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Zitiervorschlag

Erstveröffentlichung in: Christel Hofmann (Hrsg.): Die Kinder, der Krieg und die Angst. Hilfen zur Friedenserziehung. Mit einem Vorwort von Reinhart Lempp. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag Otto Maier 1991, S. 11-19

Die Kinder, der Krieg und die Angst

Ingeborg Becker-Textor 

 

Vor 30 Jahren initiierte ich beim Otto Maier Verlag in Ravensburg ein Buch mit dem Titel „Die Kinder, der Krieg und die Angst“ (Hoffmann 1991). Nachdem der Krieg in der Ukraine ausgebrochen war, nahm ich es wieder in die Hand und stellte fest, dass es noch immer – bzw. wieder – aktuell ist. So beschloss ich im Einvernehmen mit dem Verlag, meinen einführenden Beitrag zu diesem Sammelband hier noch einmal zu publizieren – mit kleinen Aktualisierungen.

Das Buch entstand anlässlich des Zweiten Golfkriegs. Ihm folgten viele weitere Kriege – z.B. im (ehemaligen) Jugoslawien, im Kongo, Jemen und Irak, in Georgien, Bergkarabach, Äthiopien, Afghanistan, Syrien und Mali. Somit wurden Eltern, Erzieher/innen und Lehrer/innen immer wieder mit denselben Fragen der Kinder konfrontiert, ihren Fragen nach den Ursachen und Folgen des jeweiligen Krieges. Nun erreicht der Ukraine-Krieg die Kinderzimmer, Kitas und Schulen – nicht zuletzt durch die Medien.

Etwas ist aus allen Kriegen geblieben: „Die Ängste und die Fragen unserer Kinder sind unsere Ängste und unsere Fragen, die wir in sie hineintragen. Wenn wir nicht verunsichert, ängstlich und voll Zweifel wären, dann wären es unsere Kinder auch nicht. Wir sind also eigentlich die Unwissenden und Ängstlichen, nicht die Kinder. Das nimmt uns das Recht, sie mit belehrenden Bemerkungen vom hohen Ross unserer Erwachsenenweisheit aus abzuspeisen oder sie mit billigem Trost zu beruhigen und sie nicht mit ihren Fragen und Sorgen ernst zu nehmen“ (S. 7). Diese Gedanken formulierte der bekannte Psychologe Prof. Dr. Reinhart Lempp in seinem Vorwort zum vorgenannten Buch.

Erwachsene und Kinder, Erwachsene und Krieg, Erwachsene und Angst

Die Erwachsenen sind in das Thema in einem Maße einbezogen wie nie zuvor. Und es sind die Kinder dieser Erwachsenen, die die Fragen stellen, unermüdlich, penetrant gründlich, unbequem und gleichzeitig selbstsicher, offen und nach Wahrheit suchend, sicher, dass das Gute siegen wird.

Es sind die Erwachsenen, die teilweise schon einen Krieg miterlebt oder überlebt haben – teils als junge Eltern, teils als Kinder oder Jugendliche. Es sind die Erwachsenen, die Kriege aus dem Geschichtsunterricht kennen, aus Erzählungen der Großeltern, aus der eigenen Kindheit und dem Leben in einer zerbombten Stadt, einem zerstörten Dorf, aus der Literatur, aus der Presse, aus dem Fernsehen. Die Erfahrungen reichen von Tatsachenberichten bis hin zu Sciencefiction-Filmen, in denen Waffen jeder Art eingesetzt werden und nichts unmöglich ist. Ganze Planeten werden vernichtet, und nicht selten spielt auch die Erde, auf der wir leben, in diesen Berichten eine nicht unerhebliche Rolle.

