Freya Jaffke (1937-2021)Pionierin der Waldorfkindergartenpädagogik

Freya Jaffke gehörte zum Kreis der Mitarbeiter*innen, die „sich mit wachsender Intensität der Aufgabe zuwandten, die bestehende Kindergartenlandschaft durch Waldorfpädagogik zu inspirieren und qualitativ zu erweitern“ (Lang 2015, S. 20). Ihre Bücher über Spielzeug, Spiele, Feste feiern, Tänze u.dgl.m. sind längst zu Standardwerken der anthroposophischen Frühpädagogik geworden und in viele Sprachen der Welt  übersetzt.

Leben und Wirken

Freya Gerlinde erblickte am 2. Mai 1937 in Schwelm (Westfalen) das Licht der Welt. Sie war das zweitälteste von vier Kindern  des Zahnarztes Ernst Jaffke (1897-1984) und dessen Ehefrau Herta Jaffke (1909-1976), geb. zur Linden. Es war vor allem die Mutter, die ihren Kindern, „mit dem Erzählen von Märchen und mit kleinen Spielen“  einen Schutzraum verschaffte. Auch das Paradeis- und Christgeburtsspiel wurde  (…) 1944 in der großen Wohnung von Jaffkes aufgeführt: ‚Gott lobe ma schon im hechsten Thron‘ ertönt, während draußen die Bomben fielen“ (Eichenberg 2017, S. 12). Ab 1946 besuchte Freya Jaffke in Wuppertal die neu gegründete „Rudolf-Steiner-Schule“, die sie mit der 12. Klasse verließ. Gerne hätte sie den Beruf der Handarbeitslehrerin erlernt. Doch dazu gehörte „damals die Ausbildung zur Schneiderin. Als es soweit ist, nimmt die vorgesehene Meisterin aus Altersgründen keine Lehrlinge mehr auf. So blieb als einzige Möglichkeit die Ausbildung über die Kindergärtnerin zur Handarbeits- oder Werklehrerin“ (ebd.). Von 1956 bis 1958  absolvierte sie die Kindergärtnerinnen- und Hortnerinnenausbildung am anthroposophisch ausgerichteten „Seminar für Frauenbildung“ in Kempfenhausen am Starnberger See. Anschließend arbeitete die frischgebackene Kindergärtnerin und Hortnerin in einem Kinderheim für „milieugeschädigte“ Kinder der Stadt Wuppertal. Schließlich entschied sie sich für ein Waldorf-Praxisjahr (Ostern 1959 bis Ostern 1960) in dem 1945 in Hannover von Klara Hattermann (1909-2003) gegründeten und geleiteten Kindergarten. Nachfolgend zeichnete sie für den Aufbau eines Kindergartens an der „Freien Georgenschule“ in Reutlingen verantwortlich. Diesen leitete sie vier Jahre, blieb ihm aber weiterhin als Mitarbeiterin treu. Von 1964 bis 1966 absolvierte sie die Jugendleiterinnenausbildung an der „Höheren Fachschule für Sozialarbeit der Stadt Köln“ (heute „University of Technology, Arts, Sciences“). Die Ausbildung berechtigte Freya Jaffke für den Praxisunterricht an Fachschulen für Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen  (später Fachschulen/-akademien für Sozialpädagogik). Neben Klara Hattermann, Helmut von Kügelgen (1916-1998) und Elisabeth von Grunelius (1895-1989) (vgl. Berger 2022, S. 35 ff.) war sie maßgebend an der Gründung (Oktober 1969) der „Internationalen Vereinigung der Waldorfkindergärten e. V.“ beteiligt. Zudem unterrichtete sie ab 1971 an den in Stuttgart durchgeführten berufsbegleitenden Ausbildungskursen zur Waldorfkindergärtnerin. An der 1975 gegründeten „Privaten Fachschule für Sozialpädagogik – Waldorfkindergärtnerinnenseminar Stuttgart“ war sie Mitglied des Gründungskollegiums und führte 1977 die erste Klasse zum Abschluss durch die Fremdenprüfung in Ludwigsburg. In nächtelangen Sitzungen „wurden die Prüflinge vorbereitet, damit auch nichts schiefging. Es hing ja auch von dem Bestehen das Ansehen des Seminars und die spätere Anerkennung ab, die dann auch bald folgte. Um weiter mit den Kindern arbeiten zu können, beschränkte sie sich in den Folgejahren darauf, die Waldorfintensivkurse zu unterrichten und nicht mehr Klassen für das Examen vorzubereiten“ (Eichenberg 2017, S. 16). Nach der „Wende“ engagierte sich Freya Jaffke in den neuen Bundesländern. Dort begleitete sie den Aufbau von Waldorfkindergärten und -seminaren. Im April 2009 zog sie in das „Nikolaus-Cusanus-Haus“ in Stuttgart, eine anthroposophisch inspirierte Einrichtung für betreutes Wohnen, vollstationäre Pflege, Tagespflege, ambulante Kranken- und Altenpflege. Freya Jaffke ist am 1. Juni 2021 in den frühen Morgenstunden verstorben.

