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Zitiervorschlag

Menschen mit Behinderung zwischen sozialer Ausschließung und Partizipation: Industrialisierung, Nationalsozialismus und Nachkriegszeit

Frederik Schmitt

 

Der Fachdiskurs, welcher die aktuelle gesellschaftliche Situation von Menschen mit Behinderung thematisiert, ist breit angelegt. Behinderung wird in sport- und körpersoziologischen Studien (vgl. Küchenmeister/Schneider 2011, S. 5; Raab 2012, S. 80; Schroer 2012, S. 7), als Gegenstand der Komparation sonderpädagogischer Förderbedarfe (vgl. Bürli 2009, S. 15) oder aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive der Disability Studies (vgl. Bösl 2009, S. 9) untersucht. Ferner ist Behinderung Ausgangspunkt autobiografischer (vgl. Lebert 1999) und kirchlich-diakonischer Reflexionen (vgl. Mieth 2011, S. 127). Die Sozialgeschichte der Behindertenhilfe, die durch Stigmatisierung und Mord gekennzeichnet ist, soll im Folgenden – ausgehend vom Zeitalter der Industrialisierung – mittels einer heilpädagogischen wie soziologischen Sichtweise dargestellt werden.

Zwischen Würde und Wert: Menschen mit Behinderung zur Zeit der Industrialisierung

Mit dem Begriff Industrialisierung ist der Zeitraum 1840 bis etwa 1880 markiert und bezeichnet Veränderungen, die „(…) von der vorindustriellen Handarbeit zur mechanischen, fabrikmäßigen, arbeitsteiligen und kapitalintensiven Produktion (reichen, d. Verf.)“ (Hein 2016, S. 58). Trotz dieser Entwicklung, bei der das Ruhrgebiet und die Saargegend eine wichtige Rolle spielen (vgl. Czierpka 2019, S. 13; von Alemann 2016, S.21; Nonn 2009, S. 52), stehen bei der Gründung des Deutschen Kaiserreiches im Januar 1871 noch 70 Prozent der Bevölkerung in Bezug zur Agrarwirtschaft; weiterhin kommt es zur Formierung der Klassengesellschaft (vgl. Nonn 2017, S. 11).

Dieter Mattner verweist auf die seit der Industrialisierung existierende bildungspolitische Debatte um Regel- und Förderschule, die heute in den Überlegungen zur inklusiven Pädagogik gipfelt. Es kommt „(…) um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu ersten Einrichtungen von schulischen Hilfssystemen zur speziellen Beschulung von ‚Schwachsinnigen‘ bzw. ‚Halbidioten‘. Dies waren zunächst Nachhilfeklassen, später (ab 1867) sog. Hilfsklassen, die eine Zurückversetzung in die Stufen erübrigten und zudem eine vorzeitige Schulentlassung erlaubten“ (Mattner 2000, S. 28). Die mit der Hilfsschule verbundene „stigmatisierende Selektionspraxis“ (Mattner 2000, S. 29) ist kritisch zu hinterfragen.

Vom Objekt zum Individuum: Menschen mit Behinderung im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit

Über 200.000 Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung werden von den Nationalsozialisten reichsweit in fünf Tötungsanstalten unter der Bezeichnung T4 ermordet. Verantwortlich für die Aktion sind Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877-1946) und SS-Obergruppenführer Philipp Bouhler (1899-1945) (vgl. Caspar/Pjanic/Westermann 2018, S. 6; Mattner 2000, S. 72; Stein 2008, S. 356; Wienfort 2008, S. 110; Wirsching 2018, S. 56). Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen protestieren gegen den Massenmord; der Münsteraner Diözesanbischof Clemens August von Galen (1878-1946) wie der westfälische Pfarrer und spätere Präses Ernst Wilm (1901-1989) verurteilen die von den Nationalsozialisten durchgeführten Maßnahmen zutiefst.

Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht endet am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa. Zur Situation der Heilpädagogik ist zu lesen: „Eine Auseinandersetzung über die Zeit des Nationalsozialismus kam während der ersten 20 Jahre nach 1945 kaum oder gar nicht zustande“ (Mattner 2000, S. 75). Werner Heyde (1902-1964), ehemaliger T4-Gutachter und Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg setzt seine Arbeit außerhalb der Hochschule unter falschem Namen fort (vgl. Schäfer 2003, S. 156). Werner Villinger (1887-1961), ebenfalls früherer T4-Gutachter, wird 1946 Professor an der Philipps-Universität Marburg (vgl. Mattner 2000, S. 75). Der österreichische Neurologe und Psychiater Max de Crinis (1889-1945) kommt als Nachfolger Karl Bonhoeffers (1868-1948) an die Berliner Charité (vgl. Bethge 2016, S. 14) und ist an den „Euthanasie-Morden“ beteiligt; bei Kriegsende begeht er Suizid.

Literatur

Bethge, E.: Dietrich Bonhoeffer. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2016.

Bösl, E.: Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: Transcript Verlag, 2009.

Bürli, A.: Integration/Inklusion aus internationaler Sicht. Einer facettenreichen Thematik auf der Spur. In: ders./Strasser, U./Stein, A.-D. (Hrsg.): Integration/Inklusion aus internationaler Sicht. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, 2009. S. 15-61.

Caspar, F./Pjanic, I./Westermann, S.: Klinische Psychologie. Wiesbaden: Springer VS, 2018.

Czierpka, J.: Der Ruhrbergbau von der Industrialisierung bis zur Kohlenkrise. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Ruhrgebiet, 1-3/2019, S. 13-19.

Hein, D.: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. München: Verlag C. H. Beck, 2016.

Küchenmeister, D./Schneider, T.: Sport ist Teilhabe. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Sport und Teilhabe, 16-19/2011, S. 3-8.

Lebert, B.: Crazy. Köln: Kliepenhauer und Witsch, 1999.

Mattner, D.: Behinderte Menschen in der Gesellschaft. Zwischen Ausgrenzung und Integration. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 2000.

Mieth, D.: Der behinderte Mensch aus theologisch-ethischer Sicht. In: Eurich, J./Lob-Hüdepohl, A. (Hrsg.): Inklusive Kirche. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 2011, S. 113-130.

Nonn, C.: Das deutsche Kaiserreich. Von der Gründung bis zum Untergang. München: Verlag C. H. Beck, 2017.

Nonn, C.: Geschichte Nordrhein-Westfalens. München: Verlag C. H. Beck, 2009.

Raab, H.: Doing Feminism. Zum Bedeutungshorizont von Geschlecht und Heteronormativität in den Disability Studies. In: Rathgeb, K. (Hrsg.): Disability Studies. Kritische Perspektiven für die Arbeit am Sozialen. Wiesbaden: Springer VS, 2012, S. 69-90.

Schäfer, D.: Geschichte Würzburgs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München: Verlag C. H. Beck, 2003.

Schroer, M.: Zur Soziologie des Körpers. In: ders. (Hrsg.): Soziologie des Körpers. Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2012, S. 7-47.

Stein, A.-D.: Behinderung und sozialer Ausschluss. Ein untrennbarer Zusammenhang? In: Anhorn, R./Bettinger, F./Stehr, J. (Hrsg.): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, S. 355-367.

von Alemann, U.: Nordrhein-Westfalen. Ein Land blickt nach vorn. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 2016.

Wienfort, M.: Geschichte Preußens. München: Verlag C. H. Beck, 2008.

Wirsching, A.: Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. München: Verlag C. H. Beck, 2018.

 

Autor

Frederik Schmitt, ist Erziehungswissenschaftler (Master of Arts) und verfügt über mehrjährige Erfahrung in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen.