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Zitiervorschlag

Janusz Korczaks Pädagogik der Achtung gibt der Erziehung im Kindergarten grundlegende Impulse

Ferdinand Klein

 

An Korczaks Pädagogik in einer friedlosen Welt erinnern

Anfang August des Jahres 2022 jährte sich zum 80ten Male der mörderische Tod des jüdischen Arztes, Erziehers und Schriftstellers Janusz Korczak, seiner Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska und ihrer 200 jüdischen Waisenkinder. Sie wurden in den Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka ermordet. Ihre Spuren verlieren sich in der Anonymität der Massendeportation.

Doch Korczaks Werk lebt weiter. Seine Reformpädagogik der Liebe und Achtung hat die Würde des Menschen zum ethischen Grundprinzip erhoben. Sie will dem Kind dienen und gibt Orientierung für eine demokratische Erziehung gerade in eingeschränkten Lebens- und Lernwelten. Korczaks Impuls steht als Angebot für die Erziehung im Kindergarten. Er reflektiert ursprüngliche Grundfragen, die heute nicht mehr hinreichend gesehen werden (siehe Klein 2022a, 2022b).

Persönlich Erfahrungen

Man könnte einwenden, dass meiner Darstellung der Geruch des Narzissmus anhafte. Doch in neueren Beiträgen zur Forschung und Lehre wird der Selbstdarstellung des Wissenschaftlers Raum gegeben, da sie zu einem nicht unerheblichen Erkenntnisgewinn beitragen kann (Krampen 2016).

Seit Beginn meiner heilpädagogischen Arbeit im Jahre 1963 lerne ich von Janusz Korczak. Er hat in extrem unterschiedlichen Lebenssituationen mit empathischer Haltung tief in die Seele der Kinder geschaut, seine Beobachtungen und Erfahrungen in dichterischer und humorvoller Sprache in vielen Veröffentlichungen beschrieben. Korczak hat zentrale Aspekte der heilpädagogischen Praxis erkannt, die meine wissenschaftliche Arbeit bestimmen: „Wer nicht in einer Einrichtung für schwer behinderte, geistig zurückgebliebene, taubstumme oder blinde Kinder gelernt hat, Geduld und die Grundlagen der Didaktik zu üben, der wird niemals ein richtiger Lehrer werden können. […] Ich liebe meine Einrichtung für geistig Zurückgebliebene – ich liebe diese großen Leute, in denen der Geist nur schwach flackert – wie viel wertvoller ist für mich ein leichter Hauch ihres Lächelns. [… ]. Da hat einer seinen Knopf allein zugeknöpft, nun wartet er auf ein Lob: solch eine wichtige und schwierige Arbeit hat er selbständig vollbracht. [...] Diese meine Guten, meine Unschuldigen!“ (Korczak 1991, S. 39 ff.)

Bis heute begleitet und leitet mein Denken diese empathische Haltung, die das „Gute im Kind sieht und mit ihm handelt“ (Klein 2020, S. 568 ff.). Zurecht sagt Arnold Köpcke-Duttler: „Mit Korczak soll die Liebe zum Leben Zentrum der Inklusionspädagogik werden“ (Köpcke-Duttler 2021, S. 68).

Ferdinand im Dialog mit einem Kind

Der Autor sieht das Gute im Kind. Er schaut aufmerksam und mit teilnehmender Freude einem konzentriert und schöpferisch gestaltenden Flüchtlingskind bei einem Treffen im Café Friends des Kreis Migration Bad Aibling e.V. (2016) zu. ©Ferdinand Klein

Erinnern ist geboten

An die Lehren, die aus diesem Menschheitsverbrechen zu ziehen sind, kann nicht genug erinnert werden. Das Erinnern hat eine einzigartige Beziehung zur deutschen Geschichte. Es beinhaltet den Wunsch, etwas, das in die Zukunft weist, anzuregen. Dieser zweifachen Richtung des Erinnerns müssen wir uns gewahr werden; hier bleibt die Schuld der Vergangenheit bewusst und das wachsame Hören in der Gegenwart wird gepflegt. Durch diese Erinnerungskultur wird immer wieder neu auf die Hoffnung aufmerksam gemacht, dass Auschwitz nicht wieder passiert. Gerade „Inklusion sollte heute der Schutz sein: Humane Annahme, Wahrnehmung der sozialen Verwundbarkeit, Mut zur Menschlichkeit, Quelle der Solidarität“ (Köpcke-Duttler 2021, S. 70).

