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Zitiervorschlag

Ästhetische Bildung - auch für Kinder von 0 bis 3: Impulse aus Reggio Emilia

Tassilo Knauf

 

Kinder sind Forscher und Künstler! Sie wollen durch Experimente, durch Versuch und Irrtum ihre Handlungskompetenz erweitern. "Der empörte Ausruf, eines der am frühesten eroberten und am häufigsten gebrauchten Worte: 'selber' oder '(a)lleine', bekräftigen das unbändige Verlangen, selbst Protagonist seines Tuns und Versuchens zu sein. Es bedeutet: Ich will selbst herausfinden, wie es sich anfühlt, eine Treppe emporzuklimmen und dabei größer und größer zu werden" (Stenger 2001, S. 184).

Loris Malaguzzis Gedicht "Die hundert Sprachen des Kindes" beginnt mit der Behauptung:

"Das Kind besteht aus 100,
100 Sprachen, 100 Händen,
100 Weisen zu sprechen,
zu denken, zu spielen
und zu träumen..." (abgedruckt in PÄD Forum Juni 2001).

Malaguzzi, in den 60er bis späten 80er Jahren des 20. Jahrhunderts Koordinator und Inspirator der kommunalen Kindertagesstätten im norditalienischen Reggio Emilia, verbindet in diesen Gedichtzeilen die Aktionskategorien Kommunikation, gegenständliches Handeln, Reflexion, zweckfreie, lustvolle Aktion und Imagination, Fantasieentwicklung. Damit wird eine Brücke geschlagen zwischen dem rationalen, forschenden und dem kreativen, künstlerischen Handeln, und es wird zugleich auf die Aktionselemente der in der Reggio-Pädagogik so bedeutungsvollen Projekte verwiesen:

  • Erkundend-experimentelles Handeln
  • Nachdenken über Wirkungszusammenhänge
  • Kommunikation über Handlungen und Hypothesen
  • Assoziationen und Fantasien... (vgl. Knauf u.a. 2007, S. 133 f.).

Es sind dann auch die Projekte, in denen in der Reggio-Pädagogik Kinder als Forscher tätig sind, z.B. wenn sie herausbekommen wollen, wieso es manchmal regnet, was eigentlich Schatten ist, was man alles mit einem Spiegel machen kann. Und zugleich sind es Projekte, in denen Kinder einen wunderbaren Saurier aus Draht, Wolle und bemaltem Papier gestalten, die Mohnblumen, die sie auf dem Ausflug am Vortag gesehen und gefühlt haben, aus der Erinnerung aufs Papier tuschen oder die Fassadenfiguren des städtischen Theaters in Ton eigenwillig nachgestalten.

Unter Dreijährige und Kreativität

Die genannten Beispiele scheinen wenig mit den gestalterischen oder kognitiven Möglichkeiten von Kindern unter drei Jahren zu tun zu haben. Eine solche, zunächst naheliegende Einschätzung hat viel mit unserer gewohnten Sicht auf Entwicklung und Normalität zu tun. Die Reggio-Pädagogik hat schon vor 40 Jahren einen Perspektivenwechsel geleistet: Die damals neu gegründeten oder vom kommunalen Träger übernommenen Einrichtungen waren von vorneherein als Einrichtungen konzipiert, die alle Kinder aufnehmen, unabhängig von ihren individuellen Voraussetzungen und ihrem Lebensalter (vgl. Knauf u.a. 2007, S. 124). Dabei ging es nicht um die Berücksichtigung spezifischer Förderbedarfe oder Entwicklungsstufen, sondern um die Begleitung der Kinder bei ihrem aktiven Hineinwachsen in Zivilisation und Kultur und bei der Erweiterung ihrer Kompetenzen.

