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Zitiervorschlag

Glück und Gewinn: das Singen mit Kindern. Ein Interview mit der Opernsängerin und Diplom-Musikpädagogin Catherine Veillerobe

Jasmin Zimmer

An den nordrhein-westfälischen Fachschulen für Sozialpädagogik sind für den Bereich „Sozialpädagogische Bildungsarbeit in den Bildungsbereichen professionell gestalten“ 600-680 Unterrichtseinheiten für insgesamt 10 verschiedene Bildungsbereiche vorgesehen. Musik gehört zum Bildungsbereich „Musisch-ästhetische Bildung“ (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen) und umfasst neben Musik auch Kunst. Als Fachschuldozentin sehe ich Jahr für Jahr die Unzulänglichkeit dieses Ansatzes:  In einer dreijährigen Ausbildung zum/r Erzieher/in wird an 3,5 Modultagen mit je 10 Unterrichtseinheiten (UE) das Thema Musik behandelt, um die Vorgaben des Landes zu erfüllen. Bietet man also noch 3,5 Modultage im Themenbereich Kunst an, hat man bereits 70 UE (also mehr als die vorgesehenen 10%) zum Bereich „Musisch-ästhetische Bildung“ absolviert. Singen (wie auch allgemein Musizieren) lernt man aber nur durch Regelmäßigkeit. Ein Liedrepertoire, das alle Jahreszeiten und Feste umfasst, aufzubauen, ist in dreieinhalb Tagen nicht zu bewerkstelligen. Auf Nachfragen und Bitten meiner Studierenden entschloss ich mich daher – auf freiwilliger Basis – eine Kinderlieder-AG anzubieten. Dort stellten die Studierenden nicht nur viele Fragen zum jahreszeitlichen Liederkanon, sondern auch dazu, wie sie am besten mit Kindern singen sollten. Diese Fragen sammelte ich, ergänzte sie mit meinen Beobachtungen aus den Praxiseinrichtungen und stellte sie der Opernsängern und Diplom-Musikpädagogin Catherine Veillerobe.

In der folgenden Transkription des Interviews werden neben dem genderneutralen „Erzieher/innen“ bewusst die weibliche Form Erzieherin oder die männliche Form Erzieher verwendet, da sich das Thema kindgerechtes Singen bei Frauen und Männern unterschiedlich darstellt.

Frau Veillerobe, Sie geben Fortbildungen für Erzieher/innen und solche, die es werden wollen, zum Thema kindgerechtes Singen. Warum ist Ihnen dieses ein Anliegen? Was haben Sie im Alltag der Kindergärten beobachtet?

Wir beobachten ganz allgemein, dass das Singen in der Gesellschaft mehr und mehr versickert und verloren geht, sowohl in den Familien, in den Kitas, in Familienzentren, bei den Tagesmüttern. Deswegen versuche ich mit den „Toni singt“-Fortbildungen in NRW oder mit den interkulturellen Familien Singworkshops, die ich selbst konzipiert habe, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie sehr das Singen die Kinder in ihrer Entwicklung unterstützt. Es ist enorm wichtig, mit Kindern im Alltag zu singen, in den täglichen Ritualen und überhaupt immer da, wo es sich anbietet. Beim Rumalbern genauso wie beim Aufräumen.

In der Bildungsvereinbarung des Landes NRW gibt es 10 Bildungsbereiche. Warum hat die musisch-ästhetische Bildung für Sie eine höhere Wichtigkeit als die anderen Bereiche?