Besonders in unsicheren Zeiten und in einer friedlosen Welt ist das Erinnern an Grundfragen der Erziehung dringend geboten, die Korczak mit seinem Team in den Waisenhäusern pflegte. Sein Werk lädt zum Nachdenken über die Praxis ein.

Janusz Korczak 1878 1942

Janusz Korczak (1878-1942) © Ferdinand Klein

Korczak bleibt sich treu: Selbstachtung und Achtung des anderen Menschen

Zur Biografie

Janusz Korczak wird am 22. Juli 1878 als Henryk Goldszmit in Warschau geboren. Dem Leben im Haben-Modus kehrt er schon mit fünf Jahren den Rücken, geht in Hinterhöfe und spielt mit den „Kindern der Straße“. Henryk will Zauberer werden, die Welt verändern und dafür sorgen, dass es keine hungrigen Kinder mehr gibt. Schon in seinem ersten Tagebuch „Beichte eines Schmetterlings“, dass er mit 16 Jahren schreibt, will er die Welt reformieren. Sein Vater verspielt das Vermögen der Familie und erkrankt an Leib und Seele.

Erste schriftstellerische Erfolge stellen sich ein. 20jährig beginnt er mit dem Studium der Medizin. Ein Jahr später nimmt er unter dem Pseudonym „Janusz Korczak“ an einem literarischen Wettbewerb erfolgreich teil. Von nun an führt er diesen Namen. Als frei praktizierender Arzt behandelt er die Patienten der Warschauer Elendsviertel für einen symbolischen Betrag.

Mit dem autobiografischen Roman „Kind des Salons“ festigt Korczak seinen Ruf als Schriftsteller und Erzieher. Für ihn beruhen die Erziehungsprobleme auf einer falschen Einstellung der Erwachsenen zum Kind, das von Geburt an schon ein vollwertiger Mensch ist. Seine Pädagogik wird zum Kampf „für das Proletariat auf kleinen Füßen“. Er entscheidet sich gegen eine bürgerliche Karriere und für ein Leben mit benachteiligten und ausgegrenzten jungen Menschen. Korczak studiert die klassische Literatur der Pädagogik, vor allem die Werke von Pestalozzi. Mit scharfsinnigen Analysen kritisiert er die sozialen Missstände in Polen.

Mit 34 Jahren gibt Korczak seine „glänzend gehende ärztliche Praxis“ auf und wird Leiter des Warschauer Heimes Dom Sierot (Haus der Waisen). Hier finden auch Kinder „aus dem Dschungel des Lebens, aus den Armenvierteln und der Prostitution“ ein neues Zuhause. Sie bringen Gewohnheiten des Selbstschutzes vor Erwachsenen, Misstrauen gegenüber der Welt und eine Werteskala mit, die auf Gerissenheit und Betrug gründet.

Von 1914 an muss Korczak am Krieg teilnehmen und erlebt die Brutalität menschlichen Wahnsinns. Bei „Geschützdonner, mitten im Krieg“ schreibt er als uniformierter Hauptmann sein Hauptwerk „Wie man ein Kind lieben soll“ (Korczak, 2018). 1919 gründet er das Heim Nasz Dom (Unser Haus). Mit seinem Team erprobt er in beiden Kinderrepubliken, in Dom Sierot und Nasz Dom, die pädagogischen Grundsätze einer demokratischen Erziehung.

1939 fallen die deutschen Truppen in Warschau ein. Im Herbst 1940 müssen Korczak, seine Kinder und Mitarbeiter in die „steinerne Welt“ des berüchtigten Warschauer Ghettos ziehen. Eine Unterdrückungsmaßnahme löst die andere ab. Der Saal wird nachts zum Schlafraum hergerichtet, tagsüber zum Essen und zur Gestaltung der Freizeit. Korczaks Kräfte lassen nach. Von Krankheit (Herzmuskelschwäche, chronische Kopfschmerzen, geschwollene Beine) gezeichnet, kämpft er gegen das schreiende Unrecht an.

