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Zitiervorschlag

Aus: Ingeborg Becker-Textor: Mit Kinderaugen sehen. Wahrnehmungserziehung im Kindergarten. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1992, S. 73-96 (leicht bearbeitete Fassung)

Mit Kindern die Natur entdecken

Ingeborg Becker-Textor

 

Im Zeitalter der Zerstörung unserer Umwelt, aber auch der "Entdeckung" der Umwelterziehung in Kindertageseinrichtungen und Schulen, wird das Ziel: "Mit Kindern die Natur entdecken" immer wichtiger. Wir Erwachsenen meinen, dass Kinder unsere kranke Natur wahrnehmen sollten und nach Kräften zu ihrem Schutz oder auch zu ihrer Gesundung beitragen könnten. Bevor Kinder aber Natur schützen können, müssen sie Natur erst einmal kennen lernen. Sie müssen die Vielfältigkeit von Moosen, Flechten, Pflanzen, Blüten, Bäumen, Früchten usw. sehen lernen.

Wir Erwachsenen sind die größten "Verhinderer" solcher Wahrnehmungen: Da bleibt das Kind stehen, um eine Ameise zu sehen, die eine große Last zum Ameisenhaufen schleppt. Ungeduldig wird das Kind zum Weitergehen aufgefordert: "Jetzt komm schon. Los, geh weiter, was siehst du denn da schon wieder? Als wenn du noch nie eine Ameise gesehen hättest!"

Da ist das Kind, das mit dem Erwachsenen einen Spaziergang macht und an einem Baum stehen bleibt. Wie gebannt schaut es auf die kleinen Käfer, die auf der Rinde dahin huschen. Dann sind da noch die Schnecken mit dem gelben Häuschen, die den Stamm hinaufkriechen und eine feine Schleimspur hinter sich zurücklassen. Eigentlich wäre der Spaziergang für das Kind an diesem Baum schon zu Ende, aber das Ziel der Eltern ist der Aussichtsturm, der noch eine Stunde Weges bedeutet. Auch dieses Kind wird aufgefordert: "Trödle nicht so herum! Wir kommen ja nie zum Ziel. Wir müssen auch wieder zurück, denn da unten steht unser Auto."

Wie soll da ein Kind sehen lernen, beobachten, wahrnehmen, sich in die Natur vertiefen können? Es würde sich so gerne konzentrieren, dürfte es den Baum intensiv betrachten. Nicht einmal Erklärungen bräuchte es von den Erwachsenen.

Aber auch im Kindergarten gibt es nur wenige Aktivitäten nach dem Motto: "Mit Kindern die Natur entdecken". Natur, ausgewählte Früchte oder Pflanzen werden in den Raum geholt und in sogenannten gezielten Beschäftigungen mit den Kindern betrachtet; Wissenswertes aus der Sicht der Erwachsenen wird mit den Kindern erarbeitet.

Wieder wurde eine Vorauswahl getroffen. Vielleicht wäre es für die Kinder spannender gewesen, die Dolden des Holunderstrauchs zu betrachten als den Apfel. Kinder sehen und entdecken die Natur am besten, wenn man sie "frei lässt", ihnen Raum und Zeit gibt für ihre Entdeckungen.

Der Spaziergang

Spaziergänge gehören in den Alltag des Kindergartens. Leider sind sie jedoch meist zweckgebunden, dienen z.B. der Verkehrserziehung, um an ein bestimmtes Ziel zu gelangen, oder um Kindern Bewegung an der frischen Luft zu ermöglichen. Spaziergänge zum Entdecken sind selten, obwohl es gar viele Formen gibt.

