechtigung zum Ausdruck. Ein diskriminierender Akt als solcher führt daher in zweifacher Hinsicht zu einem negativen Effekt: Einerseits durch die Verweigerung eines Rechtes, einer Dienstleistung oder einer Sache und andererseits durch das Bestreiten des gleichen Wertes der diskriminierten Person“ (Erben 2009, S. 38). Eine solche Bereitschaft zieht jedoch nicht zwangsläufig eine Handlung nach sich.
Vorurteile und Stereotype werden durch unsere Wahrnehmung hervorgebracht. Das bedeutet, niemand ist vorurteilsfrei. Mit Bezug auf die Psychologie handelt es sich bei der Wahrnehmung um einen Prozess, bei dem Informationen über die Sinnesorgane bereitgestellt und anschließend organisiert und interpretiert werden (vgl. Hagendorf et al. 2011, S. 5). Über die Sinne wird die Umwelt wahrgenommen. Dabei entsteht jedoch kein identisches Abbild. Es werden in der Regel die Aspekte erfasst, die für die Ausführung und Auswahl der Handlung und in der Situation relevant erscheinen (vgl. z.B. Hagendorf et al. 2011, S. 8). Wenning lenkt den Blick auf das Moment der Verschiedenheit und des Vergleichs (vgl. Wenning 2013, S. 133). Auch wenn er sich dabei auf Heterogenität bezieht, kann dies übertragen werden. Indem unbewusst oder bewusst Maßstäbe an Situationen angelegt und relevante Merkmale verglichen werden, erfolgen die Feststellung der Ungleichheit und Zuschreibungen (vgl. Wenning 2013, S. 133). In Bezug auf Vorurteile und Stereotype bedeutet dies, sie beruhen in den meisten Fällen auf Differenzherstellungen und markieren Grenzen und Differenzlinien. Dabei wird die Wahrnehmung neben der Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane und der Aufmerksamkeitsspanne unter anderem durch in der Sozialisation erworbene Erfahrungen, Erlebnisse und Konzepte beeinflusst. Die wahrgenommene Umwelt stellt also eine Konstruktion dar, „[i]m Vollzug des Blicks konstituiert sich das, was der Blick erfasst“ (Schmidt 2012, S. 15).
Vorurteile und Stereotype dienen dazu, Prozesse der Informationsverarbeitung zu vereinfachen. Sie ermöglichen durch die Reduktion von Informationen eine schnelle Orientierung in der komplexen Umwelt. Wir kategorisieren und bewerten soziale und nicht-soziale Objekte entsprechend ihrer Ähnlichkeit oder Verschiedenheit, zum Beispiel nach Geschlecht, Alter, Nationalität, Beruf, politischen Einstellungen, und bleiben dadurch handlungsfähig (vgl. Aronson et al. 2004, S. 491). Routiniertes Handeln wird ermöglicht und alltägliches Entscheiden vereinfacht. Zugleich erlauben Vorurteile und Stereotype eine schnelle Anpassung an die jeweiligen Lebensbedingungen, zum Beispiel an vorherrschende Meinungen, Werte- und Normvorstellungen und Regeln. Durch angepasstes Verhalten erfährt man soziale Zuwendung und Anerkennung. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wird gestärkt. Ebenso können sie der Selbstdarstellung und Abgrenzung dienen (vgl. Aronson et al. 2004, S. 492f.).