Wenige Tage vor seiner Ermordung vermerkt Korczak in seinem Ghetto-Tagebuch: „Ich bin nicht dazu da, um geliebt und bewundert zu werden, sondern um selbst zu wirken und zu lieben. Meine Umgebung ist nicht verpflichtet, mir zu helfen, sondern ich habe die Pflicht, mich um die Welt, um den Menschen zu kümmern“ (Korczak 1992, S. 78).

Janusz Korczak lehnt alle Versuche zu seiner Rettung ab. Die Kinder ahnen das Kommende. Kann er ihnen die Wahrheit zumuten? Er beruhigt sie, er gehe mit ihnen. Obwohl er die Möglichkeit hat, sich zu retten, besteht er darauf, die ihm anvertrauten Kinder zu begleiten, auch wenn das für ihn den Tod bedeutet. Sein genaues Sterbedatum ist nicht bekannt. Mit Gedankensprüngen stellt er sich bis zuletzt gegen das Unrecht. Seine Aufzeichnungen im Tagebuch enden am 4. August 1942:

  • „Ich habe die Blumen begossen, die armen Pflanzen des Waisenhauses, eines jüdischen Waisenhauses. Die ausgedörrte Erde atmete auf. Ein Posten sah mir bei der Arbeit zu. Ob ihn diese meine friedliche Tätigkeit um sechs Uhr in der Frühe wohl reizt, oder rührt sie ihn vielleicht? Breitbeinig steht er da“ (Korczak 1992, S. 117 ff.).
  • Weiter unten finden wir: „Ich wünsche niemandem etwas Böses. Ich kann das nicht. Ich weiß nicht, wie man das macht“.

Auf dem Weg nach Treblinka

Auf dem Weg nach Treblinka. © Ferdinand Klein

Die Kohlezeichnung von Itzchak Belfer, dem Maler des Holocaust, zeigt Janusz Korczak, seine Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska und ihre Kinder auf dem Weg in das Vernichtungslager Treblinka am 5. August 1942. Das aussagekräftige Bild (100 cm x 70 cm) hat der Autor 1993 erworben. Er schenkte es anlässlich der feierlichen Namensgebung "Janusz-Korczak-Schule" der Bildungseinrichtung für Erziehungshilfe der Paulinenpflege Kirchheim (beim Hungerbrünnele 14, 73230 Kirchheim) am 26.03.1999.

Das Recht des Kindes auf Achtung

Schon bald entscheidet sich Korczak für ein Leben das auf Achtung und Liebe, Teilnahme und Teilhabe gründet. In diesem Seins-Modus kann sich ein Halt gebendes Identitätsgefühl entwickeln, das keine Bestätigung durch andere braucht, weil das Bild, das er von sich selber macht, mit seiner authentischen Persönlichkeitsstruktur übereinstimmt. Aus dieser Haltung heraus entfaltet Korczak die Achtung des anderen Menschen als gelebte Liebe. Er nimmt das Unerwartete, Störende und Feindliche wahr und wandelt es zum Guten. Das erinnert an Pestalozzis „sehende Liebe“, die das Geschehen reflektiert, ohne die Wirklichkeit auszublenden, wie das die „blinde Liebe“ tut.

Korczaks Reformpädagogik erscheint auf dem ersten Blick ungeordnet. Aber bei näherem Hinsehen entdecken wir ein erfahrungserprobtes System, das sich in zwei Teilsysteme gliedert:

  • Für Erwachsene fordert Korczak die Achtung vor dem Kind und die Liebe zum Kind. Beide Forderungen hängen miteinander zusammen. Achtung kann gefordert werden und ist durch das Gebot der Liebe zu leisten, die sich in einer dienenden Haltung und im verzeihungsbereiten Handeln zeigt.
  • Für Kinder schreibt Korczak fantasiereiche Geschichten. Mit ihnen erprobt er institutionalisierte soziale Spielregeln für die Selbstverwaltung in der Erziehungsgemeinschaft. Das Kindergericht dieser kleinen Republik, das um ein Höchstmaß an Gerechtigkeit bei Kindern und Erwachsenen bemüht ist, orientiert sich am Grundsatz des Vergebens und Verzeihens. Auch Korczak wird von Kindern angeklagt und muss sich dem Gericht stellen.