Dazu würde ich gerne wissen, welches die anderen neun Bereiche sind, um wirklich sagen zu können, ob das Eine für mich wichtiger ist als die anderen Bereiche. Da ich selbst aber aus dem Musikbereich komme, vom Theater, von der Oper und da aus dem Exzellenzbereich, ist es sicher so, dass mir die Musik besonders am Herzen liegt. Abgesehen von meinen persönlichen Präferenzen ist wissenschaftlich erwiesen, dass die ästhetisch-musische Bildung die Kinder in ihren sozialen Kompetenzen, in den kommunikativen Kompetenzen sowie in ihrem Empathieempfinden fördert. Bei der Sprachförderung hat man sogar festgestellt, dass Musik, respektive Rhythmus, effektiver stimuliert, als ein ganz direkter sprachlicher Angang. Gerade wenn Alt und Jung zusammen singen, gibt es wertvolle Lerneffekte. Und wenn dann noch mit Bewegung und Tanz das Singen zu einer ganzheitlichen Betätigung wird und der sogenannte „flow“ entsteht, wird das Wohlbefinden des Menschen erheblich gesteigert. Singen macht glücklich!

In vielen Kindergärten wird von den Erzieherinnen eher tief gesungen und die Kinder werden animiert möglichst „feste“ oder „kräftig“ zu singen, was eher als „laut“ interpretiert wird. Was meinen Sie dazu und welche Auswirkungen kann dieses auf die Stimme der Kinder haben?

Das sind jetzt zwei große Felder: Was bedeutet das eher tiefe Singen der Erzieherinnen für die Kinder und dann, was hat das laute Singen möglicherweise für Auswirkungen auf die Kinderstimmen.

Erstmal müssen wir froh sein über jede Erzieherin, die überhaupt singt, die also den Singimpuls in sich verspürt und an die Kinder heranträgt und sie somit ja in das ästhetisch-musische Feld hinein führt. Diesen Vorgang begrüße ich schon vom Grund her. Warum Erzieher/innen manchmal tief singen, ist häufig darauf zurück zu führen, dass sie noch nicht davon gehört haben, dass das kindgerechte Singen sich eben nicht in der Frauenstimmen-Sprechlage abspielt.

So wie in Kindergärten, angepasst an die Körpergrößen der Kinder, alle Möbelstücke, alle Toiletten und Waschbecken tiefer hängen und auch pädagogische Fachkräfte während ihrer Ausbildung lernen, dass sie sich zu den Kindern herunter beugen, damit sie auf Augenhöhe mit den Kindern kommen, so ist es vergleichbar, dass Erzieher/innen mit den Kindern auf Stimmhöhe kommen. Das bedeutet: erst einmal lauschen, rein hören, wie die Kinder klingen, wo die Kinderstimmen überhaupt angesiedelt sind, um sich ihnen dann, in der Folge, möglichst anzunähern. Das ist mit einem gewissen Bewusstsein verbunden, vergleichbar mit der Mühe, die es für Erzieherinnen bedeutet, sich ihr ganzes Berufsleben zu den Kindern herunter zu beugen, auf die Knie, in die Hocke, um nicht von oben auf die Kinder einzuwirken. Stimmlich kann man sich auf die Kinder genau so zubewegen, wie man das körperlich tut.

Zu den Auswirkungen des lauten Singens: an sich ist es ja nicht verkehrt zum Singen oder zum kräftigen Mitsingen zu animieren. Allerdings wäre es dazu erforderlich, dass die Erzieher/innen ausgeprägte Klangvorstellungen vom kindgerechten Singen hätten. Was ich häufig zurückgemeldet bekomme, ist, dass die Kinder, wenn sie denn fest und kräftig mitsingen wollen und sollen und dies auch tun, dass sie dann schnell in ein Rufen und Schreien geraten, was dann nicht mehr sehr viel mit Singen zu tun hat. Das speichert sich für die Kinder dann als kräftiges Singen ab. Dieses Hinausrufen dient womöglich noch dem Spannungsabbau der Kinder, entbehrt aber der oben genannten positiven Effekte der Förderung. Wenn Kinder auf Dauer laut und tief rufen oder schreien und nicht in eine flexible kindgerechte Stimmgebung finden, besteht sogar die Gefahr einer Stimmschädigung. Bedauerlich wäre, wenn Kindern dadurch der Zugang in ihre eigentliche Singlage verwehrt würde. Dort kommen sie am besten hin, wenn sie mit feiner Stimmgebung ihre eigenen Kinderstimmen in ihrer ureigenen Klangform wahrnehmen und als Singen begreifen und so immer und immer wieder zum Singen kommen.

