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Zitiervorschlag

Warum wertschätzender Umgang mit Gemeingütern bereits in der Frühpädagogik wichtig ist

Freya Pausewang

 

Ein Beispiel

Lena, sechs Jahre, wohnt in einer gepflegten Wohnung im dritten Stock. Ihre Eltern achten sehr auf Sauberkeit. Schuhe werden vor der Wohnung ausgezogen, die Familie betritt nur mit Hausschuhen die Wohnung. Neulich habe ich das Kind betreut und brachte sie nach einem Spaziergang auf nassen Feldwegen wieder zurück. Beim Eintritt in das Haus wies ich sie auf die Fußmatte hin, weil unsere Schuhe schmutzig waren. Lena antwortete: "Das brauche ich nicht! Ich ziehe die Schuhe ja oben aus!" Ich entgegnete, dass dann der Flur und das Treppenhaus schmutzig würden. "Das macht nichts! Das ist doch nicht unser Treppenhaus! Meine Mama braucht hier nicht zu putzen!" Mit meinem Einwand, dass eine Reinmachefrau den Flur putzt, für die wir jetzt zusätzliche Arbeit machen, schien ich Lena nicht zu erreichen. Sie stürmte zu ihrer Wohnungstür und zog ihre Schuhe im Flur aus.

Was sind Gemeingüter?

Gemeingüter gehören der Allgemeinheit und stehen allen Menschen zur Verfügung. Sie lassen sich in drei grobe Bereiche gliedern:

  • erstens die Natur in ihrer Vielfalt und ihrer Empfindlichkeit, von der Luft und der Erde bis zu den Tieren und Pflanzen,
  • zweitens die Kulturen mit ihren Erfahrungen, Gewohnheiten, Sprachen, Künsten und ihrem kollektiven Wissen sowie
  • drittens die öffentlichen Güter der Gesellschaften von den Straßen und dem Stadtwald bis zum Museum, den Gesetzen, den Sozialversicherungen, den Finanzmärkten, der Geldwirtschaft.

Im oben gegebenen Beispiel mit Lena handelt es sich bei Flur und Treppenhaus nicht um ein wirkliches Gemeingut, weil dieser Raum nicht allen Menschen, sondern nur den Bewohnern des Hauses zur Verfügung steht, und zusätzlich den Menschen, die von ihnen eingelassen werden. Das Beispiel weist aber auf Güter hin, die gemeinsam genutzt werden. Für Kinder ist der Umgang mit ihnen ein erster Schritt, um Gemeingüter zu verstehen und zu schätzen.

Kinder im Kindergarten benutzen gemeinsam das Spielmaterial der Einrichtung. Dieses Material ist ebenfalls kein Gemeingut im eigentlichen Sinne, weil es nur den angemeldeten Kindergartenkindern zur Verfügung steht. Die Kinder machen damit aber die Erfahrung, Dinge zu gebrauchen, die ihnen nicht gehören, die sie pfleglich nach vorgegebenen Regeln behandeln und verlässlich zurückgeben müssen. Für Kinder ist solch gemeinschaftlicher Umgang eine Vorstufe, um allgemeine Gemeingüter und deren notwendige Pflege zu verstehen und zu handhaben. Kindergartenkinder benutzen allerdings auch echte Gemeingüter, etwa den öffentlichen Spielplatz, Straßen, Wälder, Erholungsgebiete, Museen, Kirchen, Bibliotheken und vieles mehr.

Viele lebensnotwendige globale Gemeingüter sind heute in Gefahr

Wir wissen inzwischen, dass unendlich erscheinende Güter, die sich im Naturkreislauf erneuern und regenerieren können, wie Wasser und Luft oder die Fruchtbarkeit der Erde, keineswegs unempfindlich und auch nicht unendlich sind. Menschen können die Kreisläufe und die Regenerierbarkeit durch Übernutzung und falschen Gebrauch schädigen. Das geschieht zurzeit insbesondere mit der Luft, vor allem durch Erhöhung der Treibhausgase. Andere Bereiche wie die Fruchtbarkeit der Erde, der Wasserhauhalt, die Vielfalt der Flora und Fauna werden ebenfalls bereits empfindlich beeinträchtigt. Die Atomverseuchung wie in der Ukraine und in Japan macht zudem Gebiete der Erde unbewohnbar.

Der Schutz und der regenerierbare Umgang mit Gemeingütern, insbesondere der Schutz der Natur, wird in Zukunft eine höhere Bedeutung erhalten müssen, weil ihr Erhalt die Lebensvoraussetzung für die globale Menschheit ist.