Spaziergang ohne Ziel

Es regnet nicht, also kein Hinderungsgrund zum Spazierengehen. An der Kindergartentür entscheiden die Kinder, nach welcher Richtung es gehen soll. Wir biegen nach links und laufen ganz gemütlich, bis sich ein Hindernis in den Weg stellt. Der Gehsteig ist aufgegraben. Die Kinder bleiben stehen. Das Loch ist schon ziemlich tief, von einem der Arbeiter sieht man nur noch den Kopf. Neugierig wollen die Kinder wissen, was passiert ist. Ein Arbeiter erklärt, dass es ein Wasserrohrbruch sei, das Rohr ist wohl durchgerostet. Richtig, die Kinder sehen das lehmige Wasser Als der Arbeiter das Rohr etwas bewegt, um ein neues Stück einzusetzen, da spritzt es ganz schön. Ein paar Tropfen erreichen die Kinder, sie gehen zurück. Klaus fragt: "Wie lange arbeitest du hier noch?" Der Arbeiter meint: "Noch etwa eine Stunde." Klaus: "Dann können wir auf dem Rückweg wieder hier vorbeikommen und schauen, ob du schon fertig bist!" Damit war der Rückweg schon entschieden.

Was wurde auf dem Spaziergang noch entdeckt? Hundert Meter weiter schneidet ein Gartenbesitzer seine Henke mit einer elektrischen Heckenschere. Faszination bei den Kindern. Es war eine Buchenhecke. Die Kinder fragten den Mann, ob sie die Zweige mitnehmen dürfen. Susanne: "Da kann man nämlich Kränzchen draus flechten. Sollen wir dir dann eines bringen?" So war ein erster "nachbarschaftlicher" Kontakt entstanden. Klaus fragte weiter: "Du, kannst du nicht mal zu uns kommen? Wir haben im Kindergarten nicht so ein elektrisches Gerät. Wir machen alles mit der Schere. Aber, das mit deiner Maschine, das wäre eine feine Sache." Überraschung für alle, der Mann sagte zu!

Zurück zum Kindergarten, vorbei beim Wasserrohrbruch: Der Arbeiter schüttete eben das Loch zu. Beim Kindergarten warteten schon einige Mütter Die Kinder berichteten: "Wisst ihr, was wir alles gesehen haben? Es war ganz toll! Also, da war..."

Naturspaziergang

In diesem Beispiel wird von einem Herbstspaziergang berichtet: In der Nacht hatte es gefroren, und der starke Wind blies das Laub nur so von den Bäumen. Die Straße beim Kindergarten war rechts und links mit Bäumen bestanden. Die Kinder sahen den tanzenden Blättern zu. Ein Blatt blieb an Marions Mütze hängen.

Karla hatte schon nach kurzer Zeit begonnen, Blätter zu sammeln. Sie hob nur Blätter mit besonders langen Stielen auf, betrachtete sie von allen Seiten, ob auch kein Tier oder Schmutz daran sei, und verglich dann die Größe. "Ich will nämlich lauter gleiche... Bloß mit der Farbe, das ist so schwierig. Die sind alle so anders!" Bald hatten es ihr alle Kinder nachgemacht, und als wir den Rückweg antraten, hatte jeder ein Blättersträußchen in seiner Hand.

Im Kindergarten wurde dann überlegt, was man mit den bunten Blättern alles machen könnte. Manche Kinder wollten die Blätter pressen, andere stellten sie in eine Vase mit Wasser, und ein Kind begann, die Stiele durch die Blätter zu ziehen und eine Krone "zu flechten". Es wurde dann von den Kindern zur "Herbstkönigin" ernannt. Alle Kinder wollten eine solche Blätterkrone, und schon stand das Programm für den nächsten Tag fest.

Wiederholungsspaziergänge

Viele Spaziergänge sollten in kürzeren oder längeren Abständen wiederholt werden, denn nur so können die Kinder die Veränderungen in der Natur ganz bewusst beobachten. Beispielsweise gibt es ganz in der Nähe des Kindergartens eine Platane. Die Kinder kennen den großen Baum. Im Sommer spendet er viel Schatten, und im Herbst sammeln die Kinder gerne die langstieligen großen bunten Blätter.

Die Blätter sind alle abgefallen. Ein Kind ist ganz traurig: "Der Baum ist ja tot?" "Nee", verbessert ein anderes Kind, "der schläft bloß". Ein anderes Kind meint, dass Bäume regelmäßig neue Blätter wollten und deshalb ihre alten Blätter "wegwerfen" würden. Viele Vermutungen werden noch ausgesprochen.