Die Erwachsenen sind aber auch jene Menschen, die Angst haben. Ihre Ängste wirken auf Kinder, Jugendliche, Freunde, Bekannte. Was löst diese Angst bei den Erwachsenen aus? Ist es das eigene Erleben der Grausamkeiten eines Krieges aus der Berichterstattung? Ist es die Angst vor dem Ungewissen, vor dem Nichtwissen, wie alles weitergehen oder enden wird? Welche Waffen könnten noch eingesetzt werden? Wird ein Aggressor einlenken? Welche Katastrophen werden die Folgen sein für die Menschen, die Natur, die Kultur, den Weltfrieden, die Verständigung der Völker und Nationen untereinander? Ist es die Enttäuschung und Machtlosigkeit darüber, dass Friedensbemühungen schon so häufig fehlgeschlagen sind, dass kein konstruktiver Dialog gefunden wurde? Ist es die Angst vor den weiteren Auswirkungen eines Krieges auf den Lebensstandard? Wann haben die vielen Kriege in der Geschichte und Gegenwart jemals Ängste in diesem Maße ausgelöst?

Es sind die Erwachsenen, die von den Kindern immer häufiger nach dem Krieg gefragt werden (oder auch nicht…). Es liegt in hohem Maße an den Eltern, Erzieher/innen und Lehrer/innen, was Kinder fragen, wie offen und echt sie ihre Unsicherheiten, ihre Ängste, ihre Fragen, ihre Bedenken und auch ihre Lösungsansätze und -ängste formulieren.

So sind die Erwachsenen in diesen Krisentagen gefordert (und gleichzeitig überfordert), denn Kinderfragen kennen keine Grenzen. Sie nehmen keine Rücksicht auf die Erklärungsbereitschaft ihres Gegenübers. Erst wenn sie keine Antworten bekommen und sich dieses Verhalten beim jeweiligen Erwachsenen häuft, dann geben sie auf – allerdings nur verbal. Kinder kennen viele Wege sich auszudrücken und beherrschen viele „Sprachen“. Wenn sie dennoch sprachlos werden, dann haben wir Erwachsenen in der Erziehung versagt. Dazu darf und soll es nicht kommen!

Dr. Gebhard Glück, der damalige Bayerische Staatsminister für Arbeit, Familie und Sozialordnung, verwies 1991 in einer Pressemeldung daraufhin, dass „Eltern ihren Kindern helfen müssen, Eindrücke zu ordnen, Gefühle und Gedanken auszusprechen. Dazu gehöre auch, dass man auf die Fragen der Kinder ihrem Alter gemäß antworte und so versuche, Orientierung zu geben. In jedem Fall aber sollten Eltern mehr Zeit für ihre Kinder haben, vermehrt gemeinsame Aktivitäten in der Familie durchführen, auf ihre Kinder sowie deren Fragen und Anliegen eingehen, alles dazu beitragen, dass das Kind sich trotz Kriegssituation sicher und geborgen fühlt“. Er stellte damit im Gleichklang mit dem Pädagogen Prof. Dr. Wolfgang Brezinka die Bedeutung der elterlichen Erziehung in den Vordergrund.

In einem Beitrag in der Elternzeitschrift „Elternforum“ vom April/Mai 1990 verwies Brezinka in aller Deutlichkeit auf den Stellenwert der elterlichen Erziehung. Er erklärte mit Nachdruck, dass Eltern die wichtigsten Erzieher sind. Wenn dem so ist, dann kommt den Eltern (und anderen den Kindern emotional sehr nahestehenden Erwachsenen) eine außerordentliche Rolle zu: „Die Eltern sind noch immer die wichtigsten Erzieher, und die Lebensgemeinschaft der Familie ist zugleich die wichtigste Erziehungsgemeinschaft. Alle anderen Erzieher in Kindergärten und Horten, Schulen und Heimen können nur ergänzen, was die Eltern erzieherisch leisten sollen, aber sie können es nicht vollwertig ersetzen. Die Verantwortung für die Erziehung als Ganzes liegt bei den Eltern… Die wichtigste Bedingung ist eine gute gemeinsame Lebensordnung, die relativ dauerhaft ist und von allen Mitgliedern der Gruppe anerkannt wird. Den Kern jeder Lebensordnung bilden gemeinsame Glaubensgüter, Werte und Normen. Dazu gehören auch die Persönlichkeitsideale, die für die Erziehung der Kinder maßgebend sind…

