Zitiervorschlag

Aus: Ingeborg Becker-Textor: Wohltätigkeitsstiftungen zu Kinderbewahranstalten in Unterfranken. Norderstedt: Books on Demand GmbH 2016, S. VII-LXVI

Wohltätigkeitsstiftungen zu Kinderbewahranstalten in Unterfranken

Ingeborg Becker-Textor

 

Schon während meiner Ausbildung zur Kindergärtnerin und Hortnerin und dann in meinen Studien an der Fachhochschule und der Universität (Psychologie, Soziologie, Pädagogik) galt mein vertieftes Interesse der Geschichte der Pädagogik und hier wiederum der Geschichte der Elementaren Bildung.

Viele pädagogische Grundsätze, Methoden und Organisationsformen, denen wir heute in den „modernen“ Kindertageseinrichtungen begegnen, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte. Jedoch gab es auch gesellschaftliche Entwicklungen, die neue Formen der Kindertagesbetreuung notwendig werden ließen.

Immer wieder fanden sich Menschen, die auf freiwilliger Basis soziale Angebote stifteten. Ohne diese Stifter hätte es vielerorts keine sozialen Dienste, mobile Altenhilfe, Krankenpflegestationen oder Kinderbewahranstalten gegeben. Ein einziger Hinweis auf diese guten Taten sind häufig nur noch Namen von Einrichtungen, die die Zeiten überdauert haben. Oft ist jedoch nichts mehr über die Stifter und ihre Wohltaten für die Menschen in dem jeweiligen Dorf oder der Stadt bekannt. Jubiläumsfeiern zu „runden“ Geburtstagen eines solchen sozialen Angebotes finden kaum noch statt. Nachfahren der Stifter leben nicht mehr, insbesondere wenn diese kinderlose Ehepaare oder Einzelpersonen waren. Somit geht ein Stück regionaler Sozialgeschichte verloren.

Während meiner Tätigkeit bei der Regierung von Unterfranken (1980 bis 1987) stieß ich immer wieder auf Stiftungen zu Kinderbewahranstalten. Gepaart mit meinem Interesse an der Geschichte der Pädagogik begab ich mich im Regierungsbezirk Unterfranken auf Spurensuche. Daraus sollte eine Dissertation entstehen. Durch familiäre und berufliche Veränderungen sowie Ortswechsel folgte auf meine Recherchen eine über dreißigjährige Ruhephase.

Da viele der Unterlagen, die ich in Pfarrarchiven, auf Kirchenspeichern, in Kellern und Garagen durchforstete, mittlerweile sicher schon längst verschwunden sind, habe ich durch Motivation und mit Hilfe meines Mannes nochmals einen Anlauf genommen, die Dokumente für sozialgeschichtlich Interessierte zu erhalten.

Die geringste Ausbeute hatte ich im Staatsarchiv, bei den für Stiftungen zuständigen Ministerien und bei den kirchlichen Archiven. Dies zeigt, dass diese kleinen, nur örtlich wirksamen Stiftungen, die zumeist über wenig Stiftungsvermögen verfügten, nicht als besonders bedeutsam erachtet wurden und werden.

Mein Dank gilt all denen, die mir meine Recherchen möglich gemacht haben und mir Einblick in diese „verborgenen Schätze“ gewährten. Es war eine recht schmutzige Arbeit – im wahrsten Sinne des Wortes – mit viel Staub, Schimmel und Feuchtigkeit in zumeist kalten Räumen. Oft stieß ich bei Mitarbeitern von Kommunen und Pfarrgemeinden auch auf Unverständnis für mein Interesse. Manche vertrauten mir aber auch ihre Dokumente an, sodass ich sie daheim in aller Ruhe sichten konnte.

Der damalige Regierungspräsident von Unterfranken, Dr. Franz Vogt, erleichterte mir durch sein Empfehlungsschreiben Gespräche mit Ministerialbeamten, Archivaren, Landräten, Bürgermeistern, Heimatpflegern, Pfarrern und Ordensangehörigen. Ich wurde so quasi für viele Ansprechpartner vertrauenswürdig.

Allen, die meine Recherchen unterstützt haben, gilt mein aufrichtiger Dank!

Zu Beginn der Beschäftigung mit der Thematik „Wohltätigkeitsstiftungen zu Kinderbewahranstalten in Unterfranken“ ging ich von ca. 30 Stiftungen aus. Im Verlauf meiner Nachforschungen hat sich die Zahl vervielfacht, und sicherlich konnten trotz gründlicher Recherchen nicht alle Stiftungen entdeckt werden. Über einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren hinweg gab es in Bayern keine statistischen Erhebungen über das Stiftungswesen. Und so wurden alle Stiftungen, die in diesem Zeitraum errichtet und wieder aufgehoben wurden, bisher nicht systematisch erfasst.

In der Dokumentation finden Sie alle von mir „aufgespürten“ Wohltätigkeitsstiftungen zu Kinderbewahranstalten im Regierungsbezirk Unterfranken, beginnend mit dem Jahr 1835. Zuvor wird in der Einführung ein umfassender Überblick zum damaligen Stiftungswesen vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen gegeben.

Einführung

Wohltätigkeitsstiftungen prägten das Feld der Sozialarbeit und die sozialen Einrichtungen des 19. Jahrhunderts. Die aufkommende Industrialisierung, die Frauenerwerbstätigkeit, die höhere Mobilität und die Anonymität der immer größer werdenden Städte machten soziale Institutionen notwendig, sollten Kinder, Kranke und alte Menschen nicht an den Rand der Gemeinschaft gedrängt oder ganz vernachlässigt werden. Es entstand eine Vielzahl von Einrichtungen auf Initiative und mit finanzieller Unterstützung aus dem Volk selbst. Das Engagement einzelner Personen und Familien in diesem Bereich löste auch bei anderen die Bereitschaft zu Schenkungen, Legaten, Stiftungen und Zustiftungen aus. So erlebte das Wohlfahrtswesen einen großen Aufschwung.

Im unterfränkischen Raum gehörte in die Reihe dieser Stifter u.a. das Patriziergeschlecht Teufel (es gründete zusammen mit der Familie von Steren die Stiftung des Bürgerspitals „Zum heiligen Geist“). So ist es nicht verwunderlich, dass in der Umgangssprache der Satz geprägt wurde: „Selbst der Teufel stiftet noch Gutes“! Die Aktivitäten vieler Stifter und Guttäter prägten das Bild der Sozialgeschichte Unterfrankens.

In dieser Publikation sollen nur Teilaspekte aus der Vergangenheit der sozialen Einrichtungen, nämlich die Wohltätigkeitsstiftungen zu Kinderbewahranstalten, betrachtet werden. Die Analyse der Entstehungsgeschichte dieser Einrichtungen umfasst die jeweiligen Orts- und Bevölkerungsstrukturen, den Wandel von der reinen Agrar- zur Industriegesellschaft, die Einflüsse der „Pioniere“ der Kindergartenpädagogik bis hin zu den Personen der Stifter und Guttäter, einschließlich ihrer Lebensumstände und Motivation.