Zu leicht sind wir Erwachsenen wieder versucht, alles zu erklären, auf alle Details einzugehen. Stattdessen könnte die Erzieherin aber auch zu einer Geschichte greifen, damit die Neugier der Kinder noch verstärken und sie zu weiteren Beobachtungen auf ihren Spaziergängen motivieren.

Spaziergang mit Aufgaben

Verlockend für Kinder ist es auch, wenn sie einen Auftrag mit auf den Weg bekommen. Ein Kind achtet auf gelbe Blumen, ein anderes auf Käfer oder Regenwürmer. Jede Entdeckung wird der ganzen Gruppe gezeigt. Wahrnehmung und Beobachtung werden dabei in ganz besonderer Weise geschult, da Kinder lernen, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen.

Bei einem solchen Spaziergang lautete vielleicht auch der Auftrag, nach den gelben Löwenzahnblüten zu schauen. Beim folgenden Spaziergang sind alle gelben Blüten verschwunden. Beim darauffolgenden Spaziergang finden die Kinder keine Löwenzahnblüten, dafür aber herrliche Pusteblumen. Wie hängt dies zusammen? Auch hier kann eine Geschichte helfen...

Im Botanischen Garten

Sicherlich hat nicht jeder Kindergarten die Chance eines oder gar wiederholter Besuche in einem Botanischen Garten. Ein solcher Besuch ist aber sehr reizvoll für Kinder, insbesondere, weil auf engem Raum viel zu sehen ist, von heimischen bis zu exotischen Pflanzen.

Zuerst erfolgt ein Informationsbesuch, bei dem sich die Kinder einen Überblick verschaffen können, was es alles zu sehen gibt. Bei Folgebesuchen werden ganz gezielte Beobachtungen angestellt und Wachstum und Entwicklung bestimmter Pflanzen beobachtet. Insbesondere wenn es Gewächshäuser gibt, ist der Botanische Garten auch eine Ausflugsmöglichkeit an Schlechtwettertagen oder im Winter.

Ich will hier nicht auf Details eingehen, wie ein Besuch im Botanischen Garten gestaltet werden könnte. Vielmehr will ich nur in Erinnerung rufen, dass auch hier die Kinder

  • Zeit brauchen,
  • Freiraum für eigene Entdeckungen benötigen und
  • ihre Interessenpunkte selbst auswählen.

Wir Erwachsenen müssen uns bei solch einem Besuch auf die Ebene der Kinder begeben, denn dann können wir vielleicht ähnliche Beobachtungen und Entdeckungen machen wie die Kinder - ein Schritt zum Sehen im Kinderaugen. Lassen wir uns doch von den Kindern zeigen, was sie sehen. Lassen wir uns in Staunen versetzen, und berichten wir über unsere eigene Beobachtung erst, nachdem die Kinder berichtet haben. Kinder sehen andere Dinge, sehen mit anderen Augen, stellen andere Zusammenhänge her, werten ihre Wahrnehmung nach anderen Gesichtspunkten, wenden sich mehr dem Kleinen, dem Detail zu und eröffnen gerade uns Erwachsenen (neue) längst vergessene Blickwinkel.

Auf dem Markt - Ein Bericht

Supermärkte bieten heute die Möglichkeit, bequem alles einzukaufen, was man zum alltäglichen Leben braucht. Von der Glühbirne bis zum Obst reicht die Palette. Man schiebt einen großen Einkaufswagen durch die Gänge und nimmt die Ware aus den Regalen. Emsige Hände sorgen dafür, dass die Lücken schnell wieder aufgefüllt werden, damit auch der nächste Kunde wieder alle Artikel zur Verfügung hat. Ganz anders sieht es aus, wenn wir über den Markt gehen.