Der Kreativität kommt in der Reggio-Pädagogik eine außerordentliche Bedeutung zu. Carla Rinaldi, nach Malaguzzis Tod die führende Pädagogin in Reggio Emilia, definiert: Kreativität ist "...wie ein Potential, das das Leben jedes Menschen begleitet und zu einer der Spuren wird, die die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit der Person ausmachen. Zugleich ist die Kreativität ein Charakteristikum jedes Menschen, unabhängig vom Lebensalter..." (Rinaldi 1995, S. 9; übersetzt vom Verf.). Sie betont, dass gerade in den ersten Lebensjahren Kreativität sich mit der unbegrenzten Explosion neuronaler Strukturen im menschlichen Hirn entfaltet; denn "...jeder Lernakt ist ein kreativer Akt, nicht weil dabei notwendigerweise etwas Neues entsteht, sondern weil dem Individuum im Lernen etwas Neues begegnet" (Rinaldi 1995, S. 15; übersetzt vom Verf.). Die aktuelle psychologische Säuglingsforschung bestätigt dies (vgl. Pauen 2008, S. 13).

Die ästhetische Praxis der unter Dreijährigen

Die Reggio-Pädagogik geht davon aus, dass ein Recht und Bedürfnis des Kindes auf dialogische Begleitung bei all seiner Autonomie bestehen bleibt. Dabei übernimmt die Erzieherin vor allem die Rolle der (Mit-) Forscherin, die mit dem Kind an der Entschlüsselung der Geheimnisse der Welt arbeitet: Warum regnet es? Warum ist Alexander heute so traurig?

Das gemeinsame Suchen nach Erklärungen verbindet fast immer Kognitives mit Emotionalem: Sammeln von Wissen, Abwägen von Argumenten, aber auch das Aufspüren von Dingen, die uns gemeinsam faszinieren und begeistern (vgl. Knauf u.a. 2007, S. 130). Carla Rinaldi spricht davon, dass so die Einrichtung zu einem "...Ort der Ko-Konstruktion von Kultur und Wissen wird" (Rinaldi 1995, S. 12; übersetzt vom Verf.). Voraussetzungen dafür sind das einfühlsam verstehende und reflektierende Beobachten (vgl. ebda.) und die Schaffung einer Atmosphäre des Wohlbefindens und Vertrauens (vgl. Knauf u.a. 2007, S. 137 f.).

Dabei sind ästhetische Aktionen nicht etwas Spezielles, sondern beziehen sich auf das noch ganzheitliche Handlungsrepertoire der Kinder mit folgenden Elementen:

  • Wahrnehmen/Beobachten
  • Imitationshandlungen
  • Experimentieren
    - mit Nähe und Distanz
    - mit Bindung und Loslassen
    - mit Ursache und Wirkung
    - Führen und Folgen
  • Inszenierung von Wiederholungsreizen und von Aktivierungszirkeln (Anspannung und Entspannung), z.B. Verstecken - Suchen - Finden und gefunden Werden.

Dabei machen Kinder Erfahrungen mit

  • verschiedenen Materialien
  • Werkzeugen
  • dem Verändern von Gegenständen (auseinander Nehmen, neu Zusammensetzen, Verformen und Verändern)
  • dem Erkennen und Verfremden von Funktionen
  • dem Aufbauen von emotionalen Beziehungen zu Objekten, dem sich "Verlieben" in Gegenstände (vgl. Stenger 2001, S. 182 f.).

Sinne, Dinge, Dokumente und Werke

Sinnlich-gegenständliche Erfahrungen fordern Kinder dazu heraus, ihre Erfahrungen festzuhalten, sie in vorzeigbare und besitzbare Werke zu überführen. Die entstehenden Bilder und Objekte sind Konstruktionen und keine Abbildungen. Die Ähnlichkeit zwischen realem und gemaltem/ gezeichnetem Gegenstand ist zunächst gering; gezeichnete Kreise können für einen Menschen wie für ein Fahrzeug stehen. Das Kind definiert das Zeichen und lädt es dadurch mit persönlicher Bedeutung auf. Es ärgert sich zunächst nicht, dass es einen Menschen noch nicht identifizierbar darstellen kann. In den geschaffenen Bildkonstruktionen stehen die individuell bedeutungsvollen Requisiten der Welt neben Wunsch- und Fantasievorstellungen.