Das Recht auf Achtung neu

Das Recht auf Achtung. Deutsch-Polnische Ausstellung „Janusz Korczak – Kindern eine Stimme geben“, Universität Leipzig, Erziehungswissenschaftliche Fakultät 2007. © Ferdinand Klein

Wegbereiter einer modernen demokratischen Erziehung

Grundrechte für das Kind

Zwischen den Kinderrechten Korczaks und der UN-Kinderrechtskonvention der Weltgesundheitsorganisation (WHO) besteht eine enge Verbindung. Das wurde beim Internationalen Seminar deutlich, das in Genf in der Botschaft der Republik Polen am 9. Juni 2009 zum Thema: „Der polnisch-jüdische Pionier für Kinderrechte Janusz Korczak und die heutige Kinderrechtskonvention als ein internationales Gesetz“ stattfand. Die facettenreichen Ideen Korczaks standen im Fokus der Vorträge und Diskussionen. Teilnehmer zeigten den Wandel der institutionellen Bildungskonzeption auf, die sich durch eine Atmosphäre der respektvollen Zusammenarbeit zwischen Erziehern, Kindern, Eltern und Verwaltung entwickelt. In Beiträgen wurde erläutert, wie Korczaks Grundrechte des Kindes, die er in seinen Waisenhäusern erprobt hatte, unter den heutigen Bedingungen zum Wohle des Kindes, das als Subjekt in seiner conditio humana bedingungslos zu achten ist, praktiziert werden können. Mit diesem Bild vom Kind eilte der Reformpädagoge Korczak seiner Zeit weit voraus (Klein 2018, S. 100 ff.).

Vom Kind her für sein Wohlbefinden handeln

Korczak denkt und handelt vom Kind her für sein körperlich-seelisch-geistiges Wohlbefinden. Sein Menschenrechtsverständnis:

  • achtet das Kind als Subjekt und Akteur seiner Entwicklung, ebenso seine Grundbedürfnisse und Grundbedarfe, seine Individualität und Sozialität;
  • unterstützt (begleitet, leitet, führt)
    • den Willen des Kindes zur Eigenaktivität,
    • sein Selbstwirksamwerden,
    • sein sich entwickelndes Verantwortungsbewusstsein für das eigene Recht sowie für das Recht des anderen Menschen und
    • seine wachsende Selbstbestimmung in sozialer Abhängigkeit.

Diese fundamentalen demokratischen Gedanken inspirieren bis heute viele Menschen in Politik und Gesellschaft, Wissenschaft und Praxis. Das menschenrechtliche Denken des „Pioniers der Kinderrechte“ lehrt die Achtung der Menschenwürde durch eine ganzheitliche Bildung, die sich aus der Vernetzung der Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte ergibt.

Mit Korczak ist ein weiteres Erbe auszuloten: „Kinderrechte ins Grundgesetz“ ist angesichts der seelischen Not vieler Kinder und der steigenden Kinderarmut ein Gebot der Stunde! Durch Verschränkung der staatsrechtlich relevanten kinderrechtlichen Konvention und des achtsamen sozialen und pädagogischen Handelns ergeben sich im System Erziehung und im System Politik neue Möglichkeiten des wechselseitigen Lernens:

  • Die Korczakpädagogik ist eine menschenrechtlich begründete Pädagogik. Sie gibt der kindergerechten Umsetzung der Konvention grundlegende Impulse.
  • Kein Kind darf als Objekt staatlicher Verpflichtungen gesehen werden, sondern als Subjekt eigener Menschenrechte.
  • Jedes Kind ist ein zu achtendes, zu schützendes, zu begleitendes und zu leitendes Rechtssubjekt, das bei Entscheidungen, die es betreffen, angemessen zu beteiligen ist.
  • Alle Kinder haben die gleichen Rechte, ihre Potenziale auszuschöpfen und ihre Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen.
  • Von Korczak können die Erwachsenen eine Haltung der Achtung gegenüber dem Kind lernen, die es ihnen ermöglicht das Machtverhältnis in ein Dienstverhältnis zu wandeln, das die ideengeschichtliche Forschung nahelegt: Pädagogik hat dem Kind zu dienen, Pädagogik ist Dienstpädagogik und keine Herrschaftspädagogik! Hier wird das ursprüngliche Interesse der Pädagogik, nämlich dem Bedürfnis und dem Bedarf der jungen Menschen zu dienen, konkret.
  • Mit dem polnischen Korczak-Forscher Aleksander Lewin, der von 1937 bis 1939 Erzieher im Waisenhaus „Dom Sierot“ war, ist zu fragen: „Sollen wir uns mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, so wie es seit Jahren existiert und erstarrt ist, abfinden, oder wollen auch wir, von Korczak inspiriert, ein völlig neues Modell entwickeln, ein anderes Muster der Beziehungen zwischen den Generationen? Ein Muster, in dem die Altersunterschiede nicht mehr zählen, in dem die Barrieren, die die Welt der Kinder von der der Erwachsenen trennen, überwunden werden. Ein Muster, in dem das zum Tragen kommt, was im Menschen am Besten ist“ (Lewin 1998, S. 147).