Aus der großen Zahl der Stiftungen, die in der Dokumentation nach Ort, Name und Gründungsjahr geordnet sind, werden in der Einführung einige genauer betrachtet. Diese sind beispielhaft für die verschiedenen Gruppen der Stifter, die unterschiedlichen Stiftungszwecke und örtlichen Gegebenheiten.

Es geht in dieser Publikation nicht um die lückenlose und systematische Zusammenstellung von Archivmaterial. Vielmehr wurden die Nachforschungen in erster Linie auf die Orte beschränkt, in denen Stiftungen errichtet wurden. So konnte auch untersucht werden, inwieweit die Stifterpersonen in den jeweiligen Gemeinden noch bekannt sind. Stiftungen, Zustiftungen, Legate und andere Guttaten gaben zu allen Zeiten Zeugnis über den bürgerlichen Gemeinsinn und die Verbundenheit der wohlhabenderen Bevölkerungsschichten mit den ärmeren. Sie zeigten, dass die Stifter die sozialen Bedürfnisse der jeweiligen Zeit erkannt hatten. So häuften sich Stiftungen, die zur gleichzeitigen Errichtung von Kinderbewahranstalt, Alterspfründe und ambulanter Krankenpflege führten. In Einzelfällen wurde noch eine Handarbeitsschule für Mädchen angegliedert.

Für das heutige soziale Netz haben also die Wohltätigkeitsstiftungen Pionierarbeit geleistet, auch wenn sie bald nach ihrer Gründung auf die Hilfe von Kirche, Kommune (dem örtlichen Armenpflegschaftsrat) und dem Staat angewiesen waren. Auch das schon immer sehr dichte Netz der unterfränkischen Kindergärten ist auf die Aktivitäten von Stiftern und Guttätern zurückzuführen.

Heute sind die vorgenannten „Kombinations-Einrichtungen“ aufgelöst und bestehen als einzelne Institutionen nebeneinander:

Diese Einrichtungen fußen nun auf Bundes- und/oder Landesgesetzen, die auch ihre Finanzierung regeln. So gehören z.B. die Kindergärten bzw. Kindertagesstätten zu den Pflichtaufgaben der Städte und Gemeinden und werden von den Kommunen oder – auf der Basis des Subsidiaritätsprinzips – von öffentlichen, freigemeinnützigen oder privaten Trägern geführt. Durch die hohen Zuschüsse zum Betrieb dieser Einrichtungen sind Zustiftungen und Legate zur Sicherung solcher Angebote der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern nicht mehr notwendig.

Dies galt jedoch nicht für das 19. Jahrhundert. Damals wurden durch Stiftungen soziale Einrichtungen geschaffen und finanziert. In ihnen kamen Gemeinsinn, Gottesfurcht, Nächstenliebe, Fürsorge und Hilfsbereitschaft zum Ausdruck. Viele Stifter begründeten ihre Guttat mit dem Bibelwort: „Was Ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt Ihr mir getan“ (Matthäus, Kapitel 25, Vers 40).

Nicht immer handelte es sich aber um religiöse und humanitäre Stiftungs- oder Gründungsmotive. Auch das eigene Geltungsbedürfnis, der Wunsch, nicht vergessen zu werden und quasi ein „Denkmal“ zu erhalten, spielten eine bedeutsame Rolle. Alle Stiftungen waren jedoch von christlichen Grundsätzen (Stiftungsmotiven) geprägt und hatten in ihren Satzungen und Stiftungsbriefen christliche Bildung und christliche Nächstenliebe, die Caritas, festgeschrieben.

Diese Grundhaltung und die Tatsache, dass die meisten Stifter von Kinderbewahranstalten katholische Ordensfrauen oder evangelische Diakonissinnen für die Erziehungsarbeit an den Kindern bestimmten, hatten zur Folge, dass heute fast alle Stifter in Vergessenheit geraten sind und ihre Einrichtungen als „caritativ“ (dem Caritasverband angehörig) oder „kirchlich“ (von der Kirchengemeinde getragen) bezeichnet werden. Selbst dort, wo die Stifternamen noch in der Bezeichnung der Einrichtung enthalten sind, ist das Wissen um die Stifterpersönlichkeit bei Trägern und Nutzern der Einrichtung nur noch äußerst gering.

Sicher ist, dass der soziale Gedanke zu allen Zeiten die Menschen beschäftigt hatte. Im 19. und 20. Jahrhundert führte diese Denkweise aber aufgrund der Guttaten von Stiftern zu den angedeuteten Formen der regionalen Selbsthilfe. „Die Stiftungen haben ja immer einen Pionierdienst getan; sie sind vorgeprescht, und dann ist der Staat hinterhergekommen“ (Liermann 1974, S. 188).

Das „Etwas-für-andere-tun“ scheint hingegen für den heutigen Bürger keine so bedeutende Rolle mehr zu spielen – sieht man vom Ehrenamt ab. Er muss auch viel seltener helfend eingreifen, da das soziale Netz dicht geknüpft ist. So drängt sich laut Fleming (nach Schilling 1984) die Frage auf, ob es in einem „Steuerstaat“ überhaupt noch Anlass und Platz für ein soziales und gemeinnütziges Handeln gibt. Der Einsatz der Person wird durch die Abgabe der Steuer ersetzt, und dementsprechend gehen Engagement und Motivation des Bürgers zurück: Er lässt leisten. Caritative Nächstenliebe wird zur Aufgabe des Staates, der caritative Leistungen für den Bürger übernimmt und einen Teil seiner Steuereinnahmen dafür verwendet. „Dieses Phänomen des sozialen Steuerstaates muss sich einem idealistischen Demokratieverständnis deshalb als Einbuße an staatsbürgerlicher Gesinnung darstellen“ (Fleming, zit. nach Schilling 1984).

Bereits Jean Jacques Rousseau (1712-1778) vertrat die Ansicht, dass ein Gemeinwesen ohne Gemeinsinn nicht gedeihen könne. Der Staat würde untergehen, „sobald der Dienst am Staat aufhöre, die Hauptbeschäftigung der Staatsbürger zu sein, und sie ihm lieber mit ihrem Geld als mit ihrer Person dienten“ (Rousseau 1758).

An dieser Situation ändert sich auch nur wenig, wenn der Staat nicht die für das Gemeinwohl bedeutsamen Aufgaben selbst übernimmt, sondern z.B. entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip den freien Wohlfahrtsverbänden den Vortritt lässt. Das Verhältnis zwischen den beiden Seiten ist ein anderes als das zwischen Staat und Stiftungen.

Stiftungen unterscheiden sich auch von den heutigen Selbsthilfegruppen. Was früher die Stiftungen leisteten bzw. das soziale Engagement, aus dem heraus sie entstanden, kann nicht mit Initiativgruppen, Elternvereinigungen und Zusammenschlüssen von Menschen in ähnlichen Problemsituationen verglichen werden.