Aspekte zur Praxis und Theorie des Waldorfkindergartens

Das Menschenbild der Waldorfkindergartenpädagogik „fußt auf der Menschenkunde Rudolf Steiners“ (Jaffke 1980, S. 7). Dessen philosophisch-spirituellen Auffassung zufolge ist der Mensch ein Wesen, bestehend aus einem Leib, der von „den Eltern aus zwei Vererbungsströmen“ (ebd.) gespendet wird, Seele, Geist und Ich. Die menschliche Entwicklung erfolgt in Sieben-Jahres-Schritten. Dabei wird die erste Periode zwischen Geburt und Zahnwechsel als besonders bedeutsam angesehen. Die Kinder lernen über ihre Sinne. Die in dieser Zeit erworbenen Eindrücke und Fähigkeiten bilden „eine wesentliche Grundlage in der späteren selbständigen Lebensführung“ (Jaffke 1979, S. 370). Darüber hinaus folgt die anthroposophische Menschenkunde dem Gedanken der Reinkarnation, basierend auf der Annahme, dass der Geist unsterblich ist.  Demzufolge „erhält Erziehung die Aufgabe der Inkarnationshilfe und geistigen Erweckung; der Erzieher wird hier gleichsam zum Priester und Seelenführer des Kindes“ (Ullrich 2002,S. 68).

Lernen in Gemeinschaft und im Lebenszusammenhang

Freya Jaffke verglich den Alltag im Kindergarten mit dem „Leben und Arbeiten in einer Großfamilie“ (Jaffke 1991, S. 20). Die Kindergruppe sollte durchschnittlich 20 Jungen und Mädchen im Alter von drei bis sieben Jahren umfassen. In solcher alters- und geschlechtsgemischten Gruppe lernen die Kinder voneinander „und helfen sich gegenseitig, wie das unter Gleichaltrigen gegeben und nötig ist. Auch ist es eben durchaus lebensmäßig, wenn zum Beispiel die Dreijährigen erleben, daß die Sechsjährigen Dinge tun dürfen, die ihnen noch vorbehalten bleiben, und umgekehrt, daß den Dreijährigen manches nachgesehen wird, was bei den Sechsjährigen nicht geduldet werden könnte“ (Jaffke 1980, S. 44). Kinder lernen nicht nur voneinander, sie lernen vor allem an all den Tätigkeiten und Vorgängen, die in ihrer Umgebung vollzogen werden. Demzufolge besteht die „Aufgabe für die Erziehenden im Waldorfkindergarten, Lebenstätigkeiten hereinzuholen und in Gegenwart der Kinder durchzuführen“ (Jaffke 2015, S. 147). Zum Beispiel:

Häusliche Arbeiten, wie kochen, backen, spülen, waschen, bügeln, fegen, wischen, Blumenpflege. Spielzeugherstellung und –pflege: dazu gehören unter anderem: sägen, raspeln, schnitzen, leimen, Reparaturen aller Art, nähen, stopfen. Gartenarbeit: graben, säen, pflanzen, gießen, jäten, mähen, ernten. Hinzu kommen Erlebnisse auf Spaziergängen, zum Beispiel: Müllautos, Straßenbauer, Holzfäller, Kaminfeger, die Frau in der Heißmangelstube, die Arbeiter in der benachbarten Gärtnerei“ (Jaffke 1980, S. 44).