Mit einigen Kindern bummelte ich über den "Grünen Markt". Wir hatten nicht das Ziel, etwas Bestimmtes einzukaufen, sondern wollen nur schauen, was es dort alles gibt. Claudia: "Na ja, da gibt es halt Obst und Gemüse und Kartoffeln und so" Ulrike: "Jetzt lass' uns erst mal hingehen und schauen. Ich war nur ganz selten mal dort. Wir haben Spargel gekauft. Ich erinnere mich aber auch an ganz komisches Gemüse, das bei uns wächst, aber das ich vorher noch nie gesehen habe!"

Der Wochenmarkt - mit den Bauersfrauen aus der Umgebung - bietet ein buntes Bild. Auf einfachen Holztischen werden die heimischen Obst- und Gemüsesorten angeboten, daneben stehen große Körbe.

Bei unserem Besuch ließ ich mich von den Kindern führen. Ulrike entdeckte einen Kürbis, der aussah wie eine Blume. Wir kauften ihn, später noch anderes Gemüse, um es zu kochen oder als Rohkost zu essen. Sabine entdeckte einen "Blumenkohlturm" und war ganz fasziniert. Auf einem weiteren Tisch liegen dunkelbraune Stangen, noch erdig. Ulrike: "Also gelbe Rüben sind das nicht und Spargel auch nicht. Hm? Weißt du, was das ist?‘ Ich erkläre den Kindern, dass es Schwarzwurzeln sind.

Ulrike: "Nie gegessen. So schwarz und dreckig. Igitt igitt." Dennoch wandern einige in unseren Einkaufskorb.

Alexandra sucht alle Stände mit den Augen ab. "Da gibt es Kartoffeln, die sehen aus wie Tiere oder Köpfe oder Monster." Bei fünf verschiedenen Händlern kaufen wir Tierkartoffeln. Die Verkäufer sind freundlich, und die Kinder dürfen aussuchen. Unser Korb füllt sich zusehends.

Nach etwa eineinhalb Stunden drängen die Kinder zum Heimgehen, denn sie wollen alles probieren. Herrliche Namen haben die Kinder für so manches unbekannte Gemüse gefunden: Blutknollen (rote Beete), Würzelchenstangen (Lauch), Schrumpelstangen (Meerrettich), Riesenblättergemüse (Mangold) usw.

Fasziniert waren die Kinder auch von der Vielzahl der Einmachgurken. Ulrike: "Die sind von ganz winzig bis riesig groß! Schmecken die alle gleich?" Unsicherheit und Neugier, also wurden Gurken in sechs verschiedenen Größen mitgenommen.

Im Kindergarten folgte eine große Gemüsewaschaktion, und dann wurden die Einkäufe auf einem großen Tisch ausgebreitet. Vergleiche wurden angestellt zum Aussehen, zur Größe, zum Gewicht der einzelnen Gemüsesorten. aber auch zum Geruch und zum Geschmack! Manches, wie zum Beispiel den Meerrettich, erkannten die Kinder am Geschmack, aber nicht vom Aussehen her. Sie stellten fest, dass einige Gemüsesorten roh nicht so gut schmecken. Diese wurden deshalb gekocht, zu Salat verarbeitet, für eine Suppe benutzt, durch ein Sieb passiert u. Ä.

Die Verarbeitung des Gemüses dauerte zwei Tage, wobei die Kinder voller Eifer und Interesse bei der Sache waren.

Die Tierkartoffeln durften nicht gekocht werden. Aus ihnen entstand zuallererst ein Kartoffelzoo bzw. ein Kartoffeltheater. Einige Tage später wurden sie doch für eine Kartoffelsuppe in den Kochtopf geschnippelt. Sabine glaubte beim Essen, noch den Kartoffelkönig in der Suppe zu entdecken!

Natürlich blieb es nicht bei einem Besuch auf dem Markt! Die Kinder wollten verschiedene Märkte kennen lernen. Es folgte ein Besuch auf dem Blumenmarkt, dem Trödelmarkt, dem Fischmarkt, dem "Häfelesmarkt" (Töpfermarkt), dem Flohmarkt...

Auffallend ist, dass die Kinder meist nicht auf die Dinge zugehen, von denen wir Erzieher annehmen, dass sie ihnen sofort ins Auge stechen würden.