In dieser Einführung soll auch dargestellt werden, in welcher Beziehung Stiftungen und Staat zueinander standen und welche Auswirkungen daraus für das soziale Leben resultierten. Die Rechtslage, Änderungen im Stiftungsgesetz und Ähnliches werden hingegen nur am Rande berücksichtigt werden. Zudem soll an der Klärung gearbeitet werden, warum heute soziale Dienste, bei denen es um die Produktion von Leistungen geht, die in der Vergangenheit nicht-professionell und nicht-organisiert erbracht wurden, staatlicher Organisation und Subvention bedürfen. Schließlich muss überdacht werden, ob die Orientierungen der Stifter in der heutigen Zeit noch von Bedeutung für soziale Handlungskonzepte sind und ob eine „Wende nach rückwärts in vor-modernes Gemeinschaftsdenken“ (Pankoke 1986, S. 36) sinnvoll ist.

1. Das Kindergartenwesen und die Stiftungen

Am 1. Januar 1973 trat das Bayerische Kindergartengesetz in Kraft. Es sicherte u.a. erstmals die finanzielle Grundlage der Kindergärten durch hohe Zuschüsse von Staat und Kommune. Hier stellt sich die Frage, wie Kindergärten in den Jahren und Jahrzehnten davor bestehen konnten.

Im Stiftungsverzeichnis des Bayerischen Statistischen Landesamtes aus dem Jahre 1913 wurde festgestellt, dass Unterfranken mit der Zahl seiner Wohltätigkeitsstiftungen zu Kinderbewahranstalten an der Spitze in Bayern stand, gefolgt von Schwaben, Mittelfranken und Oberfranken.

Was waren wohl die Gründe für die Vielzahl dieser Stiftungen? Wer waren ihre Stifter? In welchen Orten wurden Kinderbewahranstalten gestiftet? Was ist im Laufe der Jahre aus diesen Stiftungen geworden? Wie weit sind die Stiftungen im Bewusstsein der Bevölkerung lebendig geblieben? Beginnt mit den Stiftungen zu Kinderbewahranstalten die Sozialgeschichte Unterfrankens? Sind diese Stiftungen möglicherweise aus generationenübergreifenden Ideen entstanden? Fördern Stiftungen vielleicht demokratische Grundstrukturen? Sind Stiftungen ein Spiegel gesellschaftlicher und menschlicher Probleme, entstanden in einer Zeit der Not oder des Fortschritts im Bereich der sozialen Sicherung? Auf solche Fragen wird im Folgenden eingegangen werden.

Gesetze und Erlasse folgten häufig der Errichtung von Wohltätigkeitsstiftungen. So fiel z.B. in die Zeit vor dem Erlass der sogenannten „Kaiserlichen Sozialbotschaft“ von 1881 – also vor der „Geburt“ der klassischen Sozialgesetzgebung – eine Welle der Errichtung von Wohltätigkeitsstiftungen überall im Deutschen Reich. Die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fehlende soziale Sicherheit in der Form vielfältiger Rechtsansprüche und Hilfen hatte den Willen zur Selbsthilfe, Nächstenliebe und Solidarität in den kleinen Gemeinschaften ausgelöst. Unabhängig von dieser Hilfsbereitschaft gegenüber Bedrängten stand die Errichtung von Stiftungen auch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Ereignissen der Zeit, einzelnen Nottatbeständen oder auch Katastrophen. Ein Blättern in den Chroniken der Wohltätigkeitsstiftungen ist somit immer auch ein Einstieg in die Regionalgeschichte.

Die Stiftung ist Form einer Trägerschaft im Bereich der Wohltätigkeitseinrichtungen und steht in der Geschichte des Kindergartenwesens neben den kirchlichen und den kommunalen Einrichtungen, den Genossenschaften und Vereinen. Die Einzigartigkeit einer Stiftung liegt in der Idee des Stifters, mit seinem Vermögen oder Besitztum zum sozialen Wohl in seinem nächsten Lebensumfeld beitragen zu wollen.

2. Entdeckungsreise zu den Stiftungskindergärten in Unterfranken – Vorgehensweise

Diese Publikation gleicht einer Entwicklungsgeschichte von Stiftungskindergärten in Unterfranken. Es soll damit ein Beitrag zur Regionalgeschichte der Region geleistet werden. Ich begann mit einem planmäßigen Aktenstudium über noch bestehende Stiftungen zu Kinderbewahranstalten. Diese Akten konnte ich bei der Regierung von Unterfranken einsehen. Es folgte die intensive Befassung mit der Geschichte des Kindergartenwesens, mit der Literatur zur Geschichte der Elementarpädagogik, der Geschichte des Stiftungswesens in Bayern sowie dem Zusammenhang von Stiftungswesen und Demokratie.

Weitere Stiftungen zu Kinderbewahranstalten fand ich im Stiftungsverzeichnis aus dem Jahr 1913. Ich schrieb jeweils die Pfarrämter und die Kommunalverwaltungen der Orte an, in denen solche Stiftungen existiert hatten. Der erste Rücklauf war sehr dürftig, schien es doch Bürgermeistern und Pfarrern große Mühe zu machen, im Gemeinde- oder Pfarrarchiv (soweit überhaupt vorhanden) Unterlagen für meine Untersuchung zu finden. Vielen war die Existenz einer Stiftung sogar unbekannt, galt der jeweilige Kindergarten doch schon immer als kommunal bzw. kirchlich. So war die ehemalige Guttat eines Ortsbürgers oder sonstigen Wohltäters längst vergessen. Manche Kommunen und Pfarreien nahmen mein Schreiben aber auch zum Anlass, intensive Nachforschungen anzustellen. Es war mir gelungen, ihr Interesse zu wecken.

Ich verschickte dann ein Empfehlungsschreiben des unterfränkischen Regierungspräsidenten und erreichte damit eine Rücklaufquote von 80%. Manche Pfarreien und Kommunen schickten mir umfassende Kopien aus ihren Akten, während viele andere mir mitteilten, dass ich jederzeit die Akten bei ihnen einsehen könnte. In den letztgenannten Fällen war die Archivarbeit oft sehr zeitaufwändig, da die Unterlagen weder geordnet noch erfasst waren. „In diesem Raum ist alles, was wir haben, wahrscheinlich in dieser Schachtel. Sie sehen ja, sie ist beschriftet mit Wohlfahrtswesen“. Damit ließ mich so mancher Pfarrer in seinem „Archiv“ allein.

Vereinzelt halfen mir pensionierte Lehrer oder Hobbyarchivare, die glücklich und froh über eine Gesprächspartnerin waren. Manches Mal stellten sie Materialien bereit, waren aber dann enttäuscht, wenn ich ihnen sagte, dass ich nur an den Stiftungen zu Kinderbewahranstalten interessiert sei und dabei wiederum nur an der Stiftungsurkunde, der Person des Stifters, den Berichten über die Ausgestaltung des Kindergartenalltags sowie an Informationen über die sozialen Bedürfnisse und Belange der Ortsbürger zur Zeit der Gründung der Stiftung.