In Demokratien können Regierungen nur solche Entscheidungen treffen, die die Bevölkerung mitträgt. Andernfalls würde diese Regierung nicht mehr gewählt. Das heißt, die Bevölkerung weltweit, aber vor allem in den Industrieländern, muss für den Wert von Gemeingütern sensibel werden, insbesondere für das Gemeingut Natur, und muss von den Regierungen Maßnahmen zum Erhalt der Gemeingüter einfordern. Das setzt voraus, dass jeder einzelne Mensch den Wert von Gemeingütern anerkennt und sich für deren Schutz mit verantwortlich fühlt.

Wie Kinder auf einen sinnvollen Umgang mit Gemeingütern vorbereitet werden können

Ethische Werte und Moral werden im Laufe der Jugend entwickelt. Deshalb muss sich die Pädagogik mit der Frage auseinandersetzen, ob und wie Kinder und Jugendliche zu Wertschätzung und Schutz von Gemeingütern eingestimmt und vorbereitet werden können. Auch die Frühpädagogik ist gefragt, denn in der frühen Kindheit werden Weichen gestellt.

Die Entwicklung von Moral und ethischen Werten

Manfred Spitzer, Psychiater und Psychologe, vergleicht das Erlernen von Werten mit dem Erlernen der Sprache (Spitzer 2006, S. 339 ff.): Ein Kind lernt von sich aus das Sprechen, indem die Menschen in seiner Umgebung mit ihm reden. Grammatik kann es erst erfassen, wenn es weitgehend fehlerfrei sprechen kann, etwa in der zweiten Hälfte der Grundschulzeit. Die Teile des Gehirns (Kortex), in denen Bewertungen verankert werden, reifen erst spät, etwa während und teilweise auch erst nach der Pubertät. Spitzer bezeichnet die Werte als "Spätentwickler".

Ein Verallgemeinern von Werten, die Bildung von Wertmaßstäben, ein Diskutieren über Ethik ist deshalb erst in Jugendjahren möglich und sinnvoll. Dafür braucht der Jugendliche allerdings "Material", d.h. eine Vielfalt von erlebten Beispielen, auf denen er seine Werte aufbaut und strukturiert. So wie er für das Erfassen von Grammatik sprechen können muss, benötigt er einen entsprechenden Erfahrungsschatz von Bewertungen, um ein ethisches Konzept zu entwickeln.

Ethische Erfahrungen macht das Kind bereits in der frühen Kindheit, auf der einen Seite durch Vorbilder, an denen es sein Handeln ausrichtet, zum anderen durch konkrete Aufträge, die es ausführt, und drittens durch die Stellungnahmen, die es zu seinem eigenen Handeln erhält. Es erfährt Bestätigung, Korrektur oder auch Tadel. Auf diesen konkreten Bewertungen baut es später seine Wertmaßstäbe und sein moralisches Denken und Handeln auf.

Erfahrungen im Zusammenhang mit Mein, Dein und gemeinsamem Besitz

Viele dreijährige Kinder haben, wenn sie erstmals in den Kindergarten kommen, noch wenig Erfahrungen mit Mein und Dein in Kindergruppen gemacht. Sie haben aber gelernt, dass bestimmte Dinge der Eltern für sie tabu sind. In der Regel erfassen sie schnell, mit welcher Kleidung sie in den Kindergarten gekommen sind, d.h. welche Schuhe oder welchen Anorak sie anziehen müssen, oder dass ein bestimmter Rucksack ihnen gehört, der ihr Frühstück enthält und den sie auch wieder mitnehmen sollen. Zweijährige sind oft noch nicht so weit.

Die Kinder erfahren, dass der Kindergarten Spielzeug besitzt, mit dem sie spielen dürfen, und dass es Regeln für dessen Gebrauch gibt: etwa es nicht mit nach Hause zu nehmen, Spielzeug, mit dem andere Kinder spielen, erst später zu benutzen oder das Mitspielen zu erfragen. Zugleich lernen die Kinder auch, mit dem Spielzeug, das dem Kindergarten gehört, achtsam umzugehen: sorgsam aufzuräumen, Kleinteile nicht zu verlieren oder Verbrauchsgüter wie Papier oder Klebstoff sparsam zu verwenden.