Als die Äpfel und Birnen an unseren "Kindergartenbäumen" reif waren, schlugen die Kinder vor, dass wir einen Obstmarkt eröffnen könnten. Allerdings bräuchten wir dazu "so eine Waage mit Eisensteinen". Aus den Einnahmen unseres "Obstmarktes" finanzierten wir weitere Ausflüge auf Märkte und unsere Einkäufe.

Der Kindergarten-Garten

In den Kindergartengesetzen der Länder finden sich Vorgaben für die Größe der Außenspielflächen eines Kindergartens und knappe Hinweise auf eine kindgemäße Gestaltung.

Lange Jahre dominierten drei Hauptbereiche: Rasen, Sandkästen und Hartflächen. Nur ganz selten finden wir Kindergarten-Gärten, bzw. werden die Chancen genutzt, den Garten des Kindergartens zu einem "Erlebnisbereich Natur" für Kinder zu gestalten und zu nützen.

Es gibt zwar Verzeichnisse über giftige Pflanzen, die auf keinen Fall auf der Freispielfläche des Kindergartens angepflanzt werden dürfen. Stachelige Sträucher bilden einen zweiten Zaun und sind gleichzeitig auch eine Gefahrenquelle. Wie wäre es, wenn die Ziersträucher durch Beerensträucher aller Art ersetzt würden? Wenn der " zweite Zaun" aus Brombeer- und Himbeersträuchern oder Spalierobst bestehen würde? Wenn als Schattenspender ein Obstbaum oder ein Kastanienbaum gepflanzt würden? Wenn statt Zierrabatten mit den Kindern gemeinsam Blumenbeete angelegt würden? Wenn in einem Winkel Gemüse, Kräuter; Erdbeeren, Kartoffeln usw. angebaut würden? Wenn sich entlang der geschützt liegenden sonnigen Hauswand Bohnen emporranken oder Tomatenstöcke ihren Platz finden könnten?

Das Ergebnis wäre, dass unsere Kinder das Wachsen und die Entwicklung in der Natur täglich beobachten könnten. Sie hätten die Möglichkeit, selbst zu erleben, wie aus einer Steckkartoffel viele werden, wie sich ein Salatpflänzchen zu einem großen Salatkopf entwickelt, wie der Rosenkohl - von dem sie im Laden immer nur die kleinen Röschen sehen - wächst, wie Schmetterlinge, Bienen und Hummeln die Blüten besuchen und die Pollen von Blüte zu Blüte tragen, wie wichtig es ist, dass die Pflanzen immer genügend Feuchtigkeit haben und vieles mehr.

Leider haben in der heutigen Ausbildung Fächer wie Natur- und Sachbegegnung kaum noch Platz bzw. sind einem wissenschaftlich ausgerichteten Biologieunterricht gewichen. Aber viele Erzieher verweigern (leider) auch jegliche Gartenarbeit mit den Kindern. Sicherlich ist es nicht ihre Aufgabe, das ganze Gelände eines Kindergartens zu pflegen. Jedoch gehört zu ihrem Aufgabenspektrum, die Kinder zu Verantwortlichkeit für ihren Lebensraum hinzuführen. Das Aufräumen und die Pflege der Innenräume eines Kindergartens sind selbstverständlich. Aber der Garten?

Eine Erzieherin bei einer Fortbildung: " Ich sehe nicht ein, dass ich Laub rechen und ständig die faulen Apfel aufheben soll. Überhaupt sollte der Apfelbaum entfernt werden. Heruntergefallene Früchte locken nur Mäuse und Ungeziefer an. Gartenarbeit? Nee, ich bin kein Gärtner. Die Außenspielfläche muss pflegeleicht sein. Am besten Rasen oder Platten!"