Über einen Zeitraum von drei Jahren sammelte und systematisierte ich die Stiftungsunterlagen u.a. nach Gesichtspunkten wie

Dann interviewte ich Erzieherinnen zur Geschichte ihres Kindergartens, und auch Bürger aus der Gemeinde. Ferner konnte ich Interviews mit direkten Nachkommen der Stifter oder mit Personen führen, die die Stifter noch persönlich gekannt hatten. Insbesondere die letztgenannten Interviews führten oft zu einer „Entschleierung“ der oft verherrlichten Stifterpersönlichkeiten.

Viele der bisher nicht registrierten Unterlagen sind mit der Dokumentation erstmals zugänglich. Wenn in dieser Einführung auf einzelne Stiftungen verwiesen wird, können nähere Informationen der Dokumentation entnommen werden.

3. Bedeutung für die Sozialgeschichte einer Region

Die Sozialwissenschaften befassen sich u.a. mit dem Verhältnis von Mensch und Gesellschaft. So wird in dieser Einführung der Frage nachgegangen, unter welchen Bedingungen und in welcher Form Menschen im 19. Jahrhundert zusammenlebten und wie es zur Errichtung von Stiftungen zu Kinderbewahranstalten kam. Das soziale Handeln und der Sozialcharakter verschiedener Persönlichkeiten rückten in das Zentrum des öffentlichen Interesses. Soziale Aufwendungen einzelner Bürger trugen zur sozialen Sicherung bei. Es kam zu einer Unterstützung der schwächsten Glieder der Gesellschaft: Kinder, Kranke und alte Menschen. Man erkennt an der Entstehung der Stiftungen sich verändernde Sozialstrukturen, einen sozialen Wandel im Bereich der Kleinkindfürsorge.

In soziokulturellen Entwicklungsprozessen einer Gesellschaft bilden sich Werte, die von der Mehrheit akzeptiert und internalisiert werden. Stiftungen sind so als eine Orientierungsmaßnahme bzw. Handlungsalternative aus christlichen und religiösen Werthaltungen heraus zu verstehen. Zudem wurden durch die aufkommende Industrialisierung und die steigende Zahl berufstätiger Mütter Einrichtungen zur Betreuung von Kindern notwendig. So breitete sich das Kindergartenwesen aufgrund der sozialen Bedürfnisse in der Bevölkerung schnell aus.

4. Die Epoche der Wohltätigkeitsstiftungen

Die soziale Wohlfahrt gehörte in der Geschichte nicht zu den klassischen Staatsaufgaben. Dies ist auch daran zu erkennen, dass es keine rechtsverpflichtende Finanzierung oder Mitfinanzierung durch den Staat gab.

Zu allen Zeiten lehrte die katholische Kirche bestimmte Tugenden für das Zusammenleben von Menschen. So war die katholische Soziallehre im 19. Jahrhundert eine wichtige Wurzel für soziales Engagement. „Sie umfaßt die Erkenntnisse und Normen des Zusammenlebens der Menschen und der gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen, die sich aufgrund des christl. Menschenbildes und Gesellschaftsverständnisses ergeben und von der Sozialverkündigung der kath. Kirche dargelegt werden“ (Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland 2002, S. 574 ff.).

Die evangelische Sozialethik versteht Tugenden und Pflichten als Aufgabe des einzelnen Menschen und bezeichnet sie mit dem Begriff „die Sozialgestalt des Christentums in den reformatorischen Kirchen“ (Schrey 1973). Sie wurde zum Ursprung einer evangelischen Liebestätigkeit, die u.a. zur Gründung der Inneren Mission durch Johann Hinrich Wichern führte.

Im Jahr 1848 stellte König Maximilian II von Bayern die Preisfrage: „Durch welche Mittel kann der materiellen Noth der unteren Klassen der Bevölkerung Deutschlands und insonderheit Bayerns am zweckmäßigsten abgeholfen werden?“ Industrialisierung, wissenschaftlich-technischer Fortschritt und die Verelendung großer Teile der Arbeiterschaft sensibilisierten den König für die soziale Frage. August Freiherr von Holzschuher, königlich bayerischer Regierungsassessor und Fiskal, verfasste eine Schrift, die preisgekrönt und 1850 veröffentlicht wurde. Er stellte die Innere Mission in ihrem Gedankengut dar: „Der Grundgedanke dieser neuen Lehre ist die christliche Bruderliebe, das Gebot des Erlösers, dass der Reiche, der Vornehme und Gebildete freiwillig heruntersteigen soll zu den Armen und Nothleidenden, um ihm Hülfe, Trost und Ermuthigung zu bringen. Das gewöhnliche Almosengeben ist hienach von Uebel. Die Hauptsache ist die zweckmäßige Verwendung des Almosens, für welche der Geber zu sorgen hat, weil der Empfänger nicht selbst für sich sorgen kann… Es ist kein Zweifel, dass dieses System der Armenpflege mehr als jede Staatseinrichtung geeignet ist, die geistige Wiedergeburt unseres Zeitalters zu bewirken und dadurch auch die materielle Noth zu heben“ (Holzschuher 1850, S. VII).

Der Verfasser schloss, „…dass die materielle und intellektuelle Noth unserer Zeit (also nicht blos der unteren Klassen) nur mit Hülfe der Association, d.h. durch Gründung freiwilliger Vereine, und nur nach Ablegung unseres anerzogenen Egoismus, also durch die Umbildung der Geister gründlich geheilt werden kann“ (Holzschuher 1850, S. IX).

So sah es Holzschuher als Aufgabe von Kirche und Staat, alles aufzubieten, um das gelockerte Band zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen wieder fester zu knüpfen. Von beiden Seiten forderte er Mitgefühl und Humanität, Vertrauen und Hoffnung. Es bedürfe einer Verbesserung der Volkserziehung, der Erziehung und des Unterrichts. „Die Erziehung im Einzelnen aber hat der Staat der Familie überlassen und ebenso überlässt er ihr auch die Wahl des Unterrichts, insoweit derselbe zur Fachbildung gehört. Dieses Prinzip ist ganz richtig, insofern jede Familie hinreichende Bildung und Mittel hat, um ihren Kindern die gehörige Erziehung und Ausbildung zu geben. Allein gerade den unteren Klassen fehlt es, bei ihrer gegenwärtigen gedrückten Stellung, an genügender eigener Vorbildung, an hinreichendem Einkommen, an gehöriger Zeit und Muse, um die Erziehung ihrer Kinder zu leiten und für eine passende Ausbildung derselben zu sorgen… Die Vernachlässigung der Erziehung und Bildung des Volkes ist es, welche der Staat an den gegenwärtig drohenden Abgrund geführt hat. Nicht der Zustand des Schulwesens an sich, …nicht der Verfall der Religion – denn wir sind im Allgemeinen noch so fromm als früher, – nicht der Verfall der Sitten, denn die Statistik weist nach, dass sich die Sitten im Ganzen gebessert haben. Alles Dieses ist nicht die wahre Grundursache, vielmehr nur die Vernachlässigung der unteren Volksklassen von Seiten des Staates, oder eigentlich der Gemeinde…“ (Holzschuher 1850, S 60 ff.).