Kinder warten nicht darauf erzogen zu werden, sondern sie lernen von selbst aus allem, was sie in ihrem Lebensraum wahrnehmen – sei es gut oder schlecht, wertvoll oder minderwertig. Sie richten sich zunächst nach dem Verhalten ihrer Eltern – und zwar in seiner ganzen Breite, also nicht nur nach dem, was diese in erzieherischer Absicht tun. Kinder sind Lernwesen. Ihr Lernstoff ist die Welt, soweit sie ihnen zugänglich ist. Am tiefsten wirkt davon, was beständig ihr Gefühl anspricht – sei es positiv, sei es negativ. Da die Kinder gefühlsmäßig lange Zeit auf ihre Eltern angewiesen sind, lernen sie vor allem von ihnen, wie die Welt zu deuten ist und worauf es im Leben ankommt“ (Elternforum 4/5, 1990).

Unbequem für die Erwachsenen? Sie stehen in der Verantwortung. Kinder fragen, Erwachsene müssen antworten. Eltern müssen ihren eigenen Standpunkt finden – ihre Unsicherheit verunsichert die Kinder. Kein Erwachsener kann den Fragen der Kinder entgehen.

Vielleicht ist es uns gelungen, den Krieg aus dem Elternhaus draußen zu halten. Dann kommt das Thema durch die Hintertür: ein Gespräch mit der Nachbarin – die Kinder haben Gesprächsfetzen aufgeschnappt; im Kindergarten wurde für ein baldiges Ende des Krieges gebetet; die Kinder haben Bilder gemalt und schützen sich mit der Aussage, dass der Krieg ja nur im Fernsehen wäre.

Als ich vor über 30 Jahren meinen Beitrag für das vorgenannte Buch schrieb, habe ich viele Menschen befragt. Die Antworten haben noch heute Bedeutung. Die ganz unterschiedlichen Berichte zeigen, wie sehr wir als Erwachsene gefordert sind. Es gibt kein Davonlaufen, kein Kneifen vor Antworten. So meinte ein Sozialpädagoge: „Kinder müssen frühzeitig lernen, sich mit der oft harten Wahrheit auseinanderzusetzen. Verharmlosung erleben schon kleine Kinder als Lüge der Erwachsenen“.

Bei uns Erwachsenen besteht Einigkeit darin, dass mehr Zeit für Kinder aufgebracht werden muss und sie in verstärktem Maße emotionaler und auch körperlicher Zuwendung und Nähe bedürfen, um Vertrauen und Sicherheit zu erfahren und um die Haltungen und Werte der Eltern wahrnehmen zu können. Eine Mutter: „Kinder brauchen in dieser schrecklichen Zeit viel Geborgenheit. Ich schränke daher viele außerhäuslichen Termine auf das Allernötigste ein.“

Bleiben wir bei uns Erwachsenen. Bei den Fragen der Kinder nach dem Krieg stoßen wir an unsere Grenzen. Wir erfahren unsere eigene Machtlosigkeit, Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit, sind wie gelähmt. Nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen noch mit Verhaltensregeln und Rezepten lässt sich diese schwierige Situation erleichtern, lassen sich die Probleme lösen.