In vielen Einrichtungen wird von den älteren Kindern erwartet, sich für die Pflege des gemeinsamen Besitzes mit verantwortlich zu fühlen, etwa sich bei der Suche nach verloren gegangenen Teilen zu beteiligen, die Pflanzen auf der Fensterbank und im Hof zu gießen, das Wasser in der Vogeltränke im Hof zu erneuern, vielleicht sogar einen Teil des Hofes zu kehren.

Erfahrungen mit Gemeingütern in der frühen Kindheit

In ihrer frühen Kindheit sammeln Kinder auch Erfahrungen im Umgang mit echten Gemeingütern, wenn Erzieher/innen und Eltern wachsam sind oder entsprechendes Vorhaben speziell planen. Beispiele:

  • Beim Spaziergang beobachtet die Gruppe Straßenarbeiter. Das Thema wird interessant: Nicht nur: "Was ist kaputt gegangen?", sondern auch: "Wem gehört die Straße? Wer repariert sie und hält sie instand? Wer reinigt die Straße und wer bezahlt die Arbeiter für diese Tätigkeiten?" Möglicherweise gibt es in der Nähe des Kindergartens einen öffentlichen Blumenkasten oder einen Baum, den eine wechselnde kleine Abordnung der Kinder mit einer Erzieherin pflegen kann.
  • Die demnächst in die Schule kommenden Kinder besuchen eine Kinderbücherei. Sie erfahren die Regeln des Ausleihens von Büchern und probieren das auch aus.
  • Kindergruppen besuchen Museen, Kirchen, die Gemeindeverwaltung, einen nahe gelegenen Park, einen in der Nähe gelegenen öffentlichen Spielplatz, den sie vielleicht sogar mit von der Stadt zur Verfügung gestellten Zangen reinigen oder - wie ich es erlebt habe - die Papierkörbe mit Genehmigung der Stadt bunt bemalen, "damit die Leute sie besser sehen und benutzen".
  • Wald- und Naturtage bieten den Kindern Erfahrungen mit dem Gemeingut Natur. Manche Kindergärten, die mit ihren Gruppen regelmäßig in den Wald am Stadtrand fahren, erfinden ein Ritual, mit dem sie den Wald begrüßen und ihm danken, dass sie in ihm spielen dürfen. Erzieher/innen werden die Kinder vielleicht dazu anregen, dem Wald zu versprechen, dass sie ihm nicht schaden wollen, denn sie wissen, "dass der Wald den Tieren gehört". Manche Gruppen gehen regelmäßig zu einem Bach oder Tümpel, in dem sie vielleicht im Frühjahr die Kaulquappen in ihrem Wachsen und Verändern beobachten können. Möglicherweise beteiligen sich die älteren Kinder mit den Eltern einmal bei einer Aktion des Bund für Umwelt und Naturschutz, Frösche während ihres Laichzuges über die Straße zu tragen. Im Sommer beobachten sie vielleicht das Austrocknen des Baches und bauen einen Staudamm. Die Kinder erleben das Vorbild der Erzieher/innen, mit kleinen empfindlichen Tieren und Pflanzen behutsam umzugehen.
  • Leider gibt es heute in den Spielhöfen der Kindergärten nur noch sehr selten ein Gartenstück. Kinder erfahren nicht mehr, wie lange Nahrungspflanzen benötigen, um Früchte zu tragen. Die schnell wachsende Kresse, die oft in kleinen Schalen gesät wird, vermittelt eher ein falsches Zeitbild. Wenigstens eine Kräuterschnecke und einen Komposthaufen sollte sich ein Kindergarten anlegen. Vielleicht kann die Gruppe irgendwo an einer Seite des Hofes im Frühjahr ein paar Kartoffeln gezielt vergraben oder zwei Tomatenpflanzen setzen und die Fläche unkrautfrei halten, um das langsame Wachsen zu erleben und schließlich eine gemeinsame Speise daraus zuzubereiten. Anstrengung und Mühe machen einen Gegenstand wertvoller.