Vor dem von Holzschuher beschriebenen Hintergrund wird deutlich, dass die Situation in dieser Zeit einen günstigen Nährboden für die Errichtung und Blüte der Wohltätigkeitsstiftungen bot, wenn auch mit Anstoß durch den Staat. Insbesondere im Bereich des Kindergartenwesens, der Volksschule und der Handarbeitsschule für Mädchen fanden die Guttäter und Stifter ein reiches Betätigungsfeld. Einen Weg zu besser funktionierenden Bildungseinrichtungen sahen sie in der Gründung sogenannter „Muster-Anstalten“ wie z.B. den Kleinkinderbewahranstalten. „Erst wenn diese Institute eine gewisse Ausdehnung und Wirksamkeit gewonnen haben, ist es rätlich und nothwendig, dass ihnen die Kommune unter die Arme greift, und erst nach beiden darf der Staat es unternehmen, auf den Grund der gemachten Erfahrungen das ganze in den Bereich seiner unmittelbaren Thätigkeit zu ziehen. Vorerst sollte er also nur mittelbar auf das Entstehen solcher Anstalten wirken und die nöthigen Geldmittel zuschießen“ (Holzschuher 1850, S. 61).

5. Sozialpolitische Situation – Soziale Frage

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts rückte die sogenannte „Soziale Frage“ in den Mittelpunkt der Sozialpolitik. Sie greift soziale Probleme wie Kinderarbeit, lange Arbeitszeiten, schlechte Wohnverhältnisse und fehlende Sozialversicherung auf. Der Staat wollte zunächst nicht in die Wirtschaft eingreifen. Später veranlasste er jedoch Maßnahmen zum Schutz von Kindern, da die Kultusverwaltung über mangelnden Schulbesuch und Verwahrlosung von „Fabrikkindern“ klagte. 1839 wurde das Gesetz zur Einschränkung der Kinderarbeit in Fabriken und Bergwerken verabschiedet.

Als eine Auswirkung der Industrialisierung mussten Frauen Familie und außerhäusliche Arbeit „unter einen Hut bringen“. So waren sie zunehmend auf Kinderbetreuung angewiesen – und sei es auch nur während der Ernte. Auch dies erklärt die Gründung vieler Bewahranstalten und Erntekindergärten: Sie sollten Kinder vor den Gefahren der Straße schützen und Frauen die außerhäusliche Arbeit ermöglichen.

Im Jahr 1877 veröffentlichte Heinrich Contzen sein Werk „Geschichte der sozialen Frage“. Die Bedeutung der sozialen Frage beschrieb er wie folgt: „Die soziale Frage ist groß, vielseitig und bedeutungsvoll in der Vergangenheit, in der Gegenwart, wie für die Zukunft. Die soziale Frage ist an sich so alt und weit verbreitet als die Verschiedenheit der Erwerbsverhältnisse ihren Ausdruck in dem Gegensatz von reich und arm gefunden. Von Zeit zu Zeit spitzt sie sich zu besonderer Schärfe zu“ (S. 12).

Contzen beschrieb bereits die Abhängigkeit der Menschen, insbesondere der Frauen, von einem sozialen Netzwerk. Soziale Probleme verstand er ganzheitlich und bezog sie auf den Menschen und die Gesellschaft als Ganzes. So schlägt sich auch der Wandel der Werte und Ansichten über Erziehung und Verhaltensweisen in der Art und Weise des Umgangs und der Lösungsstrategien zur sozialen Frage nieder. Jedes Individuum bleibt dabei eingebunden in das gesellschaftliche Leben. „Das Wort soziale Frage beziehe ich auf den Organismus unseres ganzen gesellschaftlichen Lebens, unserer politischen societas, der staatlich verbundenen, unter gemeinsamer Ordnung und Gesetzgebung lebenden Gesellschaft. Was wir thun sollen, damit an und in dieser Gesellschaft alle Theile entsprechend ihrer natürlichen Anlage zur hohen Entfaltung kommen, damit kein Glied auf Kosten des anderen erstarke und dadurch die fundamentale Bedingung der Gesundheit des organischen Lebens verletze, damit Armuth, Elend und drohende Unzufriedenheit ganzer Klassen einem möglichst gleichmäßigen menschenwürdigen Dasein aller Platz machen – das eben ist die große Frage, die wir die soziale oder Gesellschafts-Frage nennen. Sie ist also im weitesten Sinne die Frage nach der Organisation unseres ganzen gesellschaftlichen Lebens“ (Contzen 1877, S. 16).

Im 19. Jahrhundert wurde eine Wohltätigkeitsökonomie spürbar, die systematisch die Wohltätigkeit für ganze Klassen der Bevölkerung nutzbar machen wollte. Sie machte es sich zur Aufgabe, Einrichtungen und Anstalten zu benennen, in welchen sich der Grundsatz der Wohltätigkeit abzeichnete (vgl. Contzen 1877).

Industrielle und wirtschaftliche Entwicklung, soziale Frage und sozialpolitische Antworten müssen in engem Kontext gesehen werden. So vollzog sich die Industrialisierung in Bayern regional unterschiedlich und wurde vom Wettbewerb auf dem bestehenden bzw. entstehenden Markt geprägt. Die Schwierigkeiten eines industriellen Aufbruchs lagen in den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Zeit.

Im Jahr 1852 ordnete der bayerische König Maximilian II. an, dass man ihm monatlich über die sozialen Probleme im Lande berichten solle. Der Innenminister ignorierte diese Anordnung. Möglicherweise befürchtete er Folgekosten. Der König erklärte 1863 in seiner Thronrede: „Es ist mir nicht entgangen, dass die Gesetzgebung meines Landes im Bereich der Inneren Verwaltung in mehrfacher Beziehung einer Umgestaltung bedarf. Die Gewerbefrage befindet sich in einem Übergangsstadium, welches eine Lösung auf gesetzlichem Wege erforderlich macht. Es gilt hierbei, die Anforderungen freier Bewegung mit bestehenden Interessen und Rechten in möglichst schonender Weise auszugleichen. Eine wahrhaft gedeihliche Erledigung dieser Angelegenheit ist aber durch gleichzeitig umfassende Reformen auf dem Gebiete der Gemeindeverwaltung, der Armenpflege, der Ansässigkeits- und Heimatgesetzgebung bedingt. Von der Erkenntnis der tiefeingreifenden Wichtigkeit dieser Reformen durchdrungen, ist meine Regierung mit demselben beschäftigt“ (nach Grimm, von Zwehl und Müller 1985). Es zeigten sich größte Schwierigkeiten, strukturelle Bedingungen zu verändern, die sich durch die Industrialisierung ergeben hatten.