Man hört immer wieder unterschiedliche Bezeichnungen zu der Stimme: Sprechstimme, Singstimme, Bruststimme, Kopfstimme. Was ist denn nun was? Sie sprechen von einer Begrenzung der Stimme und dass es wichtig sei, die Flexibilität der Stimme zu erhalten. Was meinen Sie konkret damit?

Sprech- und Singstimme ist glaube ich klar, das hatte ich eben erläutert. Diese Ruf- und Schreistimme hat deutlich mehr Bruststimmanteile, denn auch die Kinderstimme hat Bruststimmanteile. Die Bruststimme bringt physiologisch mit sich, dass die Stimmlippen einen erhöhten Masseeinsatz zeigen. Wenn dieser erhöhte Masseeinsatz im Stimmgebrauch überhand nimmt, wird es immer schwieriger in die leichte Randschwingung, also in die gewünschten Kopfstimmschwingungen zurück zu finden. Gesunde, ausgeglichene Kinderstimmen bewegen sich hauptsächlich in dem Kopfstimmbereich. Rein physiologisch, betrachtet man die Resonanzräumen aber auch die Körperproportionen – der Kopf ist im Verhältnis zum Körper viel größer als bei uns Erwachsenen – sind Kinder beim Singen in diesem Kopfstimmbereich natürlicherweise zu Hause. Kinder lernen durch Vorbilder. Wenn sie von den pädagogischen Fachkräften tiefes oder/und lautes Singen hören, ist es für sie sehr schwierig, alleine in ihre Kopfstimmigkeit zu finden. Die Singstimme beim Kind sollte sich in diese Kopfstimmigkeit hinein orientieren, die Sprechstimme beim Kind wird ebenfalls hauptsächlich von der Kopfstimme bestimmt sein, hat aber auch einen gewissen Bruststimmanteil, es ist immer eine Mischung.

Bei der Erwachsenenstimme ist es so, dass man je nach Stimmtyp oder Stimmfach als Sopran, Alt, Tenor oder Bass, dementsprechend mehr Anteile von Kopf und Brust benutzt. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden, wächst der Körper, der Kehlkopf senkt sich ab, der Brustkorb wächst und die Brustresonanz wird beim Sprechen immer stärker mit reingenommen. Bei Männern ist dieser Prozess nochmal stärker ausgeprägt. Da wird noch mehr Brustresonanz eingemengt, es kommt immer mehr Brust hinzu, auch beim Singen. Da liegt ein großer Unterschied zwischen der Männer- und der Frauenstimme. Frauen sind weiterhin von der Kopfstimme bestimmt, sind näher an der Kinderstimme als die Männer. Bei der Mutation, dem Stimmbruch, geht ein beträchtliches Kehlkopfwachstum vonstatten – die tiefen Männerstimmen sacken dabei richtig runter.

Viele pädagogische Fachkräfte sagen selber von sich aus, dass Sie wissen, dass sie nicht kindgerecht singen. Ist es denn nicht besser, es wird überhaupt und nicht kindgerecht, als gar nicht gesungen?

Das ist eine ideologische Fragestellung. Dazu gibt es wirklich sehr konträre Meinungen. Ich persönlich finde: Lieber gesungen als nicht gesungen. Vorhin sprach ich bereits an, als wie wertvoll ich den Singimpuls einer jeden Erzieherin empfinde. In diesem Moment ist sie ein singender Mensch und dadurch schon in ihrer Freude am Singen ein Vorbild für das Kind. Ein singender Mensch vermittelt nicht nur den reinen Klang, sondern transportiert auch immer tiefgreifende Gefühle und ganze Lebenswelten, die ihn bestimmen (vgl. Göstl 2016).