Doch Vorurteile und Stereotype wirken oftmals auch diskriminierend. Besonderes Augenmerk gilt den Kindertagesstätten als erster Ort öffentlicher Erziehung, Bildung und Begegnung, wo die Vielfaltsmerkmale kulturelle/ethnische Herkunft, soziale Herkunft, Geschlecht und psychischen/physischen Fähigkeiten (vgl. Friederich 2013, S. 22) sowie Alter, sexuelle Orientierung und Religionszugehörigkeit (vgl. Wagner 2013, S. 29) verstärkt eine Rolle spielen. Diese Vielfaltsmerkmale werden oftmals in der Interaktion der pädagogischen Fachkräfte untereinander beziehungsweise in der Interaktion mit Kindern oder Eltern genutzt, um Hierarchien herzustellen oder Dominanz zu demonstrieren. Exemplarisch hierfür steht die Kategorie „Alter“, wie im Interviewausschnitt illustriert: Ältere Kolleg/innen beharren auf dem aktuellen Zustand. Veränderungen sind nicht erwünscht „das machen wir schon 35 Jahre so, das war 35 Jahre gut, warum sollen wir das jetzt anders machen“. Ihrer Auffassung nach sollen die jungen pädagogischen Fachkräfte zunächst Leistungen erbringen „Die jungen Hühner sollen uns erst mal beweisen, was sie können“. Das Merkmal „Alter“ wird mit Erfahrungen und bestimmten Fertigkeiten und Fähigkeiten konnotiert. Offenbar wird von den älteren Kolleg/innen professionelles Handeln als eine Kompetenz angesehen, die man erst ab einem bestimmten Alter erwirbt. Das „Alter“ fungiert als Legitimationsgrund, junge Kolleg/innen auszugrenzen beziehungsweise nicht mit in ihr Tun einzubeziehen. Gleichzeitig wird Jüngeren abgesprochen, professionell zu agieren. Die Vorstellung, dass Alter mit Können gleichzusetzen sei, findet sich ebenfalls in der Interaktion zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern. Ali-Tani (2017, S. 7f.) zeigt am Beispiel von Kindern, die sich im letzten Kindergartenjahr befinden, wie pädagogische Fachkräfte auf das Alter Bezug nehmen, indem sie Fähigkeiten voraussetzen und dies mit dem Vorschulalter begründen. „Als Schulkind sollte man das schon wissen!“ oder „Du willst doch im Sommer in die Schule kommen!“ stehen dafür. Offensichtlich beeinflusst die Kategorie Erwartungen in Bezug auf bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten und das Verhalten der pädagogischen Fachkraft. In beiden Fällen werden kollektiv einer Gruppe bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, die mit Erwartungen verknüpft sind. Der Blick wird nicht individuell auf Einzelne gerichtet. Unterschiede werden nicht wahrgenommen.
3. Das Bewusstwerden von Vorurteilen und Stereotypen in der eigenen Kindheit als Voraussetzung für professionelles Handeln
Unsere frühkindlichen Sozialisationserfahrungen und Erlebnisse beeinflussen Einstellungen, die für vielfältige Themenbereiche in der Frühpädagogik bedeutsam sind, etwa „Sauberwerden“, „Mittagsschlaf“, „Umgang mit Demütigungen und Grenzen“, „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder „Vorstellungen über Jungen und Mädchen“.
Bereits seit mehreren Jahrzehnten beschäftigt sich die Forschung mit der Entstehung von Vorurteilen im Kindes- und Jugendalter (z. B. Clark/Clark 1940; Katz 1976; McGlothlin/Killen 2006). Aus sozialpsychologischer Sicht werden gegenwärtig unterschiedliche Mechanismen zur Erklärung der Entstehung von Vorurteilen und Stereotypen herangezogen: etwa motivationale Ansätze (z.B. Tajfel/Turner 1986), sozial-kognitive Ansätze (z.B. Aboud 1988, Bigler/Liben 2006) und lerntheoretische Ansätze (z.B. Allport 1971). Im vorliegenden Artikel wird sich auf die soziale Lerntheorie (Bandura 1991) gestützt. In ihr wird davon ausgegangen, dass Vorurteile und Stereotype das Ergebnis sozialer und kultureller Beeinflussung durch die Familie als engste Bezugsgruppe sowie Lehrende, Freunde und Medien sind (vgl. Stroebe 1988, S. 519). Im Zuge des sozialen Lernens übernehmen Kinder die bereits im Elternhaus oftmals generationsübergreifend bestehenden Regeln, Traditionen und Verhaltensweisen und damit auch Vorurteile und Stereotype. Je nach Konformität gegenüber verfügbaren Vorbildern, Reaktionen wie Zustimmung und Ausmaß der Vorurteile und Stereotype der Eltern entstehen individuelle Unterschiede (vgl. Stroebe 1988, 519). Wie einprägsam Vorurteile und Stereotype sind, lässt sich daran erkennen, dass bereits Kinder ab drei Jahren unterschiedliche Kategorien von Vielfalt, etwa äußere Merkmale, wahrnehmen, bewerten und Präferenzen besitzen (vgl. York 2003, S. 5f.). Sie bilden erste Theorien über Unterschiede (vgl. Derman-Sparks 2001, S. 8). Im Alter von sieben oder acht Jahren beginnen Kinder in der sie umgebenden Umwelt Gruppen zu kategorisieren. Stigmatisierende Einstellungen von engen Bezugspersonen oder der Gesellschaft gegenüber Gruppen werden übernommen (vgl. Allport 1971).