Ein beachtenswertes Datum im Zusammenhang mit der sozialen Frage stellte die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 dar, die anstelle der Thronrede des damals erkrankten Kaisers Wilhelm I. als „Kaiserliche Botschaft“ vom Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck verlesen wurde. Sie enthielt das sozialpolitische Programm für eine Absicherung der Industriearbeiterschaft gegen die Risiken der Krankheit, des Unfalls und des Alters. Der politischen Bedrohung des inneren Friedens wollte Bismarck mit der Sozialgesetzgebung begegnen. So entstand die Sozialversicherung, die in großen solidarischen Risikogemeinschaften organisiert, was über Jahrtausende selbstverständliche Rechte und Pflichten der Familienmitglieder waren: Geben und Nehmen, Helfen und Sich-helfen-lassen.

Die katholische Kirche vertrat zunächst die Auffassung, so wenig Staat wie möglich. Sie wollte keine Einmischung in die soziale Frage und begründete ihre Haltung damit, dass hierdurch zerstörerisch in die Aufgaben der Familien eingegriffen würde.

Der Mainzer Bischof Ketteler (1811-1877) war jedoch der Meinung, dass die herrschende soziale Not nicht nur mit privater Liebestätigkeit und familiärer Unterstützung zu überwinden sei. Der Staat müsse auch Verantwortung übernehmen. Allerdings sollte das Subsidiaritätsprinzip eingehalten werden. Erst wenn familiäre Solidarität nicht ausreiche, solle der Staat helfend eingreifen.

6. Industrielle und wirtschaftliche Entwicklung – Berufstätigkeit der Frauen

Bereits im Übergang in das 20. Jahrhundert war eine vermehrte Beteiligung der Frauen am Erwerbsleben zu verzeichnen. Vor allem in der Landwirtschaft wurde die Mitarbeit der Frauen noch stärker eingefordert, da die Männer vermehrt einer Tätigkeit außer Haus nachgingen und nach einem langen Arbeitstag die Landwirtschaft nicht mehr „nebenbei“ versorgen können. Aber auch in Fabriken und Betrieben mit einfachen technischen Geräten wurden immer mehr Frauen beschäftigt.

Aus dieser Entwicklung folgte, dass Kinder und alte Menschen unbeaufsichtigt und unbetreut im Hause zurückblieben. Dies warf viele neue Probleme auf. Eine Lösung schien zunächst die Heimarbeit der Frauen zu bilden. Diese gerieten dadurch jedoch in eine sehr viel stärkere Abhängigkeit von Unternehmern als z.B. Fabrikarbeiterinnen und erhielten zudem eine schlechte und im Verlauf der Zeit immer schlechter werdende Bezahlung. So erfuhr die „Proletarierfrau“ die Doppelbelastung durch Familie, Haushalt und Beruf.

Die Erwerbstätigkeit der Frau aus wirtschaftlicher Not heraus nahm zu, aber auch die industrielle und wirtschaftliche Entwicklung an sich forderte immer mehr Frauen als Arbeitskräfte. Da es kaum Möglichkeiten der institutionalisierten Kinderbetreuung gab, waren (kleine) Kinder oft den ganzen Tag sich selbst überlassen, fehlten ihnen Anregungen und Bildungsangebote und waren sie vielen Gefahren ausgesetzt.

So wunderte es nicht, dass viele Menschen durch Kinderbewahranstalten und andere Erziehungsmaßnahmen der Not abzuhelfen versuchten. „Gewaltige planvolle Erziehungsleistungen der Gesellschaft wurden notwendig. Ihre Entstehung ging von kleinen Anfängen aus und wuchs je nachdem wie sich die Einsicht in ihre Notwendigkeit, das Verantwortungsgefühl der Gesellschaft für diese ihre Verpflichtungen ausbildete und Erfahrungen über die beste Art solcher gesellschaftlichen Tätigkeit gesammelt wurden. Viele Autoren jener Zeit beschäftigten sich mit der Frage der Kinderbetreuung bei den berufstätigen Frauen“. So schrieb Wilhelm Feld in Heft 802 des Pädagogischen Magazins von 1923 über die Kinder der in den Fabriken arbeitenden Frauen. „Von anderen bedeutsamen Gebieten praktischer Tätigkeit, für welche die Kenntnis der bestehenden Beaufsichtigungsarten der tagsüber von ihren Müttern verlassenen Kinder von grundlegender Wichtigkeit ist, nenne ich beispielsweise die Bestrebungen zur Verhütung und Bekämpfung der jugendlichen Verwahrlosung und die Arbeit der Kinderbewahranstalten, Kinderhorte und ähnlicher Einrichtungen“.

Intensiv wurde der Bedarf an Betreuungsplätzen diskutiert. Aber auch die generelle Frage wurde behandelt, ob die Hausfrau mitverdienen soll. So gab es vielerorts Widerstände: „Warum dem Kleinkind seine Kindheit rauben, zum Nachteil seiner Gesundheit? ... Ich werde die Gemeinden weiter vor neuen Lasten bewahren … zeigen wir der alten Verwaltung, daß wir imstande sind, das Unglück, das sie über die Gemeinde bringen wollen, glücklich aus dem Feld schlagen“ (Dokumentation S. 139).

Andernorts setzten sich aber die Befürworter von Kinderbetreuungsangeboten durch, wie z.B. im unterfränkischen Estenfeld: „Die Gemeinde zählt ca. 1200 Seelen, wovon mehr als der dritte Teil seinen Lebensunterhalt als Fabrikarbeiter und Steinhauer in Würzburg zu verdienen genötigt ist. Diese sind von morgens früh bis abends spät Tag für Tag, mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage, außer dem Hause. Ein weiterer großer Teil der hiesigen Einwohner, namentlich die Frauen, besuchen wöchentlich zweimal zur Verwertung ihrer landwirtschaftlichen Produkte den Wochenmarkt in Würzburg und sind deshalb ebenfalls meist den ganzen Tag vom Hause abwesend. Unter solchen Umständen kann es nicht ausbleiben, daß noch nicht schulpflichtige Jugend den ganzen Tag über ohne Aufsicht ist, was natürlich für Geist und Körper von großem Nachteil ist“ (Dokumentation S. 139). Trotz aller Widerstände bekam Estenfeld 1889 seinen ersten Kindergarten durch die Initiative der Guttäterin Elisabeth Scheller.

Wilhelm Polligkeit verfasste 1917 eine Schrift mit dem Titel „Die Kriegsnot der aufsichtslosen Kleinkinder“. Ihm ging es ebenfalls um die Bekämpfung der mangelnden Betreuung von Kindern erwerbstätiger Frauen. In Friedenszeiten bedeutete seiner Meinung nach die Berufstätigkeit von Müttern eine unerwünschte Folge wirtschaftlicher Verhältnisse. In Kriegszeiten wäre sie aber eine Notwendigkeit, da Frauen die wichtigste Reserve an Arbeitskräften bilden würden, durch die der Ausfall an Männerarbeit gedeckt werden könne. Polligkeit wollte das Beste für die Kinder und wandte sich deshalb ganz deutlich gegen eine rücksichtslose Ausbeutung ihrer Mütter.

