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Zitiervorschlag

Aus: Welt des Kindes 1992, 70 (5), 8. 30-31

Die Mutterschule. Zum 400. Geburtstag von J.A. Comenius

Martin R. Textor

 

Johann Amos Comenius wurde am 28. März 1592 in Niwnitz (Ostmähren) geboren. Nach theologischen Studien in Herborn und Heidelberg wurde er zunächst Prediger der Böhmischen Brüder, später ihr Bischof und Leiter des Schulwesens. Aufgrund der religiösen Verfolgung führte ihn sein rastloses Leben durch viele Länder Europas. Er starb 1670 in Amsterdam.

Comenius gilt als größter pädagogischer Denker der Barockzeit und als erster Theoretiker einer systematischen und umfassenden Pädagogik. Mit dem 1633 in deutscher Sprache erschienenen "Informatorium der Mutterschul" schrieb er das erste Buch für die Erziehung des Kleinkindes. In seinem sich vom ersten bis zum 24. Lebensjahr des Kindes erstreckenden Bildungsplan bildet die häusliche "Mutterschule" die Grundlage, auf der dann die "Muttersprachschule", die Lateinschule und schließlich die Akademie aufbauen. Im "Informatorium der Mutterschul" stellt Comenius eine Fülle von Regeln für die Kinderpflege und -erziehung, Ernährung und Bekleidung, Spracherziehung und die religiös-sittliche Bildung auf. Er will damit Müttern eine Anleitung für eine bewusste, planvolle Erziehung ihrer Kinder bis zu deren Einschulung in die Hand geben.

Comenius sieht in Kindern "ein köstliches und herrliches Kleinod", mit dem Gott die Eltern gesegnet hat. Er achtet sie besonders hoch, weil sie noch rein, unbefleckt und unschuldig sind, eine unsterbliche Seele haben und in Gottes Ebenbild geschaffen wurden. Für ihn sind sie die zukünftigen Verwalter der uns anvertrauten Welt und "Mitgenossen Christi". So hält er die Eltern an, den Kindern mehr Wert als "Gold, Silber und Reichtum" beizumessen. Sie sollen Gott für ihre Kinder dankbar sein und ihn dafür ehren.

Comenius geht davon aus, dass der Mensch von Natur aus auf Bildung, Sittlichkeit und Religiosität hin angelegt ist - bedingt dadurch, dass er Ebenbild Gottes ist. "Es soll aber niemand denken, daß die Kinder von sich selbst zur Frömmigkeit, Ehrbarkeit und Kunst gelangen mögen ohne fleißige und unnachlässige Mühe und Arbeit, so an sie muß gewendet werden". Der Mensch muss also erst zum Menschen gebildet werden, wobei sich die Erziehung nicht auf Körper und Geist beschränken darf, sondern auch die Seele einbeziehen muss. Somit erkennt Comenius die Erziehungsbedürftigkeit und Bildsamkeit des Menschen. Auch betont er die große Bedeutung der frühkindlichen Erziehung, da in den ersten Lebensjahren der Grund zu allen späteren Entwicklungen gelegt wird. Die Eltern dürfen nicht die Verantwortung auf die Schule schieben, sondern sollen von Anfang an die Erziehung ihrer Kinder übernehmen.

Für die ersten sechs Lebensjahre unterscheidet Comenius drei zentrale Erziehungsbereiche: (1) die religiöse, (2) die sittliche sowie (3) die kognitive, motorische und Spracherziehung. Letzteres umfasst vor allem die Übung der Sinne und die Vermittlung von Grundkenntnissen aus allen Wissenschafts- und Lebensbereichen. Er betont dabei die Prinzipien der Lebensnähe, der Anschauung und der Sachbindung. So sollen das Erforschen der Umwelt durch das Kind und seine Beobachtungsgabe gefördert werden. Von der Sinneswahrnehmung oder Erfahrung des Kindes ausgehend kann dann sein Gedächtnis geschult sowie das Verstehen und Beurteilen der beobachteten Dinge bzw. Phänomene angestrebt werden. Zugleich können die Sprachfertigkeiten gefördert werden.