Ebenso sind Vorurteile und Stereotype auf Beobachtungen sozialer Rollen oder Unterschiede zwischen sozialen Gruppen und den daraus resultierenden Zuschreibungen bestimmter Fähigkeiten und Eigenschaften zurückzuführen (vgl. Stroebe 1988, S. 509ff). Eagly und Steffen (1984) illustrieren dies exemplarisch an den Kategorien Mann und Frau: Kinder erleben in der Gesellschaft, dass Frauen typischerweise für ihre Erziehung Sorge tragen und ihnen die Eigenschaften Wärme, Zärtlichkeit und Fürsorge zugeschrieben werden. Durch jene rollenbedingten Eigenschaftszuschreibungen entstehen Geschlechterstereotype, die über Generationen fortgeführt und verfestigt werden.
Da lebensgeschichtlich erworbene Deutungsmuster und handlungsleitende Orientierungen Einfluss auf die Handlungspraxis in der Kita haben, erscheint die biografische Selbstreflexion als zwingend notwendig. Vor dem Hintergrund, dass Pädagogik sich insofern von anderen Professionen unterscheidet, weil die Persönlichkeit der pädagogischen Fachkraft unmittelbar in das professionelle Handeln involviert ist, ist dies noch bedeutsamer (vgl. Nieke 2002, S. 21). Die eigenen Prägungen und ihre gesellschaftlichen Ursachen müssen bewusst gemacht werden, damit diskriminierende Handlungen im Kita-Alltag erkannt und Vorurteile und Stereotype, die für Individualität, kritisches Hinterfragen und dem Versuch des Verstehens des Gegenübers kein Raum lassen, nicht selbstverständlich reproduziert werden.
4. Biografische Selbstreflexion über persönlich erlebte Abwertungen und Diskriminierungen
Biografische Selbstreflexion ist ein elementarer Baustein pädagogischer Professionalität (vgl. Kraul/Marotzki/Schweppe 2002a, S. 9). Im pädagogischen Kita-Alltag bedeutet professionelles Handeln unter anderem neben der Anwendung von fachlichem und methodischem Wissen, Nähe und Distanz fallbezogen auszubalancieren, Ungewissheit, Unsicherheit und widersprüchliche Handlungsaufforderungen zu bearbeiten und zu bewältigen (vgl. Ebert 2011, S. 5ff.) sowie die Wahrnehmung zu schulen, um das eigene Vorgehen zu reflektieren und bewusst zwischen Alternativen wählen zu können (vgl. Kraul/Marotzki/Schweppe 2002a, S. 9). Mit Blick auf die pädagogische Beziehung formuliert Gerspach (1998, S. 27):
Pädagogische Fachkräfte „sollen anderen zuhören und sich in sie hineinversetzen können sowie aus der Auswertung ihrer eigenen Alltagserfahrungen Verstehensansätze entwickeln; […] sie sollen die eigenen Emotionen im beruflichen Kontext verstehen und als Reflexionsansätze nutzen; […] sie sollen ihre Emotionen und Eindrücke im Austausch mit anderen sinnvoll einbringen können, damit sie ,Motor´ eines ,förderlichen Dialogs´ sind; […] sie sollen über eine institutionelle Reflexivität verfügen, mit deren Hilfe sie in angemessener ,Abstinenz´ jene vertiefte Beziehungsreflexivität fruchtbar machen können, ohne doch die Grenzen ihrer professionellen Rolle zu verletzten“.