Demgegenüber die Meinung einer anderen Erzieherin: "War das ein Kampf, bis ich ein Stück des Rasens 'zweckentfremden' durfte. Einige Väter haben umgegraben, und wir haben Beete angelegt. Wir pflanzen seit Jahren Blumen und Gemüse an. Am tollsten finden es die Kinder, wenn sie erleben können, wie aus einem winzigen Samenkorn eine Pflanze und dann sogar Früchte werden. Wir ziehen viele Pflanzen selbst. Das ganze Jahr über verbringen wir bei schönem Wetter viele Stunden im Freien. Natürlich auch mit Bewegung und Sandspielen, aber auch mit der Pflege unseres Gartens. Was die Kinder vor der Tür beobachten können, das zeige ich ihnen nicht in Büchern. Die Milch des Löwenzahns zum Beispiel muss man gesehen haben. Ebenso wie man eine Pusteblume selbst abblasen muss. Wenn man die selbst gesäten Radieschen aus der Erde zieht, wäscht und isst, dann schmecken sie viel besser."

Aktivitäten im Garten sind für Kinder wichtig, denn wenn kognitives Lernen nicht mit konkreten Lernerfahrungen verbunden ist, dann bleibt es "aufgesetzt". Die meisten Eltern verstehen das nicht. Sie wollen lieber Förderprogramme.

Eine Erzieherin: "Ich meine, dass zu einer ganzheitlichen Erziehung aber mehr gehört. Einer Mutter war es peinlich, als eines unserer Kinder sie fragte, ob sie wisse, wie der Rosenkohl wachse. Sie verneinte. Da nahm das Kind sie an der Hand und führte sie in unsere Gartenecke. "Schau, damit du es das nächste Mal weißt! Gell, da schauste. So viele Rosenköhlchen an einer Pflanze!" Wir konnten diese Mutter bald darauf für allerlei Aktivitäten im Garten gewinnen.

Als ich meine Arbeit im Kindergarten begann, habe ich viele kleine Schubkarren, Rechen, Hacken und Gießkannen angeschafft. Wie die wöchentliche Turnstunde, das Singen, Spielen, Basteln usw. gehörte auch die Gartenarbeit in den Alltag unseres Kindergartens.

Was Erwachsene als Last oder Arbeit empfinden, ist für Kinder von Entdeckerfreude geprägt. Da finden sie unterm Apfelbaum (die Äpfel werden von uns geerntet und gegessen bzw. verarbeitet) einen angenagten Apfel. Große Frage: Ob das eine Maus war? Rund um den Apfelbaum suchen sie nach einem Mauseloch. Ähnlich beim Zusammenrechen des Laubes im Herbst. Käfer und Regenwürmer werden entdeckt und lassen die Kinder in ihrer Arbeit innehalten.

Ein Kind hat festgestellt, dass eine Bodenplatte los ist und hebt diese vorsichtig hoch. Erstaunen, Freude, Neugier. Wie es darunter krabbelt und zappelt! Im Nu hat sich eine ganze Gruppe von Kindern versammelt. "Ein Käfer, Kellerasseln, ein Wurm, eine kleine Spinne, ein Tausendfüßler..." Die Kinder rätseln, wie es sein kann, dass all die kleinen Tiere nicht von der Platte erdrückt wurden.

Ein anderes Mal ist ein Kind ganz aufgelöst. Es wollte nur die Erdbeeren hacken und hat dabei einen Regenwurm zerteilt. Jetzt gilt es, über die Regenwürmer zu reden. Die Erzieherin muss sich gegebenenfalls selbst noch informieren: "Regenwürmer durchflügen die Erde unter Tage. Sie sind eigentlich eine übergroße Genossenschaft von Bauern, die zusammen den Boden aufbereiten. Mit der Verdauung von Pflanzenresten tragen Regenwürmer ganz wesentlich zur Humusbildung bei, und der Humus wiederum ist die wichtigste Voraussetzung für die Bodenfruchtbarkeit. Zu ihr trägt auch die Umschichtung von Bodenmaterial durch die Regenwürmer bei. Je nach Bodentyp können Regenwürmer pro Hektar und Jahr zwischen 15 und 50 Tonnen verdaute Erde an die Erdoberfläche befördern. Das wiederum entspricht einem Anstieg der Bodenhöhe um einen Millimeter bis zu einem halben Zentimeter... Sofern ein Regenwurm nicht von einer Amsel, einem Igel, einer Kröte, einem Laufkäfer oder einem anderen Tier gefressen oder von Autoreifen überfahren wird, kann er durchaus ein Höchstalter von 10 Jahren erreichen. In Europa gibt es an die 30 Regenwurmarten, von denen die meisten in Gängen leben, die zwischen 50 cm und 8 m in den Boden hineinreichen... Werden Regenwürmer - etwa durch eine hungrige Amsel oder einen Iltis - verletzt und verlieren so einen Teil des Hinterendes, so wird dieses wieder regeneriert. Das passiert auch, wenn durch einen Spaten oder Pflug ein Teil des Wurmes abgetrennt wird. Es kann sogar geschehen, daß der Kopfteil des Wurmes vom übriggebliebenen hinteren Teilstück regeneriert wird, wenn nicht zu viele Segmente verlorengingen." (Auszüge aus: "Wunderland am Wegesrand", Thienemanns Verlag).