Aus der Begegnung mit Korczaks Leben und Werk das eigene Handeln bewusstmachen

Die inspirierende Perspektive

Immer mehr pädagogische und medizinisch-therapeutische Einrichtungen in der ganzen Welt tragen den Namen Janusz Korczak. Menschen verschiedener Länder kommen zu Tagungen zusammen und studieren sein Werk, das in über 30 Sprachen gelesen wird. Vor allem junge Menschen erfahren durch die Begegnung mit Korczak eine inspirierende Perspektive. Er hat durch sein Leben und Werk die Achtung der Würde des Menschen zum ethischen Grundprinzip erhoben. Sein Lebenswerk erfüllt sich im pädagogischen Grundgesetz der Liebe, das vier einander ergänzende Momente beinhaltet:

  • empathisches, ein- und mitfühlendes Erkennen;
  • Wohlwollen für den anderen Menschen;
  • das Gute im anderen Menschen finden;
  • Dialog zwischen Menschen ermöglichen.

Korczaks gelebte Liebe nimmt auch Tränen, Geheimnisse, Schwächen, Fehler und den kleinsten Kummer des Kindes ernst, auch den „um ein verlorenes Steinchen“. Ein Erzieher, der sich um diese Achtung bemüht, wird „nicht einpauken“, sondern „freilegen“, „nicht diktieren, sondern anfragen“. Und „er wird manchmal mit Tränen in den Augen den Kampf zwischen Engel und Satan miterleben, bis der lichte Engel den Sieg davonträgt. […] Wir sollten Achtung haben, wenn nicht gar Demut, vor der hellen, lichten, unbefleckten, seligen Kindheit“ (Korczak 1979, S. 37).

Erfahrungen im Dialog reflektieren

Korczaks Reformpädagogik knüpft an Alltagserfahrungen an und lädt zum Weiterdenken ein. Erfahrungen, die ein Erzieher mit dem Kind macht, werden in die eigene Urteilsfindung mit hineingenommen. Damit kehrt Korczak der vorherrschenden Theoriegläubigkeit den Rücken und bringt den lebendigen Menschen, mit dem es nun einmal die Erziehung zu tun hat, ins Spiel. Er zieht gegen die „verknöcherte Theorie“ zu Felde. Wollen wir dieser menschenverbindenden Pädagogik gerecht werden, dann haben wir zuallererst die Sprache zu kultivieren. Es geht Korczak nicht zuerst um Begriffe und Theoreme, um Kategorisierung und formale Systematisierung, sondern um die Praxis. Hier erkennt der Erzieher, dass das Kind Einfluss auf seine Anschauungen und Gefühle hat und ihn „lehrt und erzieht“.

Korczaks selbstreflexive Pädagogik lässt ein Erstarren in blank geputzten Begriffen nicht zu. Vielmehr müssen sich die Anschauungen fremder Menschen „im eigenen lebendigen Ich“ brechen. Als Resultat hat der Erzieher seine „eigene, bewusste oder unbewusste Theorie, die seine Tätigkeit leitet“. Ein Erzieher, der nach dem Wie der Erziehung fragt, ist auf dem Weg zur pädagogischen Professionalität, die heute eine notwendige Selbstverpflichtung für das entwicklungsfördernde demokratische Miteinander ist.