Abgesehen davon ist Sprachförderung beispielsweise schon mit rhythmischen Spielen und Tänzen möglich. So können Erzieher/innen musikalisch-ästhetisch Gutes für die Kinder bewirken, auch jenseits vom kindgerechten Singen.

Früher wurde im sozialen Umfeld der Kinder viel mehr gesungen (zu Hause, bei der Arbeit, in der Schule) und es wurde nicht auf eine kindgerechte Lage geachtet. Warum ist es so wichtig, nun auf eine kindgerechte Lage zu achten?

Früher wurde tatsächlich mehr gesungen, jedoch haben die Frauen früher auch höher gesungen. Sie haben nicht so tief gesungen. Man sollte mal rein hören, wie die Stimmästhetik vor hundert Jahren klang, die Bühnensprache, das war alles wesentlich höher angesiedelt. Also ich kann mich an den Gesang meiner Oma (geb. 1919) erinnern, sie hat immer beim Wandern gesungen und das war sicherlich nicht tief. Heutzutage verändert sich die Ästhetik in Richtung tief. Heute gibt es einen starken Einfluss der Medien, der Pop- und Rockmusik, die auch tendenziell tiefer liegt. Diese allgegenwärtige Ästhetik prägt die Menschen. Eine Erzieherin hat häufig mit Scham zu kämpfen, wird sie doch beispielsweise von einer Kollegin angestupst, der das kindgerechte Singen missfällt. Das führt dazu, dass Frauen mehr an ihre Sprechstimme angelehnt singen und weniger im Bewusstsein dessen, was für die Kinder und manches Mal auch für sie selbst nun eigentlich die ideale Form der Singförderung wäre.

Wenn Frauen doch eher tief singen und dieses nicht gut für die Kindersingstimme sein soll, wie schaut es dann damit aus, wenn Männer mit den Kindern singen? Die haben doch von Natur aus eine viel tiefere Stimme.

Das ist richtig, aber den Kindern gelingt es tatsächlich, das Gehörte durchaus in ihre Lage zu oktavieren. Das heißt, auch Männer sollten in der Lage singen, die für die Kinder eine Oktave höher dann ideal ist. Also in der sogenannten „guten“  Lage von f ´ bis f´´ oder meinetwegen auch von d´  bis f´´. Männer können genauso gut lernen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wo sich diese Lage in ihrer Stimme befindet.

Und das Problem bei den tiefen Frauenstimmen ist dann eher, dass es keine ganze Oktave tiefer ist, oder warum gelingt es den Kindern dann da nicht zu transponieren?

Es ist wohl so verschaltet, dass Kinder bei der Männerstimme unmittelbar oktavieren können, aber bei der Frauenstimme tun sie dies nicht. Ich denke, dass dies einerseits mit den Spannungsverhältnissen beim Singen zu tun hat, die von den Kindern ebenfalls übernommen werden und andererseits mit der Klangcharakteristik der Frauenstimme. Die Frauenstimme hat so viel mehr Kopfanteil und ist dadurch so viel näher an der Kinderstimme dran. Die Charakteristik der Männerstimme ist für Kinder nicht ansatzweise zu imitieren, dies gelingt eben selbst bei der tiefen Frauenstimme noch ein Stück weit. Da die Kinder vor allem imitieren, müssten sie ja bewusst sagen „Ich oktaviere“ nach oben. Das schaffen sie nicht. Stattdessen übernehmen sie Klangbild und Körperspannungsverhältnisse ihres Vorbilds.