Kinder erleben auch Enttäuschungen. Eines Morgens sind alle Tomatenpflanzen (schon voller Blüten) umgeknickt und alle Blätter abgerissen. Irgendjemand hat sie in der Nacht böswillig zerstört. Trauer, Enttäuschung, aber auch die Erfahrung des willkürlichen Umgangs mit der Natur, mit der Schöpfung. Der Kindergarten-Garten lässt Kinder Schöpfung erleben, lässt sie sehen, schauen und betrachten. Dürfen wir Kindern all diese Erfahrungen vorenthalten?

Wie und was soll man in einem Kindergarten-Garten alles anbauen? Es gibt dafür kein Rezept. Vielmehr ist es abhängig von den Möglichkeiten und der eigenen Bereitschaft, mit Kindern Natur in ihrer Vielfalt zu sehen.

Ein Kindergarten-Garten braucht auch Wasser. Vielleicht einen Pumpbrunnen. Kinder können selbst ihre Gießkannen füllen und ihre Gewächse bewässern. Wichtig ist, dass Kinder aus sich heraus aktiv sein können. Nicht der Erzieher sät, gießt, harkt. Die Kinder tun es selbst. Dadurch können sie viel lernen. Wenn der Samen zu dicht auf die Erde fällt, dann müssen die Pflänzchen später "verzogen" und verpflanzt werden.

Wir sind gefordert, Kindern diese Seh- und Beobachtungsmöglichkeiten bereitzustellen. Sonst sind die Apfel nur aus der Plastiktüte, ist der Rosenkohl nur aus dem Netz bekannt, und die Frage nach der Entwicklung und dem Wachsen der jeweiligen Pflanze kann nicht beantwortet werden.

Autorin

Ingeborg Becker-Textor ist Kindergärtnerin und Hortnerin. Sie studierte Diplom-Sozialpädagogik an der Fachhochschule Würzburg und Diplom-Pädagogik an der Universität Würzburg und hat mehrere Zusatzqualifikationen wie z.B. den Abschluss als Fachlehrerin für Werken und das Montessori-Diplom erworben.
Frau Becker-Textor arbeitete als Kindergartenleiterin in Würzburg, als Regierungsfachberaterin für Kindertageseinrichtungen in Unterfranken, als nebenberufliche Dozentin in der Ausbildung für Kinderpfleger/innen und Erzieher/innen, in der Fortbildung für Erzieher/innen und Fachkräfte in der Jugendhilfe sowie mehr als 20 Jahre lang als Referatsleiterin im Bayer. Sozialministerium (nacheinander in den Bereichen Jugendhilfe, Kindertagesbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit). Im Ministerium war sie auch für zahlreiche Forschungsprojekte auf Landes- und Bundesebene zuständig. Von 2006 bis 2018 leitete sie zusammen mit ihrem Mann das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg.
Ingeborg Becker-Textor ist Autorin bzw. Herausgeberin von mehr als 20 Büchern und über 40 Medienpaketen. Sie hat ca. 140 Fachartikel in Zeitschriften, in Sammelbänden und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de