7. Veränderungen in der gesellschaftlichen Struktur

Die Neuartigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert lässt sich gut aus dem Vergleich mit den Eigenarten der sich auflösenden Gesellschaftsordnung erschließen. Diese war gekennzeichnet durch überwiegend agrarischen Charakter, ständische Struktur, die zentrale Bedeutung der Tradition sowie die Einflüsse der Kirche auf die gesellschaftliche Ordnung und deren Deutung der kulturellen Normen.

Je weiter sich die industrielle Technik fortentwickelte, desto stärker entwickelten sich Eigenarten industrialisierter Gesellschaften wie z.B. die Verstädterung oder die Verschiebung des Schwergewichts von der Landwirtschaft auf Industrie, Gewerbe und Handel. Wie stark die Urbanisierung zunahm, zeigen z.B. die Bevölkerungszahlen der nordbayerischen Stadt Nürnberg. Im Zeitraum von 1850 bis 1900 stieg die Bevölkerung von 52.000 auf 211.060 Einwohner an (Mauersberg 1966).

Immer häufiger befanden sich Wohnung und Arbeitsstätte an verschiedenen Orten; die Trennung der beiden Lebenssphären gehörte zu den einschneidendsten Veränderungen dieser Epoche. Es veränderten sich die Form, Stellung und Funktion der Familie, auch durch deren Ergänzung durch öffentliche Erziehungsinstitutionen. Die Zahl der unselbständigen Arbeitnehmer stieg an, die sich zunehmend in Arbeiter, Angestellte und Beamte untergliederten. Und nicht zuletzt kam es zu einer immer stärkeren Bürokratisierung der Gesellschaft.

Reichte das Familieneinkommen nicht aus, so wurden auch die Kinder zur Arbeit herangezogen. Schon bald wurden aber die gesundheitlichen Folgen und ihr Fehlen in der Schule kritisiert. Mit Inkrafttreten der Gewerbeordnungsnovelle 1891 entstand für Länder mit achtjähriger Schulpflicht eine Regelung, die quasi einem generellen Beschäftigungsverbot für unter 14-jährige Kinder gleichkam. Bayern hatte hingegen nur eine siebenjährige Schulpflicht.

Ein großes Problem bildete die wachsende Armut, bedingt durch die weit verbreitete Arbeitslosigkeit und das starke Bevölkerungswachstum. So hatte sich die Bevölkerung innerhalb eines Jahrhunderts verdoppelt. Für die staatliche Armenpflege vor Ort wurden Pfarrer als Leiter der örtlichen Armenpflegschaftsräte eingesetzt. Zu den Aufgaben der Armenpflege gehörte neben Hausbesuchen die Förderung von Wohltätigkeitseinrichtungen, Industrieschulen und Suppenanstalten, die ambulante Krankenpflege und nicht zuletzt auch die Initiierung von Kinderbewahranstalten. Wir finden noch heute in alten Stiftungsnamen Hinweise darauf (z.B. Industrie-, Handarbeitsschule und Kinderbewahranstalt in Kitzingen). So standen die Betreuung der ansonsten unbeaufsichtigten Kleinkinder, die Sorge um das schulentlassene Kind, die Verhütung des zu frühen Arbeitseinsatzes – insbesondere in den Fabriken – und die Sorge um alte Menschen dicht beieinander.

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der Vereine zum Betrieb von Wohltätigkeitseinrichtungen schnell zu. Ihre Tätigkeit wurde zum festen Bestandteil des sozialen Lebens und führte teilweise zu dauerhaften Institutionen. Hier zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit zu den Stiftungen zu Kinderbewahranstalten.

Caritasvereine fanden ab 1897 in dem von Lorenz Werthmann gegründeten „Caritasverband für das katholische Deutschland“ ihren Dachverband. Ähnliches geschah auf evangelischer Seite. Da die Kirchen den Vereinen eine gewisse Absicherung gegenüber dem Staat bieten wollten, kam es zur verwaltungsmäßigen Anbindung und einer religiösen Durchdringung des Vereinslebens. Dies wurde auf katholischer wie auf evangelischer Seite in den jeweiligen Statuten festgeschrieben. An den Vereinen wurde aber auch Kritik geübt: Sie übernähmen die Aufgaben von Personen; der persönliche Kontakt zwischen Gebern und Empfängern würde geringer.

8. Lebensweise im städtischen und ländlichen Bereich

Im Jahr 1848 lebte die überwiegende Mehrheit der Lohnarbeiter noch auf dem Lande. Die Handarbeit war schwer, die Entlohnung kümmerlich und die Ernährung sehr einfach. Innerhalb weniger Jahrzehnte änderte sich diese Situation. So zeigt das rasche Wachstum der Stadtbevölkerung, dass eine Art Landflucht durch die zunehmende Industrialisierung und Technisierung hervorgerufen wurde. Jugendliche, die früher auf dem väterlichen Hof geblieben wären und als Knechte oder Mägde dort mitgearbeitet hätten, „flohen“ in nächstgelegene größere Orte oder Städte. Dort waren Fabriken gegründet worden, in denen zumindest anfangs eine große Zahl von ihnen einen Arbeitsplatz finden konnte. Die Hoffnung auf ein besseres, abwechslungsreicheres und gesichertes Leben in dieser neuen Umgebung erfüllte sich aber nicht immer.

Diese Landflucht wirkte sich auch auf die zurückgebliebene Landbevölkerung aus. Bis etwa Ende des 19. Jahrhunderts bestanden noch enge Kontakte zwischen den Dorfbewohnern und den in die Stadt abgewanderten Arbeitnehmern. Dies führte zu einer Begegnung zwischen der alten agrarisch-dörflichen und der neuen Mentalität der Arbeiter. So hielten z.B. städtische Lebensformen im Bereich der Kleidung und Sitten ihren Einzug auf dem Lande. Auch wurde der zusehends sich verbreitende antiklerikale und antibäuerliche Geist der Arbeiterschaft spürbar. Es kam zu Spannungen zwischen Bauernfamilien und der Arbeiterbevölkerung.

In dieser Zeit wurde immer wieder der sittliche Verfall beklagt; so häufte sich z.B. die Zahl der unehelichen Geburten. Ursachen dafür bildeten Armut, Überbevölkerung, Entwurzelung, Arbeitslosigkeit usw. Die Umstrukturierung hatte auch Veränderungen in den Wertvorstellungen zur Folge. „Obwohl die alte Identität – etwa in Reichsstädten und im fränkischen Adelsland – oft weiterwirkte, setzte doch Bayern, dessen innere Staatsbildung intensiv betrieben wurde, noch Orientierungsregeln, die sich allmählich in Lebensformen verwirklichten; um die Jahrhundertwende war die Bayer. Gesellschaft bis in die unteren Schichten integriert“ (Grimm, von Zwehl und Müller 1985, S. 334).