Auf das Thema „kindgerechte Lage singen“ angesprochen, höre ich häufig, dass es den Menschen eher vor Kolleg/innen oder Eltern peinlich sei, so hoch zu singen und dass sie es mit den Kindern schon könnten. Wenn aber andere Kolleg/innen mitsingen wollen/sollen, weigern diese sich wieder so hoch zu singen und es wird wieder im tiefen Bereich gesungen. Was kann man zum Thema Peinlichkeit der hohen Stimme gut antworten? Und was zu Rücksichtnahme auf die Kollegen?

Den pädagogischen Fachkräften ist es ja auch nicht peinlich, dass man in die Knie geht, um auf Augenhöhe mit den Kindern zu sein. Also wenn es sich erst einmal im Bewusstsein der Erzieherin verankert hat, dass es eben kindgemäß ist, so wie man die kleinen Stühlchen hat, dann wird die Erzieherin in der Folge auch angepasster singen. Sie möchte ja das Kind fördern und dementsprechend pädagogisch wertvoll handeln, Räume schaffen für das Kind. Aus diesen Gründen tut sie dies dann in der Zukunft ohne Peinlichkeit, und sogar sehr gerne, weil sie die Sinnhaftigkeit erkannt hat. Das habe ich häufig erleben dürfen.

Darüber hinaus gibt es ja auch noch viele andere Umstände, die peinlich sind. Das hat viel mit inneren Überzeugungen zu tun. Auch bekomme ich – Gott sei dank – häufig zurückgemeldet, dass Kinder auf diese Weise dann tatsächlich mehr mitsingen, dass Kinder anders singen, dass manche Kinder singen, die vorher nie einen Ton von sich gegeben haben. Da hat man als Erzieherin den Erfolg auf seiner Seite und das kann man den Kolleginnen wiederum hervorragend vermitteln. Wichtig wäre, dass dieses frohgemute Singen der Kinder in ihrer Lage wieder mehr und mehr in den pädagogischen Kanon aufgenommen würde, dann würde dies als weniger peinlich empfunden.

Für mich als Sängerin ist das jetzt leicht gesagt. Mir ist bewusst, dass das für manche Menschen mit Hürden verbunden ist. Hürden, die man aber überwinden kann, die man herabsetzen kann. Und, es ist wie vieles, auch ein (Um-)Gewöhnungsprozess.

Viele Menschen behaupten von sich, dass sie nicht singen können. Sie haben mal das Statement gebracht, dass jeder Mensch ein guter Sänger sein kann. Wie meinen Sie das und was würden Sie diesen Personen antworten?

Ich bin davon überzeugt, dass jeder, der eine Stimme, also einen Kehlkopf hat, der einigermaßen gesund ist, genau, wie wenn er eben zwei Beine hat und laufen kann, dann kann er singen. Und wenn jemand sagt, er könne nicht singen, dann hat er es eben nur noch nicht ausprobiert. Es geht einfach darum, diese Funktion mal in Betrieb zu nehmen, dann merkt man nämlich schon, dass man es kann. Einfach machen! Singen lernen, lernt man durch das Singen. So wie man laufen lernt durchs Laufen. Da das Singen eine Luxusfunktion darstellt, braucht man es nicht so dringend wie das Laufen. Das ist jetzt keine Überlebensfunktion, sondern eine Luxusfunktion, aber wie ich ja schon gesagt habe, hat es einen enormen Benefit für jeden Menschen, von daher lohnt es sich auf jeden Fall, es mal auszuprobieren. Besonders groß ist der Benefit für die Kinder. Für jedes einzelne Kind lohnt sich diese Art der Förderung!

Häufig lässt sich in Kindergärten beobachten, dass gar nicht mehr mit den Kindern live gesungen wird, sondern dass die Musik für die Kinder von der CD, dem Handy, Tablet oder der Toniebox kommt. Wenn die Lieder von den digitalen Medien in kindgerechter Lage gesungen werden, ist es dann nicht viel besser, die Kinder hören nur noch digitale Musik als dass sie sich durch falsche Vorbilder die Stimme ruinieren?