Im Elternbrief Nr. 20 der Bundesvereinigung Evangelischer Kindertagesstätten war damals zu lesen: „Keine Angst vor der Angst. In Angst und doch gehalten. Angst ist da. Sehr oft schützt sie Menschen vor unüberlegten Schritten. Angst kann Macht gewinnen. Und wenn nur noch Angst da ist, kann kein Mensch mehr leben. Man kann lernen, mit der Angst und gegen die Angst zu leben. Die Angst braucht Grenzen, Dämme, Hindernisse, wenn sie sich nicht breitmachen soll. Sie braucht die Erfahrung des Vertrauens. Wenn Angst einen Menschen berührt, dann braucht er die Erfahrung, in meiner Angst bin ich gehalten. Sie kann mir nicht den Atem nehmen und das Rückgrat brechen. Ich falle nicht schutzlos. Denn der dich behütet, schläft nicht“.

Wir Erwachsenen sind nicht gefeit vor Streitigkeiten und Auseinandersetzungen bis hin zu Kriegen. Das bedeutet, dass wir uns immer wieder stark machen müssen gegen die Angst und fortfahren, den Frieden zu üben. Wenden wir uns nun nach dem Blick auf uns selbst der Dreigliederung dieses Buches zu.

Die Kinder

Kindheit heute. Stimmt es, wie Neil Postman (vor einigen Jahrzehnten) schrieb, dass Kindheit verschwunden ist? Die ganze Erwachsenenwelt den Kindern zugänglich ist? Wo bleiben die Geheimnisse, die Wünsche, das Fragen „wenn ich einmal groß bin…“?

In einer Gesellschaft, die von sich behauptet, kinderfreundlich zu sein, gibt es mehr Gebote und Verbote als je zuvor. Zum Schutz der Kinder? Ruft man deshalb zur Sicherung des Wohles des Kindes nach Kinderschutzbeauftragten und einem Kinderparlament? Wo stehen die Kinder heute? Viele positive Rahmenbedingungen konnten geschaffen werden. Es gibt eigene Kinderzimmer, einer Fülle von Spielmaterial, die Behütung durch die Eltern in der Einkind- oder Zweikindfamilie, Spezialprogramme und Kurse für Kinder in Kitas, Schulen, Freizeitstätten, offenen Angebote für jede Interessenslage, Events, Medienspektakel usw.

Vieles wird für Kinder herangeschafft und angeschafft. Eltern sprechen von Verzicht zugunsten der Kinder, die sowieso schon alles haben. Anderes ist jedoch mehr und mehr verloren gegangen: die personale Zuwendung, die emotionale Nähe von Vater und Mutter, das Vorbild der Eltern als Modell im Sinne der Lerntheorie. Gerade in den Tagen, wenn Angst und Unsicherheit das Leben unserer Kinder bestimmen, wird dies deutlich und hoffentlich auch uns allen bewusst. Seine innersten Fragen trägt ein Kind an die Person seines Vertrauens heran, bei der es sich geborgen fühlt. Und dies sollte das Elternhaus sein. Das Kind erwartet Antwort, Antworten auf die Fragen, die es gestellt hat. Es darf nicht sein, dass wir dem Kind unsere Fragen unterjubeln, versuchen, sie zu den Fragen des Kindes zu machen. Kinder spüren das sehr wohl. Sie wollen etwas wissen und haben dabei keine Angst, als dumm oder schwach hingestellt zu werden. Nur leider reagieren die Erwachsenen häufig so: „Du kleines Dummerle, du brauchst doch keine Angst zu haben.“ Als ob Angst etwas mit Dummheit zu tun hätte!

Eltern können nicht allwissend sein. Sie können auch zugeben, etwas nicht zu verstehen, nicht zu wissen, Zeit zum Nachdenken zu gebrauchen. Bitte keine Ausflüchte! Erwachsene sind häufig sprachlos, verstehen die Ausdrucksvielfalt der Kinder nicht. Kinder setzen oft nonverbale Zeichen. Damit aber insbesondere Erwachsene Emotionen besser verstehen können, müssen nach Meinung des amerikanischen Psychologen Jerome Kagan (1987) drei Probleme gelöst werden: „Es kommt darauf an, zwischen körperlichen Veränderungen zu unterscheiden, die bemerkt werden, und solchen, die unbemerkt bleiben; außerdem gilt es, die geeignetsten Bezeichnungen für emotionale Zustände zu finden“ (S. 216).