Oft schubweise beginnt die Ausdifferenzierung des Zeichenrepertoires, wenn Kinder unzufrieden mit der Struktur ihrer Zeichnungen werden. Es kommt zur partiellen Neucodierung der Wirklichkeitskonstrukte. Dabei stoßen Kinder auf neue Möglichkeiten wie auf Widerstände, wenn sie mit noch unerprobten Materialien, Werkzeugen oder mit komplizierteren Themen umgehen.

Bilder werden von Kindern gedanklich, emotional und sinnlich geschaffen. Sie sind Ausdruck und Dokument ihrer Interessen und Fantasien. Sie sind zugleich ihre Werke, in denen Kinder im Sinne des von Erik Erikson beschriebenen "Werksinns" sich als Person und als Träger von Fähigkeiten ausdrücken (vgl. Erikson 1997, S. 105). Die Bilder sind darüber hinaus Medien, mit denen Kinder Erwachsenen und anderen Kindern etwas mitteilen wollen. Der mediale Aspekt ist oft so stark, dass Bilder nur für das Zeigen gestaltet werden oder als Geschenke konzipiert werden, die als Beziehungsbotschaften wirken sollen.

Die Bilder der Kinder erfahren in der Reggio-Pädagogik eine besondere Wertschätzung. Es wird fast nichts ins Altpapier gegeben. Dies fördert die Sorgfalt beim Erstellen der Bilder. Die meisten Bilder werden, thematisch und ästhetisch geordnet, an den Wänden ausgestellt, mit Fotos der Entstehungsprozesse und Kinderaussagen sowie Überschriften und Kurzkommentaren kommentiert und so zu "sprechenden Wänden" (Knauf u.a. 2007, S. 135).

Ästhetisches Denken und kreatives Gestalten

Das spezifisch Ästhetische von Gestaltungsprozessen liegt oft in dem Antrieb, eigene Wünsche und Träume sichtbar zu machen. Dafür bedarf es oft der Anstöße von Erwachsenen, z.B. im Aufzeigen von Freiräumen, damit "...Kinder ohne fremdbestimmte Bastelanleitungen, eigene 'wilde' Handlungsmöglichkeiten und Denkweisen entwickeln können" (Kohlhoff-Kahl 2007, S. 8). Das traditionelle Basteln kann damit von der Schablonen-Abhängigkeit gelöst und wieder zu einem individuellen, kreativen Prozess werden. Voraussetzung ist die Verfügbarkeit verschiedener Materialien (auch Abfälle) und Werkzeuge, die etwa in Materialstationen Kindern zur Eigentätigkeit stimulieren.

Literatur

Erikson, Erik: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M. 1997

Knauf, Tassilo: Bewegung, Wahrnehmung und Gestaltung. In: Topsch, Wilhelm/Moschner, Barbara (Hrsg.): Schulstart. Didaktische Perspektiven für das erste Schuljahr. Bad Heilbrunn 2008, S. 168-186

Knauf, Tassilo u.a.: Handbuch pädagogische Ansätze. Berlin 2007

Kohlhoff-Kahl, Iris: "Born to be wild" (wildes Basteln). Grundschulzeitschrift 2007, Heft 202, S. 4-8

Pauen, Sabina: Alles Leben ist Problemlösen... Wie Babys ihre Umwelt mit Sinn und Verstand entdecken. TPS 2008, Heft 7, S. 10-13

Rinaldi, Carla: Riflessioni sulla creatività. In: Rinaldi, Carla/Cagliari, Paola: Educazione e creatività. Reggio Emilia 1995, S. 7-14

Stenger, Ursula: Grundlagen der Reggio-Pädagogik: Bild vom Kind. PÄD Forum 2001, Juni-Heft, S. 181-186