Das ist ja wohl mal eine interessante Frage! Musik aus der Konserve hat leider keine vergleichbaren Effekte auf die Kinder. Das Erlebnis, eine Stimme live zu hören, ist einzigartig, weil der persönliche Aspekt, der menschliche Aspekt, auch die emotionale Anbindung an das Gegenüber, eine große Rolle spielen. Diese sehr wichtigen Impulse stimulieren das Kind, selbst zu singen. Das Singen darf als kommunikativer Akt begriffen werden, den es so mit einem Tonträger nicht geben kann (vgl. Stadler Elmer 2014).

Und wie schaut es mit den Auswirkungen der typischen Radiomusik (Rock-, Pop) auf die Kinderstimme aus und solche Formate wie Voicekids o.ä.? Ist es nicht positiv, dass die Kinder animiert werden zu singen?

Doch, ich finde es durchaus positiv, dass sie animiert werden. Das entspricht meiner zuvor formulierten Vorliebe dafür, dass überhaupt gesungen wird, als dass eben gar nicht gesungen wird. Rock- und Popmusik ist meist eher bruststimmig geprägt. Die Bruststimme wird sehr weit hochgezogen in die höheren Lagen, in denen Kinder lange nicht mehr in der Bruststimme singen sollten. In der Popmusik möchte man ganz bestimmte Klänge haben über Mikrofone, auch beim Musical gibt es das sogenannte Belting, bei dem die Bruststimme recht weit hoch geführt wird. Wenn Kinder das zu häufig nachmachen, kann es wieder zu Stimmschädigungen kommen. Also nicht wirklich empfehlenswert. 

Außerdem lieben Kinder die Imitation ihrer Idole und wenn sie sich die Stimmflexibilität erhalten, das heißt, die Stimme könnte jederzeit wieder zurück in ihren eigentlichen Kinderkopfstimmenbereich, der altersgemäß ist, dann sind solche Ausflüge der Imitation, meines Erachtens, erlaubt. Wenn die Stimmgebung nicht zu einseitig wird, sondern stimmspielerischen Charakter hat, dann erfährt ein Kind sich bei einem solchen „Imitations-Spiel“ ebenfalls als singender Mensch und das ist einfach schön. Der Vorgang des Singens beinhaltet schließlich noch weit mehr wertvolle Aspekte, als die reine stimmliche Betätigung: Ausdruck und Kanalisierung unserer Gefühlswelten.

Wenn Sie etwas in der Ausbildung der Erzieher/innen verändern könnten, was wäre dieses und warum?

Mein Traum ist es, dass Erzieher*innen in der Ausbildung, also in den Berufsschulen, im Berufskolleg, das kindgerechte Singen erlernen und die Bedeutung des Singens erfassen. Hinzu kämen Bewegung, Tanz und szenische Aspekte, gestalterische Impulse rund um das Singen, rund um das Musizieren – als eine zentrale Säule in der Ausbildung. Dafür setze ich mich mit ganzer Kraft ein, weil ich der Überzeugung bin, dass es kaum ein Medium gibt, das Kinder besser in ihrer persönlichen Entwicklung fördern kann und gleichzeitig alle so froh macht.

Tatsache ist aber, dass momentan Musik und Singen nur ein Teilbereich eines bestimmten Lernfeldes ist, und dass es heutzutage zumindest in NRW möglich ist, Erzieherin zu werden, ohne in der dreijährigen Ausbildung jemals ein einziges Lied gesungen zu haben. Das würde ich gerne ändern.

Fazit der Autorin:

Besucher eines durchschnittlichen deutschen Kindergartens können in der Regel feststellen, dass aktives Musizieren und insbesondere Singen eine zunehmend untergeordnete Rolle im Alltag der Kinder spielt, trotz der vielfältigen positiven Auswirkungen des Singens auf deren Entwicklung. Daher ist es wünschenswert, dass alle Erzieher/innen eventuell vorhandene Hemmungen überwinden und mehr mit den Kindern singen. Jede Form des gemeinsamen Gesangs ist besser als gar nicht zu singen. Zudem sollten sich insbesondere weibliche Erziehrinnen trauen, beim Singen eine möglichst kindgerechte Lage zu verwenden, um den Kindern eine umfassende Stimmentwicklung zu ermöglichen und potenzielle Stimmschäden zu vermeiden.