Was heißt das im Blick auf unsere Kinder in der Situation der Angst, der Angst vor dem Krieg und seinen Auswirkungen? Für Erwachsene heißt dies, dass alle Veränderungen bei den Kindern wahrgenommen werden müssen. Dabei können sich viele kleine Symptome zu einem Ganzen zusammenfügen, und plötzlich wird uns klar: unsere Kinder haben Angst. Schneller Puls, ruckartiges Atmen, erhöhte Nervosität, körperliche Verspannung, klopfende Kopfschmerzen, Unkonzentriertheit, Niedergeschlagenheit, Überempfindlichkeit, Unruhe, übertriebene Anpassung, Absencen, unerklärliche Erschöpfungszustände, Schweißausbrüche, Gefühlsschwankungen, starrer Blick, extreme Traurigkeit oder verstärkter Rückzug können uns sagen, dass etwas nicht in Ordnung ist mit dem Kind. Vielleicht hat es Angst? Die Mutter verlangt doch immer von ihm, dass es mutig sein soll. Was passiert, wenn es zugibt, dass es Angst hat? Zur Angst vor dem Fragen nach dem Krieg kommt noch die Angst vor dem Zuwendungs- und Liebesverlust.

Emotionen von Kindern werden durch Wissen beeinflusst: „In den ersten Lebensjahren werden Emotionen zumeist durch äußere Ereignisse hervorgerufen, mit sieben Jahren bekommen Vorstellungen ein entscheidendes Gewicht. Deshalb sind jüngere Kinder in ihren emotionalen Zuständen leichter zu beeinflussen als ältere Kinder Die Emotionen jüngerer Kinder sind labil, weil sie leicht auf Veränderungen der äußeren Situation ansprechen, nicht etwa weil junge Kinder eine labile Physiologie hätten. Wir unterscheiden deshalb zwischen akuten Emotionen, die durch bestimmte Ereignisse ausgelöst werden, und chronischen Stimmungen, die auf dauerhaften Überzeugungen basieren. Den Erwachsenen zeichnen seltenere Veränderungen der akuten Emotionen und stabilere Stimmungen aus, weil seine Gefühlszustände mehr von langfristig bestehenden Überzeugungssystemen abhängen und weniger leicht auf geringfügige Störungen der Umwelt ansprechen“ (Kagan 1987, S. 252). Dennoch ist durch den Krieg die Gefühlswelt der Erwachsenen in ein großes Durcheinander geraten. Es ist schwer erklärbar, was genau die emotionale Erschütterung und die Angst ausmacht bzw. begründet.

Kehren wir zurück zur Beobachtung unserer Kinder, dem Zuhören und Hinsehen. Wir müssen es ganz schnell lernen und dann mit den Kindern sprechen. Dabei können wir uns von dem Philosophen Montaigne leiten lassen „Wir sollten uns schlicht ausdrücken und nach Kräften Güte und Reinheit zeigen“. Kinder fordern Wahrheit, und wir sind aufgerufen, nichts zu sagen, was wir später zurücknehmen müssten. Ersparen wir den Kindern diese Enttäuschung!

Kinder hören oder sehen Nachrichten. Sie können Vieles nicht verstehen, interpretieren Begriffe mit dem Reichtum ihrer Fantasie. Was heißt Rückzug, Bodenoffensive, Befreiung, Waffenstillstand? Auch für viele ältere Kinder sind das abstrakte Begriffe, die nachgeplappert und benutzt werden, ohne den wirklichen Inhalt der Worte zu verstehen. Erklärungswütige Erwachsene mögen langatmige Monologe halten – die Kinder verstehen dennoch nichts, da es den Erwachsenen nicht gelingt, die Kinder dort abzuholen, wo sie stehen, also an ihrem Entwicklungsstand und ihrer Aufnahmefähigkeit anzusetzen.