Eine solch geartete Professionalität beinhaltet eine reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie. Biografie umfasst „eine im lebenslangen Prozess erworbene Aufschichtung und Interpretation von Erfahrungen, die bewusst oder unbewusst in unsere Weltdeutung und heutiges Handeln eingehen“ (Gudjons/Wagener-Gudjons/Pieper 2008, S. 21). Dabei handelt es sich um die Lebensbeschreibung einer Person, wobei Daten und Fakten je nach Bedeutung individuell interpretiert werden (vgl. Miethe 2014, S. 12). Biografien besitzen also bestimmte Merkmale (vgl. Miethe 2014, S. 13ff.): Sie sind bedeutungsstukturiert, das heißt, Menschen schreiben Ereignissen abhängig von ihren Erfahrungen unterschiedliche Bedeutungen zu. Damit sind sie subjektive Konstruktionen, die neben dem subjektiven Erleben auch Hinweise auf gesellschaftliche Verhältnisse umfassen. Jeder Mensch entwickelt demnach eine eigene Perspektive auf die Welt. Darüber hinaus sind Biografien kumulierte Erfahrungen und prozesshaft. Dies bedeutet, sie sind nicht statisch, sondern unterliegen Veränderungen und steter Dynamik.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie erfährt vor allem in den Bereichen der Erwachsenenbildung, der Jugendhilfeplanung und Erziehungshilfe, in der Schule und in der Altenhilfe besondere Aufmerksamkeit. Im Kita-Kontext wird dies als Möglichkeit gesehen, die Lebensgeschichten der Kinder und Eltern besser kennen und verstehen zu lernen. Erst langsam dringt ins Bewusstsein, dass die lebensgeschichtlichen Erfahrungen pädagogischer Fachkräfte die pädagogische Arbeit erheblich beeinflussen und biografische Selbstreflexion in diesem Zusammenhang eine Ressource darstellt. Kaum Berücksichtigung findet die Erkenntnis, dass sich individuelle Prägungen, die durch erfahrene und erlebte Abwertungen und Verletzungen sowie durch gesellschaftliche Strukturen und institutionelle Formen von Diskriminierung beeinflusst sind, bewusst gemacht werden müssen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sie im pädagogischen Handeln unbewusst reproduziert werden. Wenn Pädagog_innen nicht diese „im Laufe der eigenen Sozialisation erlittenen Beschädigungen [...] unbesehen an die Nachgeborenen weiterreichen [wollen], [dürfen sie] sich [selbst] gegenüber [...] nicht wie ein Analphabet verhalten bzw. das eigene Selbst nicht wie einen unentdeckten Kontinent mit sich herumschleppen“ (Schiek 1997, 1309f).
Bei der biografischen Selbstreflexion handelt es sich um eine angeleitete Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Sie dient dem gegenwärtigen Verständnis von Zusammenhängen und ermöglicht die Zukunft zu gestalten (vgl. Miethe 2014, S. 11). Insbesondere die eigene Kindheit gilt dabei als besonders sensible Phase: Ein Kind ist physisch und psychisch auf die Versorgung durch seine Umwelt angewiesen. Seine Wahrnehmung, kognitive Leistungen sowie sozial-emotionale und motivationale Kompetenzen hängen von seinen Sozialisationsbedingungen ab, insbesondere den Prozessen in der Familie (vgl. Schneewind 1991).