 

Literatur

Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2014): Richtlinien und Lehrpläne zur Erprobung für das Berufskolleg in Nordrhein-Westfalen, Fachschulen des Sozialwesens, Fachrichtung Sozialpädagogik. Verfügbar unter: URL: https://www.berufsbildung.nrw.de/cms/upload/_lehrplaene/e/sozialpaedagogik.pdf. Zugriff am 03.04.2019.
Göstl, R. (2016): Live-Vortag Symposium Leipzig: Aspekte der Vorbildwirkung von Pädagogen-Sing-Stimmen. Verfügbar unter: URL: https://www.youtube.com/watch?v=KHLpXfNHGH4&t=23s. Zugriff am 03.04.2019.
Stadler Elmer, S. (2014): Kind und Musik: Das Entwicklungspotential erkennen und verstehen. Berlin: Springer.

Weiterführende Literatur

Fuchs, M. (Hrsg.) (2019): Gesangsstile - Stimmtechniken – Stimmgesundheit. Kinder- und Jugendstimme. Band 13. Berlin: Logos Verlag Berlin.
Kreusch-Jakob, D. (2006): Jedes Kind braucht Musik. München: Kösel.
Kreutz, G. (2014): Warum singen glücklich macht. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Mohr, A. (2007): Lieder, Spiele, Kanons: Stimmbildung in Kindergarten und Grundschule. Mainz u.a.: Schott.
Mohr, A.: Literaturliste auf der Homepage des Autors. URL: http://www.kinderstimmbildung.de/weitere.htm
Trüün, F. (2002): Sing Sang Song: Praktische Stimmbildung für 4- 8- jährige Kinder in 10 Geschichten. Stuttgart: Carus.

Autorin:

Jasmin Zimmer, M.A., studierte Pädagogik, Psychologie und Grundschuldidaktik an der LMU München. Sie ist Dozentin an der Fachschule für Sozialpädagogik in Siegburg sowie an der Alanus Hochschule in Alfter und ist in weiteren Bereichen der Erwachsenenbildung tätig. Ihre Leidenschaft zum Singen vermittelt sie angehenden Erzieher/innen und trägt dazu bei, dass jeder einen Zugang zur kindgerechten Singstimme erfahren kann. Beim Chorverband NRW absolvierte sie hierzu einen Zertifikatslehrgang zum Thema „Vokales Musizieren mit Kindern“. Dass man jederzeit und überall singen kann, lebt sie als Vorbild vor und so können auch schon einmal Fachvorträge singend begonnen oder Seminare zwischendrin mit Gesang belebt werden. Als Sängerin und Multi-Instrumentalistin tritt sie mit ihrem Mann als Duo „DIEUNDER“ (www.dieunder.com) auf.

Kontakt: [email protected]

Interviewpartnerin:

Catherine Veillerobe ist Opern- und Konzertsolistin sowie Diplom-Musikpädagogin mit den Hauptfächern Gesang und Klavier. Sie ist verantwortlich für die Konzeption und Leitung interkultureller Musikworkshops für Familienzentren in NRW. Seit 2017 ist sie „Toni singt“-Dozentin seit und fungiert als Regionalleitung des CVNRW e.V. Außerdem ist sie Vorsitzende bei Sing-Kikk und Mitglied im Leitungsteam der Opernwerkstatt am Rhein in Köln. Ab August 2019 wird sie die Musikschule in Offenbach am Main leiten.

http://www.catherineveillerobe.com/

Kontakt: [email protected]