Ein fünfjähriges Mädchen sprach mit mir über Krieg: „Da hat einer Land genommen und gesagt: Das Land gehört mir. Drum ist jetzt Krieg. Ich hab keine Angst, aber ich bin traurig, dass die Menschen sterben und die Kinder dann vielleicht keine Mama und keinen Papa mehr haben. Ich glaub nicht, dass es bei uns Krieg geben wird. Dass woanders Krieg ist, das hab ich im Fernsehen gesehen. Beim Anschauen geht es mir gar nicht gut. Ich mach fest die Augen zu.“

Eine Mutter berichtete: „In den ersten Kriegstagen hörte ich viel Radio. Wenn Sophie im Raum war, wurde sie bei Nachrichten sofort aufmerksam und rief ‚Mami, Krieg ist im Radio‘“.

Für viele Kinder ist auch schwer verständlich, dass wegen des Krieges z.B. Veranstaltungen wie Fastnacht ausfallen. Eine Freundin berichtete mir: „In diesem Zusammenhang fällt es mir schwer, meinen Kindern verständlich zu machen, warum bei uns alle Faschingsveranstaltungen ausfallen. Die Kinder fragten, warum gibt es keinen Kinderfaschingsball? Wir Kinder haben den Krieg doch nicht gemacht!“

Wir Erwachsenen können noch lange über die Kinder nachdenken und über sie schreiben. Aber wir werden niemals ganz ergründen, was in ihren Köpfen vor sich geht.

Der Krieg

Es ist ein Krieg, der aus dem Radio, dem Fernsehen, der Presse zu uns kommt. Wir sind weit weg vom Kriegsgeschehen. Unsere Informationen beruhen auf Mitteilungen in den Medien; ob sie vollständig oder unvollständig sind? Eltern und Kinder kennen niemanden im Kriegsgebiet, sie waren nie dort. In den Medien gibt es Bilder des Grauens, Bilder von toten und verletzten Menschen. Kleine Kinder vergleichen Luftangriffe oft mit Feuerwerksspektakel. Im Jahr 1991 war in einer Tageszeitung zu lesen: „Ein Bombenteppich über Bagdad ist zu abstrakt, zu unpersönlich, damit können Kinder noch nichts anfangen, er innere allenfalls an ein Feuerwerk“. Kinder suchen immer nach Vergleichen mit zurückliegenden Erlebnissen und Ereignissen in ihrem Erfahrungsraum – so auch hier.

Die Rundfunkberichterstattung wurde damals von vielen pädagogischen und psychologischen Fachleuten als das ungefährlichere Medium bezeichnet, da es keine Bilder übermittelt. Aber auch Worte verunsichern Kinder, machen Angst, regen die Fantasie an. Man soll Kindern keine Ängste vor dem Krieg einreden. Wir kommunizieren mit ihnen, wann immer wir mit ihnen zusammen sind, verbal und nonverbal. Sicher können kleine Kinder mit dem Begriff Krieg (noch) nichts anfangen. Sie verbinden aber die Gefühle ihrer Eltern und Vertrauenspersonen mit dem Thema.

Also sind wieder wir Erwachsenen gefordert. Unsere Kinder haben schon viel zu viele Kriege und Aggressionen „erlebt“. Unsere Medien sind täglich voll davon. Kinder kennen viele Kriegsbilder. Und es macht für sie keinen Unterschied, ob es sich dabei nur um einen Film oder um Wahrheit handelt. Wahrheit kann auch zum Film werden. Gewalt, Aggression, Krieg, Mord, Tod, Schlägerei, Kämpfe usw. gehören zu unserem visuellen Unterhaltungsprogramm. Kinder verfolgen gespannt die Ballerei auf dem Bildschirm. Menschen stürzen von Pferden, fallen reihenweise tot oder verletzt um. Meist siegt am Schluss das Gute. Kinder und Erwachsene hoffen auf ein gutes Ende. Es ist wie im Märchen. Auch dort gibt es Gift, Mord, Tod. Aber die Betroffenen werden – wenn sie gut sind – wieder lebendig oder sterben, weil sie eben böse sind.