Nach Comenius ist es auch wichtig, den natürlichen Tätigkeitsdrang des Kleinkindes in sinnvolle, produktive Kanäle zu lenken. Dazu kann sein Nachahmungstrieb genutzt werden, wobei ihm die geeigneten (Spiel-) Materialien zur Verfügung zu stellen sind. So sollten Eltern das Basteln, Bauen, Werken, Malen, Singen und Musizieren ihrer Kinder fördern. Diese sollten sich auch viel an der frischen Luft bewegen und im Spiel mit anderen Kindern soziale Fertigkeiten entwickeln, wobei sie aber vor Gefahren und schlechter Gesellschaft zu schützen sind.

Der zweite zentrale Erziehungsbereich ist die Anleitung des Kleinkindes zum sittlichen Tun. So soll es sich Tugenden wie Mäßigkeit, Ehrerbietung, Gehorsam gegenüber Älteren, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Geduld, Willfährigkeit und Höflichkeit aneignen, indem es beständig das Rechte tut. Zugleich soll es lernen, das Gute zu lieben und sich vorn Falschen nicht täuschen zu lassen. Comenius hält die Eltern an, ihre Kinder zur Tugend zu führen, indem sie ihnen ein positives Vorbild sind, sie zeitig unterweisen und notfalls strafen. Er spricht sich deutlich gegen die antiautoritäre Erziehung aus.

Die religiöse Erziehung ist für Comenius Krönung und Zentrum aller Pädagogik; er strebt die Verchristlichung des Lebens an: Kinder müssen "mit Glauben und wahrer Gottesfurcht zum ewigen Leben zubereitet werden". Die Eltern sollen sie aus tiefer Sorge um deren unsterbliche Seele zu Gott führen. Die Kinder sollen ihn in allen seinen Werken erkennen, ihn in Furcht, Liebe und Gehorsam verehren, in ihm Friede, Freude und Trost empfinden. Auch müssen sie das Beten lernen, die christlichen Gebote verinnerlichen und immer wieder ermahnt und gezüchtigt werden, wenn sie vom rechten Weg abweichen. Nur dann findet Erziehung ihre Vollendung: "Eine wohlgezogene Seele aber ist, die mit himmlischen Weisheit recht erleuchtet, die Hoheit des göttlichen Ebenbildes in sich ... erkennet und auch bewahret."

Abschließend ist festzuhalten, dass Comenius bereits die anthropologischen Grundlagen und wichtigsten Prinzipien moderner Vorschulpädagogik in seinem "Informatorium der Mutterschul" erfasst hat. Auch heute noch können wir viel von ihm lernen. So verdeutlicht er uns die große Bedeutung der Familienerziehung, die in den letzten Jahrzehnten immer mehr hinter die institutionelle Erziehung zurückgetreten ist. Er macht uns den großen Wert der Kinder bewusst, den wir in unserer materialistischen Welt immer weniger schätzen. Ferner stellt er die Sinnesschulung, die Erforschung der Umwelt und die Lebensnähe als Prinzipien der Vorschulpädagogik heraus - Grundsätze, die in unseren Krippen und Kindergärten nicht genügend berücksichtigt werden. Und mit der sittlich-moralischen und mit der religiösen Erziehung spricht Comenius zwei Erziehungsbereiche an, die in unserer säkularisierten Welt, selbst in vorschulischen Einrichtungen mit einem kirchlichen Träger, immer mehr in Vergessenheit geraten. Wer übernimmt heute noch Verantwortung für die unsterblichen Seelen der uns anvertrauten Kinder?

Literatur

Comenius. J.A.: Informatorium der Mutterschul. Herausgegeben von J. Heubach. Heidelberg: Quelle & Meyer 1962

Comenius, J.A.: Große Didaktik. Übersetzt und herausgegeben von A. Flitner. Düsseldorf, München: Küpper, 3. Aufl. 1966

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de