Das Problem mit der unendlich erscheinenden Endlichkeit

Wenn Kinder von Gemeingütern fasziniert sind, etwa von der Natur, oder mit Gemeingütern umgehen, wird die Erzieherin sie bei gegebenem Anlass in kurzen und einfachen Gesprächen auf die Empfindsamkeit dieses Gemeingutes aufmerksam machen. Oft werden Regeln vorgegeben oder gemeinsam entwickelt: etwa die Bücher aus der Bücherei achtsam zu behandeln, den Rastplatz oder die Regenhütte sauber zu verlassen, nichts in den Tümpel zu werfen, verirrte kleine Tiere wie Käfer und Raupen oder den Regenwurm dorthin zu bringen, wo sie Überlebenschancen haben, Pflanzen nicht unnötig zu beschädigen. Kinder, denen es im Kindergarten selbstverständlich war, einen Regenwurm vom Asphalt zu retten, können in ihren Jugendjahren vielleicht nachvollziehen, dass die urbane Zersiedelung der Erde ein Schaden für den Naturerhalt ist. Während das Kindergartenkind im Hier und Jetzt lebt und sich für den einen Regenwurm einsetzen kann oder stolz darauf ist, einen - eben diesen einen - Frosch über die Straße getragen zu haben, wird der Jugendliche oder Erwachsene sich vielleicht in seinem Lebensstil um schonenden Umgang mit der Natur bemühen, sich mit politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit Natur auseinander setzen, Stellung nehmen und notwendige Bestimmungen akzeptieren und vielleicht unterstützen.

Für das Entwickeln von Moral und ethischen Werten ist es wichtig, dass die Jugendlichen als Kinder gelernt haben, Grenzen anzuerkennen und einzuhalten, etwa die Sparsamkeit mit Verbrauchsgütern - vom Papier bis zur Energie. Sie müssen sich lokal eingesetzt haben, um später leichter global denken und verantworten zu können, und zwar auch dann, wenn der schädliche Eingriff in das System für sie nicht erkennbar ist. Sie werden erfassen, dass Individualverkehr reduziert werden muss oder dass es unnötig ist, alle zwei Jahre das Handy zu erneuern, weil seltene Metalle zu seiner Herstellung benötigt werden. Ihre Erfahrungen und Erfolgserlebnisse im konkreten lokalen Umgang mit Gemeingütern in der frühen Kindheit und im Grundschulalter werden ihnen später helfen, überzeugend zu erfassen, dass die unendlich erscheinenden Prozesse und Kreisläufe empfindsam und zerstörbar sind und dass es auf das Verhalten jedes einzelnen Menschen ankommt.

Fazit

Frühe pflegende und schützende Erfahrungen im Umgang mit Gemeingütern bilden das Fundament, um später ethische Werte im Zusammenhang mit global verantwortlicher und nachhaltiger Ethik zu entwickeln. Oft werden solche Erfahrungen in der Kindergartengruppe auch dazu beitragen, soziales Miteinander als Wohlgefühl zu steigern, weil es sich um gemeinsame Aktionen handelt. Auch das - nämlich das Wir-Denken - wäre ein Schritt, um Verantwortlichkeit zu erweitern und "zu globalisieren".

Hier haben die pädagogische Forschung und die praktische Erziehung und Bildung - auch die Bildung in der Frühpädagogik - noch viel zu leisten. Es handelt sich dabei nicht um eine vorübergehende Aufgabe, denn das überaus notwendige gesellschaftliche Verhalten, Gemeingüter regenerierbar zu erhalten, bleibt in alle Zukunft bestehen. Die Menschheit hat für immer die Fähigkeit und leider auch die Gier, die Natur auszubeuten und die Erde (in Teilen?) unbewohnbar zu machen. Gesetze werden gegen diese Gier nicht ankommen, wenn der Großteil der Menschheit nicht dahinter steht und in Verantwortung lebt. Für den Aufbau einer entsprechenden Ethik hilft es, wenn Kinder in ihrer frühen Kindheit durch zutreffende und auch stolz machende Erfahrungen auf spätere globale Verantwortung vorbereitet werden.

Anmerkung

Eine bewusst auf die Zukunft ausgerichtete Erziehung in der frühen Kindheit wird breiter behandelt in dem Buch: Freya Pausewang: Macht mich stark für meine Zukunft. Wie Eltern und Erzieherinnen die Kinder in der frühen Kindheit stärken können. München: oekom-verlag, geplant für Januar 2012

Literatur

Jackson, Tim (2011): Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. München: oekom-verlag

Pausewang, Freya/Strack-Rathke, Dorothea (2009): Ins Leben begleiten - Bildung und Erziehung in der sozialpädagogischen Praxis. Berlin, Düsseldorf, Mannheim: Cornelsen Scriptor Verlag

Spitzer, Manfred (2006): Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag

Stengel, Oliver (2011): Suffizienz . Die Konsumgesellschaft in der ökologischen Krise. München: oekom-verlag