Mit Hilfe des „autobiografischen Gedächtnisses“ (Markowitsch/Welzer 2005) ist es möglich, sich bildhaft an die eigene Kindheit zu erinnern. Szenen und Situationen werden vor dem „innerem Auge“ lebendig (vgl. Gudjons/Wagener-Gudjons/Pieper 2008, S. 13). Indem die Entstehung von Ängsten, Vermeidungsstrategien, Abneigungen, Vorurteilen und Stereotypen in der eigenen Kindheit im Kontext der damaligen gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Verhältnisse betrachtet und reflektiert werden, erhöht sich das Verständnis sich selbst gegenüber. Ebenso „gewinnen wir Verständnis für andere Menschen, revidieren vorschnelle Urteile und lernen Toleranz“ (Gudjons/Wagener-Gudjons/Pieper 2008, S. 21). Zudem verhindern Erkenntnisse über alltägliche Erlebnisse in der eigenen Kindheit, etwa Erfahrungen beim Essen, Sauberwerden und Schlafen und das Verhältnis zu Autoritäten und Geschlechtern, dass eigene Anteile unbewusst auf anvertraute Kinder und/oder deren Eltern oder Teamkolleg/innen projiziert werden. In der Kindheit erlebter Zwang, Demütigung oder Strafe, beispielsweise beim Thema Aufessen, kann unbewusst zu Wiederholungen beziehungsweise zum Weiterwirken in der Interaktion mit Kindern führen; neues Fachwissen findet keine Berücksichtigung. Ein Erkennen und Verstehen „des eigenen Erzogen-Seins“ (Stiller 1999, S. 192) ist also notwendig. Damit handlungsleitende Orientierungen nicht unreflektiert ihre Wirkung entfalten, sollte sich im professionellen Kontext gezielt, strukturiert und kontinuierlich mit der eigenen Biografie auseinandergesetzt werden. Dadurch können gegenwärtig vorhandene Handlungs- und Denkmuster erkannt und verstanden und daraus zukünftige Handlungsalternativen entwickeln werden, beispielsweise für die Interaktion zwischen der pädagogischen Fachkraft und dem Kind oder den Eltern.
Für eine in der Kita-Praxis verankerte kontinuierliche biografische Selbstreflexion steht insbesondere die Kita-Leitung vor Herausforderungen. Oftmals erzeugt das Thema „biografische Selbstreflexion“ Abwehrreaktionen bei pädagogischen Fachkräften. Aussprüche wie „Ich habe keine Vorurteile“, „Was bringt mir das für die Praxis?“, „In meiner Kindheit war alles schön“ oder „Das ist doch alles altes Gewäsch und hat nichts mit meiner Arbeit jetzt zu tun“ sind Hinweise darauf, dass möglicherweise Gewohntes und Erreichtes bewahrt werden möchte, Anstrengungen vermieden werden sollen, Ängste vor Abwertungen oder Veränderungen bestehen, von der eigen Person abgelenkt werden soll oder die Praxisrelevanz nicht erkannt wird.
Grundsätzlich kann dem durch eine vertrauensvolle Beziehung und eine kontinuierliche biografische Arbeit in professionellen Settings, etwa in Dienstberatungen oder pädagogischen Beratungen, begegnet werden. Dabei sollte die biografische Reflexion als regelmäßiger Bestandteil integriert werden. Fokussiertes Zuhören, weniger zu argumentieren und sich zu rechtfertigen, detailliert zu erzählen, durch Perspektivwechsel die Position des Gegenübers einzunehmen, die eigenen Emotionen und Eindrücke im beruflichen Kontext zu verstehen und als Reflexionsmöglichkeiten zu nutzen sowie Brücken zu theoretischen Bezügen zu bauen, müssen von pädagogischen Fachkräften eingeübt werden (vgl. Gerspach 1998, S. 27).
Sinnvoll erscheint es zudem, biografische Selbstreflexion an konkrete Besprechungsanlässe zu binden, etwa an alltägliche Interaktionen und Situationen und anschließend theoretisches Fachwissen zu vermitteln. Dadurch erhöhte sich die Bedeutsamkeit der biografischen Reflexion und der Zusammenhänge zur Handlungspraxis. Zugänge für neues Fachwissen werden eröffnet.