Impulse in einer friedlosen Welt

  • Korczak will seine Idee retten. Er tut Gutes, lebt und leidet mit und für den Anderen. In seinem Werk kann jeder die gehaltvolle einfache Sprache des Herzens für seine Praxis entdecken.
  • Korczak hat die Sache des Kindes und damit die Zukunft des Menschen zu seiner Sache gemacht: Seine erzählende Pädagogik greift universelle Themen auf. Wir finden ein Gedankengut, das eine nie erlahmende Kraft des Verbindens und Zusammengehörens zwischen Kindern und Erwachsenen entfaltet.
  • Korczak hat das Erziehungsverhältnis, das auch heute noch weitgehend als Herrschaftsverhältnis gesehen wird, als Dienstverhältnis gelebt. Seine Pädagogik wandelt die Herrschaftspädagogik in eine Pädagogik, die ohne Vorbedingungen dem Kind dienen will.
  • Korczaks Werk antwortet einer ungerechten, unglücklichen, friedlosen und doch zu mehr Gerechtigkeit, Glück und Frieden fähigen Welt. Den Erwachsenen hat er die Veränderung der Welt zugemutet, den Kindern hat er sie zugetraut: An sie wenden sich seine liebenswürdigsten und zugleich kühnsten Bücher. Er hat der alten Sehnsucht des Menschen nach einer neuen Ordnung zwischen den Generationen und nach Frieden unter den Menschen jeglicher Art und Herkunft eine bis heute wirkende Chance gegeben.

Literatur

Klein, F. (2018): Mit Janusz Korczak Inklusion gestalten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Klein, F. (2020): Das Gute im Kind sehen und mit ihm handeln. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 71. Jg./2020, 568-574.

Klein, F. (2022a): Janusz Korczak: Die Aktualität seiner Pädagogik. Regensburg: Walhalla.

Klein, F. (2022b): Mit Janusz Korczak die Heilpädagogik gestalten. Zur Erinnerung an seinen 80. Todestag. Internationales Archiv für Heilpädagogik. Berlin: BHP.

Köpcke-Duttler, A. (2021): Maria Montessori und Janusz Korczak. In: Korczak-Bulletin 29/30/2021, 64-71.

Korczak, J. (1979): Das Recht des Kindes auf Achtung. 6. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Korczak, J. (1991): Begegnungen und Erfahrungen. 4. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Korczak, J. (1992): Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto 1942. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Korczak, J. (2018): Wie man ein Kind lieben soll. Herausgegeben von Sabine Andresen. 17. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Krampen, Th. (1016): Vom Passiv zum Aktiv? Ich-Tabu oder Selbstdarstellung in wissenschaftlichen Texten. In: Forschung & Lehre 23//2016, S. 224-235.

Lewin, A. (1998): So war es wirklich. Die letzten Lebensjahre und das Vermächtnis Janusz Korczaks. Gütersloh: Gerd Mohn.

Autor

Foto Prof Ferdinand Klein

Prof. em. Dr. Dr. et Prof. h. c. Ferdinand Klein

Adalbert-Stifter-Straße 4a

83043 Bad Aibling

E-Mail: [email protected]

Ferdinand Klein, Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik, arbeitete 20 Jahre als Erzieher und Heilpädagoge, lehrte und forschte an den Universitäten Würzburg, Mainz, Halle-Wittenberg (Aufbaudirektor des Instituts für Rehabilitationspädagogik der Martin-Luther-Universität 1992-1994) und an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik Reutlingen. Nach Emeritierung (1997) Gastprofessor an der Comenius-Universität Bratislava und von 2005 bis 2014 an der im Jahre 1900 gegründeten weltweit ältesten Hochschule für Heilpädagogik: der Gusztáv-Bárczi-Fakultät der Eötvös-Loránd-Universität Budapest, die sein wissenschaftliches Werk und seine Verdienste um den Ost-West-Dialog mit der Verleihung eines „Doctor et Professor honoris causa“ würdigte. 2019 wurde ihm für seine sozial- und heilpädagogische Arbeit das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.

Arbeitsschwerpunkte: Ethische Fragen, Forschungsmethoden, Reformpädagogik, Korczakpädagogik, Waldorfpädagogik, Früh- und Elementarpädagogik. Durch Reflexion der (heil)pädagogischen, medizinisch-therapeutischen und neurobiologischen Fachliteratur bildet er seinen integralen und transdisziplinären Standpunk weiter.