Diesbezüglich kommt es vordergründig nicht auf die Menge der Tätigkeiten, und Vorgänge an, sondern darauf, dass „die Kinder sowohl die Arbeit als auch die Menschen, die sie verrichten, in ihrem Verhalten erleben können, wie sie die Arbeitsgänge nacheinander ausführen, wie sie Hand in Hand arbeiten, sich gegenseitig helfen“ (ebd., S. 44 f). Dabei werden des Kindes Beobachtungen und Erlebnisse von ihm nicht verstandesmäßig reflektiert, beurteilt oder bewertet, „sondern mit seinem ganzen hingebungsfähigen Wesen aufgenommen. Dadurch werden Impulse für eigenes Tun und Üben geweckt und gleichzeitig die den Leib aufbauenden und bildenden Kräfte in vielfältiger Weise angeregt. Für den Erzieher ergeben sich daraus Richtlinien für die Methodik in der Vorschulzeit. Er wird selbst vielseitig arbeiten im Zusammensein mit den Kindern, und zwar in sinnvoller, lebensnotwendiger Weise, so daß die Kinder in ihrem Tun diese Arbeit unmittelbar aufgreifen und nachahmen können“ (ebd., S. 45).

Lernen durch Vorbild und Nachahmung

Das Kind im ersten Jahrsiebt „ist ein Nachahmer“ (Jaffke 1991, S. 19), es ist „ganz Sinnesorgan“, d.h. es lernt nicht durch Belehrung, sondern durch Nachahmung und nur von dieser Basis aus erweitert es seine Welterfahrungen und Zuwendungen. So erscheint jeder Appell an intellektuelles Lernen, abstrakt zu erklären und zu begründen „als unsachgemäß verfrüht, ja sogar störend“ (Jaffke 1983, S. 47). Nicht  nur die Handlungen des Erwachsenen ahmt das Kind nach, es übernimmt auch dessen Stimmungen, Gefühle, Einstellungen und Gedankenformen. Er ist den Kindern „unbedingtes Vorbild, zu ihm schauen sie auf, an ihm orientieren sie sich, von ihm und durch ihn werden sie für das eigene Tun angeregt“ (Jaffke 1979, S. 370), von ihm empfängt es „seine Impulse für sein Handeln, Spielen und Verhalten“ (Jaffke 1991, S. 28). Dies bedeutet natürlich, dass der Erwachsene sich vorbildhaft/nachahmenswert im Beisein der Kinder verhalten sollte. Das spätere Leben des Kindes wird beeinflusst von den Erfahrungen und Erlebnissen der freilassenden Nachahmung in den ersten sieben Lebensjahren:

„Denn was auf dieser frühen Entwicklungsstufe keimhaft veranlagt wird, muß auf einer späteren Stufe auf die eine oder andere Weise zum Vorschein kommen. So können Fähigkeiten aber auch Mangelerscheinungen auf den verschiedensten Gebieten auftreten. Ein Beispiel: Ein Kind, das sinnvolle und durchschaubare Handlungsabläufe nachahmend aus seiner Umgebung hat aufnehmen dürfen, wird als Herangewachsener über entsprechende Fähigkeiten auf der Ebene des Verstandes verfügen, zum Beispiel über Logik im Gedankenleben. – Alles das, was ein Kind am arbeitenden Erwachsenen wahrnehmen und nachahmend selbst betätigen kann, wie Sorgfalt, Aufmerksamkeit, Ordnung, sinnvolle Folge des Arbeitsganges, begleitet es mit intensivem Erleben. Damit macht es in tieferen Schichten Erfahrungen, die später vom Bewußtsein ergriffen werden können und zu einer selbständigen, zielgerichteten Lebensgestaltung verhelfen“ (Jaffke 1980, S. 48):

Wichtig ist, dass die Kinder nicht zur Nachahmung ermuntert oder andere Kinder als Vorbild angepriesen werden. Die Betreuer*innen beginnen den Kindergartenalltag – im stummen Vertrauen auf die kindliche Neugier – mit ihrer Arbeit, der sich blitzschnell helfende Kinder zugesellen werden. Dabei stehen die ausgeführten Tätigkeiten immer im Zusammenhang mit dem Kindergartenalltag, bspw. werden Puppen gefertigt, Webrahmen gezimmert, Laternen für den Martinsumzug gebastelt, Löffel und Schaufeln geschnitzt u.a.m. Im Miterleben und Nachvollzug derartiger überschaubarer Tätigkeiten, die in einer sinnvollen Abfolge aufeinander abgestimmt sind, sieht Freya Jaffke „mit die Voraussetzung (…) für ein später notwendiges Denken“ (Jaffke 1977, S. 397). Außerdem gehen von Erwachsenen, „die für die Aufrechterhaltung des Lebenszusammenhanges einer (…) Kindergartengruppe durch ihre tägliche Arbeit eine Art ‚Tätigkeitshülle‘ schaffen, viel mehr Impulse aus als von denen, die am Boden sitzen und spielen“ (Jaffke 1979, S. 370).