Durch den Austausch im Team werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich. Offensichtlich wird etwa, dass Teammitglieder mit anderen Erfahrungen und Erlebnissen unterschiedliche Werte und Normen besitzen; die eigenen Selbstverständlichkeiten sind demnach subjektiv (vgl. Gramelt 2010, S. 163).
Grundsätzlich gilt, biografische Selbstreflexion sollte auf Basis der Freiwilligkeit stattfinden. Keine pädagogische Fachkraft sollte sich gezwungen fühlen, biografisch zu arbeiten.
5. Mit der eigenen Biografie in der Kita arbeiten – ausgewählte praxiserprobte Methoden
Im Folgenden werden drei praxiserprobte Methoden vorgestellt, die eine Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie im Kita-Alltag anregen. Da erfahrungsgemäß zeitliche Ressourcen für eintägige beziehungsweise mehrstündige Fortbildungen sehr eingeschränkt sind, werden Methoden fokussiert, die in eineinhalb bis zweistündigen Dienstberatungen oder pädagogischen Beratungen angewendet werden können (in Abhängigkeit der Gruppengröße). Zudem sollen Anknüpfungspunkte an die Kita-Praxis angezeigt werden.
a) Übung „Lerngeschichten“
(Quelle: vgl. Cantzler 2014, Gudjons et al. 1986)
Ziele: anlassbezogen (konkretes Praxisbeispiel) biografisch reflektieren, Erkennen des eigenen Involviertseins, das heißt der eigenen Anteile im Beziehungs- und Interaktionsgeschehen
Dauer: ca. 2h / Material: Notizblock, Stifte
Ablauf: Gesprächsanlass ist eine Auseinandersetzung von Kolleg_innen über die Gestaltung von Essenssituationen. Hinweis: Erinnerungen und ein emotionaler Zugang zur Vergangenheit können durch das Einbeziehen von Medien, zum Beispiels Fotos, und Gegenstände angeregt (vgl. Cantzler 2014, 12). Die pädagogischen Fachkräfte erhalten die folgenden Aufgaben:
- Erinnern Sie sich an typische Erziehungs- oder Lernsituation beim Essen. Beschreiben Sie diese Erfahrungen schriftlich. Hinweis: Möglich sind auch mündliche Erzählungen.
- Überlegen Sie, welche Lebenssituation beziehungsweise gesellschaftlichen Verhältnisse damals die Erziehungs- oder Lernsituation beeinflusst haben könnte.
An dieser Stelle bietet es sich an, dass Teammitglieder auf Basis der Freiwilligkeit ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit der Gruppe teilen. Abschließend kann dies mit aktuellem Fachwissen und Erkenntnissen über gegenwärtige Lebensverhältnisse verbunden werden.
b) Übung „Erlebte Vorurteile“
Ziele der Methode: Reflexion persönlich erlebter Vorurteile und die damit verbundenen, zum Teil bis heute noch schmerzenden Gefühle, Transfer zur Kita-Praxis
Dauer und Material: ca. 1h 30Min / Moderationskarten, Stifte
Ablauf: Die pädagogischen Fachkräfte erhalten die folgenden Aufgaben:
- Notieren Sie sich Vorurteile, die Ihnen während Ihrer Kindheit, gegenwärtig und/oder „Ihrer“ Kita persönlich begegnet sind oder begegnen. Hinweis: jeder min. 2-3 Vorurteile, 1 Vorurteil auf 1 Moderationskarte, den pädagogischen Fachkräften genügend Zeit geben, es sollten keine Gespräche stattfinden. Falls es Verständnisschwierigkeiten gibt, bietet die Fragestellung „In welche Schublade wurden Sie bereits gesteckt?“ eine Hilfestellung.
- Notieren Sie, wie Sie sich jeweils gefühlt haben?
- Notieren Sie, wer oder was Ihnen geholfen hat bzw. welches Verhalten hätten Sie sich erwünscht?