Auch beim Medienkonsum werden wir Erwachsenen von unseren Kindern beobachtet. Finden Mama und Papa das spannend, wenn in einem Krimi so viele Menschen getötet werden? Ach so, wir erklären das oft mit der Aussage: war nur ein Film. Die Wissenschaft ist sich darüber einig, dass die entscheidenden Wirkungen des Fernsehens bei unseren Kindern im Bereich der Emotionen und Gefühle liegen. Schon im Wörterbuch der Vorschulerziehung vom Ende der 1970er Jahre ist zu lesen: „Sich wiederholende, ähnliche Gewaltdarstellungen können – vor allem bei Vielfernsehern – zu einer Stimulierung des Rezipienten hin zu einer Verstärkung eigener Aggressivität führen“ (Niermann 1979).

Vielleicht erklären sich damit auch die unterschiedlichen Reaktionen der Kinder auf das Kriegsgeschehen, die im Einzelfall von Gleichgültigkeit und Desinteresse bis hin zu Angst und Furcht vor dem nicht fassbaren Krieg reichen und sie laut und aggressiv werden lassen. Kriegsberichte in den Medien können wir bei allem Bemühen nicht von den Kindern fernhalten. Sie dröhnen aus dem Autoradio, stehen auf den Titelseiten der Zeitungen – wohl den Kindern, die noch nicht lesen können. Kinder, die zuhause nicht fernsehen, nutzen die Chance bei Freunden. Medienkonsum lässt sich auch durch die besten und verantwortlichsten Eltern nicht total kontrollieren. Also muss es zum Dialog über den Krieg zwischen Eltern und Kindern kommen.

Die Angst

Die Angst hat alle gepackt, Kinder und Erwachsene. Woher kommt die Angst der Kinder? Sind wir es, die sie übertragen, ausstrahlen, hervorrufen? Manche Ängste lassen uns ein Leben lang nicht los, sie gehören zu unserem Alltag. Aber dann kam die große Angst, die Kriegsangst. Wir fühlen immer mehr Unsicherheit, Unbehagen, Nervosität, Beklemmung, Bangen, Bedrohung, Anspannung, Unruhe, Aufregung, Furcht, Bestürzung, Schrecken, Panik, Entsetzen, Scham, Befangenheit. Diese Angst kann eine kurze, vorübergehende Phase, aber auch prägend und langanhaltend sein. Durch die Begegnung mit geflüchteten Kindern und Erwachsenen wird sie für unsere Kinder noch realistischer. Kinder nehmen Angst kognitiv wahr, aber auch auf der subjektiv-emotionalen Erlebnisebene oder körperlich durch Herzklopfen und Schweißausbrüche bis hin zu motorischen Reaktionen wie Zittern, Stottern usw.

Alles sind Erscheinungsformen der Angst. Überlegen wir, welche Symptome haben wir schon an uns, an Menschen in unserer nächsten Umgebung oder an unseren Kindern wahrgenommen? Hat uns die Angst geholfen, unsere Fragen zu beantworten, oder hat sie uns vielmehr neue Fragen aufgegeben? Angst lähmt und macht sprachlos. Vielleicht fällt es uns deshalb auch so schwer, unseren Kindern etwas zu erklären. Verschanzen wir uns hinter unserer Angst, sagen den Kindern, dass wir große Angst haben und hilflos sind, übertragen auf sie unsere Angst und bleiben Antworten schuldig?