Rhythmus und Wiederholung

Der physischen wie psychischen Entwicklung des Kindes im „ersten Jahrsiebt“ (vgl. Jaffke 1991, S. 8 ff.) entsprechend, sorgen die Erzieher*innen „für einen rhythmisch gegliederten und geregelten Tagesablauf, der sowohl Haus- und Pflegearbeiten als auch handwerkliche und künstlerische Betätigungen in wohl dosierter Weise enthält“ (ebd., S. 20). Jeder Tag im Waldorfkindergarten folgt in seinem Ablauf einem rhythmischen Wechsel aus ruhigeren, konzentrierten und aktiveren, freien Phasen. Die Kinder erfahren tagtäglich die gleiche Zeitgliederung, die zur guten Gewohnheit, zur „Hülle“ wird:

„Jedes Kind erlebt den Kindergartenvormittag in zwei großen ‚Atemzügen‘. Eine erste große ‚Ausatmungsphase‘, in der es mehr oder weniger seinen eigenen Impulsen folgen kann, umfaßt das Freispiel mit dem Aufräumen und dem Gang in den Waschraum. Dann folgt eine kurze ‚Einatmungsphase‘ während der rhythmischen Spiele und dem Frühstück; das heißt jetzt ordnen sich die Kinder ganz in das Gruppengeschehen ein. Eine zweite ‚Ausatmungsphase‘ umfaßt das freie Spiel nach dem Frühstück im Garten oder auf dem Spaziergang. Den Abschluß des Vormittags – allermeist das Märchen – bildet wieder eine kurze ‚Einatmungszeit‘“ (ebd., S. 41).

Das Schaffen dieser Hülle wird im Prinzip von den Eltern ebenso gefordert:

„Wenn es gelingen würde, zunächst uns selbst und dann die Mutter wieder für ihre tägliche Arbeit zu begeistern, welch ein Segen wäre es für die Kinder! Das Bewußtsein, daß Mütterarbeit gleichzeitig immer auch Erziehungsarbeit ist, ist verlorengegangen. Freizeitmütter, die auf dem Boden sitzen oder Bilderbücher anschauen oder die die Kinder mit Kassetten versorgen, um ihre Ruhe zu haben, werden nicht zur Stärkung und Hülle für die Lebenskräfte der Kinder beitragen“ (Jaffke  2001, S. 113).

Doch nicht nur der Tag, auch die Woche und das Jahr folgen einem bestimmten Rhythmus, bestimmte Rituale. So soll das bewusste Erleben der sich in der Natur abspielenden Veränderungen im Laufe eines Jahres den Kindern durch mannigfaltige Aktivitäten möglich gemacht werden. Hierzu gehört „auch ein tieferes Verständnis für die jeweils darin eingebetteten christlichen Feste“ (ebd., S. 28). Hierzu ein Beispiel aus dem  Waldorfkindergarten an der „Freien Georgenschule“ in Reutlingen:

„Im Kindergarten ist ein halbhoher Schrank, auf dem wir immer alle Dinge, die zur jeweiligen Jahreszeit gehören, sammeln. Die Kinder erleben, wie zu Beginn der Frühlingszeit die blaue Winterdecke, die darauf lag, gegen eine grüne ausgetauscht wird. Hierauf stehen die Zweige mit den bunten Eiern, der Eierstrauß; da erscheinen die ersten Schneeglöckchen und Primeln. Auch ist genug Platz für alle die ‚wertvollen Schätze‘, die einzelne Kinder vom Sonntagsspaziergang mitbringen. Im Sommer verwenden wir eine leuchtend gelbe, im Herbst eine rote Decke. Hinzu kommen jeweils die Besonderheiten der jeweiligen Jahreszeit: Mineralien, Pflanzen, Früchte, und in der Adventszeit die Krippe mit den Hirten, nach Weihnachten eine andere Krippe mit den Heiligen Drei Königen. In den täglichen rhythmischen Spielen, in denen sich die Kinder etwa 15 Minuten um die singende oder sprechende und sich bewegende Erzieherin versammeln, werden die Ereignisse des Jahreslaufes in phantasievoller Weise ergriffen. Leitende Gesichtspunkte dabei sind z.B.: Was geschieht mit der Erde, ihren Pflanzen, Tieren, den Elementen im Jahreslauf und welche Aufgabe hat in diesem Zusammenhang der Mensch“ (Jaffke 1979, S. 372).