Nachdem die Erzieher_innen sich den Aufgaben gestellt haben, clustern sie als Team die Ergebnisse in drei Spalten. Spalte 1 = Vorurteile, Spalte 2 = zugehörige Gefühle, Spalte 3 = Was geholfen hat oder hätte. Die 3. Spalte bietet Anknüpfungspunkte zum Praxistransfer. Durch das Clustern wird den pädagogischen Fachkräften optisch verdeutlicht, dass jeder mit Vorurteilen konfrontiert wurde und die damit verbunden Gefühle oftmals negativ sind. Sie schmerzen und wirken zum Teil bis heute nach. Niemand kann vor negativen Vorurteilen und Stereotypen beschützt werden. Damit die Sammlung von Vorurteilen und die zugehörigen meist negativen Gefühlen wirken und wahrgenommen werden können, sollte Zeit gegeben werden. Anschließend stellen die Erzieher_innen auf Basis der Freiwilligkeit erlebte Vorurteile mit den zugehörigen Gefühlen vor. In der Abschlussreflexion sollte der Fokus darauf liegen, was in der Situation geholfen hat oder hätte, etwa Selbstvertrauen, Gespräche, Mut sich dagegen zu stellen oder bestärkt werden. Damit wird auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten verwiesen, die bei den Kindern unterstützt werden sollten. Es steht damit die Frage im Raum, was tun wir als Kita bereits und wie können wir zukünftig agieren?
c) Übung „Erwachsenensätze“
(Quelle: in Anlehnung an Institut für den Situationsansatz/Fachstelle Kinderwelten (2017)
Ziele: Reflexion persönlich erlebter normativer, defizitorientierter „Erwachsenensätze“, durch die Dominanz signalisiert wird, Reflexion eigene.r diskriminierender Sätze, Transfer zur Kita-Praxis
Dauer / Material: ca. 1h 30Min / Moderationskarten, Stifte, Pinnwand, Flipchartpapier
Ablauf: Die pädagogischen Fachkräfte erhalten folgende Aufgaben:
- Finden Sie sich in Kleingruppen zusammen und erstellen Sie eine Liste von elterlichen Kernsätzen, die Sie als Kind gehört haben.
Als Anregung können Ihnen die folgenden Sätze dienen: „Du kriegst keine Extrawurst […] Dazu bist du noch zu klein […] Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt […] Mußt du immer das letzte Wort haben […] Nimm dich zusammen […] So ein großes Kind und dann sowas […] Ein Junge weint doch nicht […] Du hast überhaupt keinen Grund […] Sei nicht so vorlaut“ […] Typisch Anita“ (Weimann 2018).
- Tauschen Sie sich in der Gruppe über Ihre Gefühle aus, wenn Sie als Erwachsener mit solchen Sätzen konfrontiert werden und was solche Äußerungen Kindern gegenüber bewirken. Halten Sie dies auf Moderationskarten fest. Empfehlenswert ist es, die Ergebnisse im Plenum zu präsentieren.
- Besprechen Sie im Kleinteam konkrete Situationen aus Ihrem Kita-Alltag, in der Ihnen einer dieser Sätze „rausgerutscht“ ist, diskutieren Sie mögliche Motive und formulieren Sie die Aussprüche gemeinsam in anerkennende Aussagen um.
Abschließend sollte sich noch einmal im Plenum darüber ausgetauscht werden, welche Bedeutung die gewonnen Erkenntnisse für jeden Einzelnen in der Kita-Praxis besitzen.
6. Fazit
Insgesamt bedarf die Verankerung von biografischer Selbstreflexion in der Kita-Praxis Zeit, Geduld Ausdauer und vor allem Mut. Frühkindlich erworbene Denk- und Handlungsmuster können nicht innerhalb weniger Wochen verändert werden. Positive Auswirkungen zeigen sich jedoch in der Kommunikation mit Eltern, Teamkolleg_innen und Kindern zeitnah.
Hinweis zum Text
Die schräggedruckten Zitate stammen aus Interviews und Protokollen von Teilnehmer/innen des Projektes „Kivobe-Kindern vorurteilsbewusst begegnen“.
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