Angst ist etwas, was niemand so gerne zugeben will. Denken wir an die Situation eines Streits zwischen zwei Kindern. Sie schlagen sich. Ein Junge sagt überheblich: „Ich bin stärker als du, dich schaff ich locker“. Der andere Junge kontert: „Mach doch, ich hab keine Angst“. Während er dies sagt, rinnen ihm die Schweißperlen von der Stirn, die Angst spricht ihm aus den Augen, aus seiner ganzen Körperhaltung. Wie würden wir uns als Erwachsene verhalten? Viele Menschen suchen in Tagen der Angst Zuflucht im Glauben. Sie beten und bitten Gott um Hilfe. Erwachsene tun es im Stillen; Kinder beziehen uns hingegen in ihr Gespräch mit Gott ein, bitten um Frieden.

Die Angst. Wie können wir sie überwinden? Wie können wir umgehen mit unseren Kindern, dem Wissen um Krieg und unseren und unserer Kinder Ängste? Eltern sind die wichtigsten Erzieher. Es ist wieder deutlich geworden: Wir müssen in den Dialog mit unseren Kindern eintreten und uns auf deren „Frage-Antwort-Spiel“ einlassen. Wir können leichter antworten, wenn wir uns von dem Glauben befreit haben, dass wir „Übermenschen“ und „angstfreie Wesen“ sein müssen. Dann können wir in der Kinder gemäßen Weise antworten, offen und vertrauensvoll. Und wir müssen von Fachleuten global formulierten Rezepten gegenüber Vorsicht und Distanz entwickeln. Auch die „Rezeptemacher“ sind Betroffene. Treten wir stattdessen mit anderen Eltern, Erzieher/innen und Lehrer/innen in einen Dialog ein. Wir alle sitzen im gleichen Boot und können es gemeinsam gegen die Angst und für den Frieden steuern!

Literatur

Brezinka, Wolfgang: Eltern sind die wichtigsten Erzieher. Elternforum 1990, Heft 4/5

Hofmann, Christel (Hrsg.): Die Kinder, der Krieg und die Angst. Hilfen zur Friedenserziehung. Mit einem Vorwort von Reinhart Lempp. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag Otto Maier 1991

Kagan, Jerome: Die Natur des Kindes. München Piper 1987

Lempp, Reinhart: Vorwort. In: Christel Hofmann (Hrsg.): Die Kinder, der Krieg und die Angst. Hilfen zur Friedenserziehung. Mit einem Vorwort von Reinhart Lempp. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag Otto Maier 1991, S. 7-9

Niermann, Monika M. (Hrsg.): Wörterbuch der Vorschulerziehung. Heidelberg: Quelle & Meyer 1979

Postman, Neil: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt/Main: Fischer 1982

Autorin

Ingeborg Becker-Textor ist Kindergärtnerin und Hortnerin. Sie studierte Diplom-Sozialpädagogik an der Fachhochschule Würzburg und Diplom-Pädagogik an der Universität Würzburg und hat mehrere Zusatzqualifikationen wie z.B. den Abschluss als Fachlehrerin für Werken und das Montessori-Diplom erworben.
Frau Becker-Textor arbeitete als Kindergartenleiterin in Würzburg, als Regierungsfachberaterin für Kindertageseinrichtungen in Unterfranken, als nebenberufliche Dozentin in der Ausbildung für Kinderpfleger/innen und Erzieher/innen, in der Fortbildung für Erzieher/innen und Fachkräfte in der Jugendhilfe sowie mehr als 20 Jahre lang als Referatsleiterin im Bayer. Sozialministerium (nacheinander in den Bereichen Jugendhilfe, Kindertagesbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit). Im Ministerium war sie auch für zahlreiche Forschungsprojekte auf Landes- und Bundesebene zuständig. Von 2006 bis 2018 leitete sie zusammen mit ihrem Mann das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg.
Ingeborg Becker-Textor ist Autorin bzw. Herausgeberin von mehr als 20 Büchern und über 40 Medienpaketen. Sie hat ca. 140 Fachartikel in Zeitschriften, in Sammelbänden und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de