Den Kindern werden dabei „keine reflektierenden Fragen gestellt oder Gedächtnisleistungen abverlangt. Es wird größter Wert auf eine fröhliche, selbstverständliche Schaffensatmosphäre gelegt, in der – den Kindern unbewußt – der Keim für Ehrfurcht und Dankbarkeit gelegt wird“ (Jaffke 1991, S. 28).

Spiel als Entfaltung schöpferischer Phantasie

Das Spiel des Kindes ist „eine ernste Angelegenheit“ (Jaffke 1985, S. 11), es ist die ihm eigene Art, sich mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen und Erfahrungen zu verarbeiten. Spiel ist „die Tätigkeit, durch die das Kind Stück für Stück die Welt be-greifen lernt“ (Jaffke 1980, S. 67). Zudem ist das kindliche Spiel „niemals eine spielerische Betätigung, sondern ein mit tiefem Ernst erfülltes Tun. Und wenn das bei manchen durchaus gesunden Kindern heute nicht der Fall ist, so liegt die Ursache dafür selten bei ihnen selbst, vielmehr in ihrem engsten Lebensbereich: meistens haben das Verhalten der Erwachsenen oder das zur Verfügung stehende Spielzeug es dazu kommen lassen, daß die Fähigkeit zum hingebungsvollen Spiel verloren ging“ (Jaffke 1985, S. 11). Im kindlichen Spiel geht es um die Entfaltung eines gesunden Willens, wie er sich im Spielverhalten offenbart. Mit der Pflege des kindlichen Willens wird der Grundstein für Konzentration und Lernfreude in der Schulzeit sowie für eine einzigartig geprägte Initiativkraft gelegt. Auch werden wichtige Grundhaltungen erworben, die für das spätere Leben von Bedeutung sind: „Ordnung, Sorgfalt, Hingabe, Geduld, gute Gewohnheiten, Moralität und Phantasie“ (Jaffke 1983, S. 47). Ob Spiel „gelingt“ ist abhängig  davon, inwiefern Kinder Spielmaterial aus dem organischen Bereich vorfinden. Das besondere dieser Spielgegenstände liegt in ihrer Materialbeschaffenheit, nicht in ihrer Funktion, vielmehr in ihrer weniger ausgestalteten Form, d.h. aus sehr einfachen, „jedoch aus gutem natürlichen Material“ (Jaffke 1979, S. 372), wie Wolle, Seide und Holz. Hinzu kommen Gegenstände, die in der Natur vorgefunden und wenn nur geringfügig bearbeitet werden können, sogenanntes „Urmaterial“: Tannenzapfen, Steine, Baumrinden, Muscheln, Kastanien, Eicheln, Obstkerne etc. Je weniger ein Kind „an perfektionierten Dingen bekommt, desto mehr muß es mit eigener Kraft leisten“ (Jaffke 1983, S. 57). In diesem Sinne gilt auch für die Puppe, als eines der bedeutendsten Spielzeuge für Jungen und Mädchen gleichermaßen (vgl. Jaffke 2009), dass sie weniger differenziert gestaltet ist. Ihr Gesichtsausdruck ist zurückhaltend:  Auge, Nase und Mund sind nicht vorhanden oder nur angedeutet. Nach Freya Jaffke wäre es „das Falscheste was man tun kann, eine Puppe mit allen anatomischen Einzelheiten zu versehen, sie technisch so zu perfektionieren, daß sie zum Beispiel die Augen aufschlägt, richtig gefüttert werden kann, die Windeln näßt usw. Das Kind kommt dann gerade an diesem bedeutendsten Spielzeug nicht genügend zum Hervorbringen seiner Phantasie (vgl. Jaffke 1985, S. 21). Plastikspielzeug und vorgeformtes Spielzeug ist im Waldorfkindergarten tabu, denn Spielen heißt „eben im Prozeß sein und nicht nur Bedienen von Fertigware“ (ebd., S. 10). Folgende Spielsituation soll verdeutlichen, je undifferenzierter und wandlungsfähiger die Spielmaterialien sind, umso kreativer und phantasievoller der Spielablauf:

„Eine Gruppe fünfeinhalb- und sechsjähriger Kinder baut sich mit Aststücken, Rinden, Tannenzapfen, Kieselsteinen und einfach geschnitzten Tier- und Menschenfiguren auf dem Fußboden ein Bauernhaus mit Ställen, Brunnen, Weiden und Äckern. Über viele Tage bauen sie daran weiter, ergänzen hier, verwandeln dort, weil offenbar ihre aus dem Inneren aufsteigenden ständig regsamen Vorstellungsbilder nicht mehr mit dem gestern Geschaffenen übereinstimmen. – Daneben haben sich andere Kinder dieses Alters mit Tischen, Holzgestellen, Stühlen und farbigen Tüchern eine ‚komplette‘ Wohnung eingerichtet und sich nun dabei, einen ganzen Tagesablauf nachzuvollziehen. Da wird z. B. imaginär Brot geschnitten, Suppe gekocht, eingekauft, gespült und geputzt. Es wird das aus einem Tuch geknotete Puppenkind versorgt, ‚Besuch‘ empfangen und bewirtet. All diesem Tun liegt die Fähigkeit zugrunde, mit Hilfe der in diesem Alter erwachenden Vorstellungsbilder planend und zielstrebig einen Handlungsablauf durchführen zu können“ (Jaffke 1980, S. 67).

Literatur

  • Berger, Manfred: „Wir brauchen Kindergärten“. Die Geschichte der Waldorf-Reformpädagogik. In: Franz, Margit (Hg.): Waldorf in der Kita, Stuttgart 2022, S. 35-42
  • Eichenberg, Ariane: „Allein, ich will es“. Freya Jaffke – Pionierin der Waldorfkindergärten. In: erziehungsKUNST frühe KINDHEIT 2017, H. 4, S. 12-16
  • Jaffke, Freya: zur Planung im Waldorfkindergarten. In: Erziehungskunst 1977, H. 8, S. 391-407
  • Jaffke, Freya: Kinderstube – Lebensschule. In: Erziehungskunst 1979, H. 7/8, S, 370-374
  • Jaffke, Freya: Erziehung in der altersgemischten Gruppe. In: Kügelgen, Helmut v. (Hg.): Plan und Praxis des Waldorfkindergartens. Beiträge zur Erziehung des Kindes im ersten Jahrsiebt, Stuttgart 1980, S. 44-48
  • Jaffke, Freya: Spielzeug von Eltern selbstgemacht. Arbeitsmaterial aus den Waldorfkindergärten, Stuttgart 1983
  • Jaffke, Freya: Spielzeug von Eltern selbstgemacht. Anregungen aus Kursen mit Eltern des Kindergartens der Freien Georgenschule Reutlingen, Stuttgart 1985
  • Jaffke, Freya: Spielen und arbeiten im Waldorfkindergarten, Stuttgart 1991
  • Jaffke, Freya: Wie wird die Kindergartenarbeit zur Hülle für die Lebenskräfte des Kindes? In: Leber, Stefan (Hg.): Waldorfschulen heute. Einführung in die Lebensformen einer Pädagogik, Stuttgart 2001, S.107- 123
  • Jaffke, Freya: Puppenspiel für und mit Kindern, Stuttgart 2009
  • Jaffke, Freya: Die Arbeiten der Erwachsenen im Waldorfkindergarten. In: Compani, Marie-Luise, Lang, Peter: Waldorfkindergarten heute. Eine Einführung, Stuttgart 2015, S. 147-156
  • Lang, Peter: Waldorfkindergärten weltweit. In: Compani, Marie-Luise, Lang, Peter: Waldorfkindergarten heute. Eine Einführung, Stuttgart 2015, S. 17-27
  • Ullrich, Heiner: Rudolf Steiner (1861-1925). In: Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.): Klassiker der Pädagogik, Band 2, München 2003, S. 61-73
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