9. Veränderungen in Familie und Kindheit und Entwicklung jugendfürsorgerischer Institutionen

In der agrarischen Gesellschaftsordnung wurde die Familie als Produktions- und Versorgungsgemeinschaft bestimmt durch die Arbeitsfähigkeit ihrer Mitglieder, den Vollzug der Arbeit und den Ertrag. Grund- und Viehbesitz bestimmten den sozialen Rang im Dorf oder in der Siedlung. Das Alltagsleben und die menschlichen Beziehungen wurden geprägt durch tradierte Werte und Verhaltensmuster. Diese hatten Einfluss auf das Eltern-Kind-Verhältnis wie auch auf die Beziehung zwischen Bauer und Magd bzw. Knecht. Der soziale Status der Familie bestimmte die Beteiligung am öffentlichen Leben und die Religion das Weltbild, den Lebenssinn und die Leitwerte. Dorf und Pfarrei bildeten den sozialen Handlungs- und Kommunikationsraum. Eine Familienpolitik mit Angeboten der Stabilisierung und Stützung der familiären Erziehung gab es nicht.

Mit der zunehmenden Industrialisierung gab es immer mehr Arbeiterfamilien. Deren Lebenssituation war eine gänzlich andere. Ingeborg Weber-Kellermann (1979) schrieb: „…so brachte die sogenannte industrielle Revolution mit den technischen Veränderungen der Arbeitsprozesse eine tiefgreifende Umwandlung der sozialen und emotionalen Beziehungen in der Familie mit sich. Als Folge der produktions-technisch-organisatorischen Umwälzungen im Fabrik- und Verwaltungswesen wanderte die Arbeit in den Städten allmählich fast aus dem Haus und der Familie in eigene Fabrikhallen und Büros. Damit vollzog sich zunehmend eine Trennung von Arbeitsplatz und Wohnstätte“ (S. 90). Dass dadurch auch ein Bedarf an außerhäuslicher Kinderbetreuung entstand ist selbstverständlich.

Anders als in den Bauern- und Arbeiterfamilien sah es in den bürgerlichen Familien aus. Hier mussten die Frauen nicht mitarbeiten bzw. einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgehen. „Aber während in der Bürgerfamilie damit für die Frau und Mutter ein neuer Freiraum entstanden war, der der Zuwendung zur Wohnung und zu den Kindern zugute kam, hatte der gleiche soziale Wandlungsprozess für die Arbeiterfamilie ganz andere Folgen. Ihre Wohnung war nur noch Schlafstätte und verlor immer mehr die Qualitäten von Geborgenheit und Intimität. Wie sollte eine Frau bei 10 bis 12 Stunden Fabrikarbeit Zeit und Kraft für die Gestaltung ihrer Häuslichkeit finden, von den materiellen Mitteln ganz zu schweigen. Von vielen Schwangerschaften geplagt, empfand sie die Kinder nicht als ‚Segen‘ und vermochte nicht, ihnen den Schutz dessen zu vermitteln, was man als Familie begriff“ (Weber-Kellermann 1979, S. 91).

Aus der unterschiedlichen wirtschaftlichen Lage resultierten auch verschiedene Erziehungsziele und -haltungen. Adelige Familien des 19. Jahrhunderts wollten ihre Kinder zu einer standesgemäßen Lebensführung erziehen und auf die Rolle Adeliger in der Gesellschaft vorbereiten. In den bürgerlichen Familien wurde hingegen eine neue Einstellung zum Kind spürbar. Ihrer Erziehung und Bildung wurde eine große Bedeutung beigemessen. Dies führte zu einer Verlängerung der Kindheit und damit auch zur Unselbständigkeit und Abhängigkeit von der Familie.

Anders gestaltete sich die Kindheit auf dem Lande, in Bauern- oder Taglöhnerfamilien. Hier war die Kindheit viel kürzer: Schon sehr früh war die kindliche Mithilfe auf dem Hof notwendig, insbesondere in der Erntezeit. Dieses Einbinden in das Arbeitsleben der Erwachsenen führte auch zu einer Teilnahme am Erwachsenenleben und verringerte den Freiraum für kindliche Erfahrungen und Erlebnisse.

Ähnlich wie in den Bauernfamilien zeigte sich auch die Kindheit in den Arbeiterfamilien. Auf Grund der angespannten finanziellen Situation in den meisten Familien und der großen Kinderzahl mussten die Kleinen schon früh an Lohnarbeit gewöhnt werden. Damit waren sie ausgeschlossen aus den Kindheitserlebnissen der Gleichaltrigen. Zwangsweise wurden sie früh selbständig und waren mit den Problemen und der Not der Arbeiter vertraut.

Diese veränderten Kindheitsbedingungen führten zu gesetzlichen und gesellschaftlichen Reaktionen in Form von Gesetzen und Verordnungen zur Kinderarbeit, aber auch zur Errichtung von Institutionen zur Erziehung und Betreuung von Kindern. Die Kinder- und Jugendfürsorge entwickelte sich zu einem sozial- und gesellschaftspolitisch interessanten und relevanten Thema. So schrieb Christian Jasper Klumker 1923: „Die Erziehung der Jugend verteilt sich überall auf die Familie und gesellschaftliche Einrichtungen mancherlei Art… Der wirtschaftliche Aufgabenkreis, wie der gesellschaftliche Aufbau der Familie sind durchaus anders geworden. Eine Fülle wirtschaftlicher Leistungen haben sich ebenso von ihr gelöst wie manche gesellschaftliche Aufgaben, die mit der Verkleinerung ihres Personenkreises (zwei statt drei Generationen) verschwanden. Die Berufsarbeit des Vaters schwand aus dem Hause und damit seine Person für den größeren Teil des Tages aus der Familie. So konnte sie sehr viele Erziehungsarbeit nicht mehr leisten, ihre Erziehungskraft nahm naturgemäß ab. In derselben Zeitspanne sind Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatsleben viel verwickelter geworden; daher wurden von der Erziehung neue Leistungen für den Nachwuchs des Volkes gefordert, die auch ohne jene Kräfteabnahme der Familie zu schwer waren (Unterricht, Aufsicht im Leben außer dem Hause, Berufsberatung)“ (S. 5 ff.).

Auf die Gesellschaft kamen neue Erziehungsaufgaben zu. Diese entwickelten sich von kleinen Anfängen über die Einsicht in die Notwendigkeit bis hin zum Verantwortungsgefühl für die neuen Verpflichtungen. Das Feld der Kinder- und Jugendfürsorge gewann mehr und mehr an Bedeutung. So kam es zur Übernahme eines großen Teils der familiären Aufgaben durch die Gesellschaft. „Während auf der einen Seite die Familien sich verbanden, um aus eigenen Kräften solchen Aufgaben gerecht zu werden (Hauslehrer, Schulzirkel, Familienkindergärten), suchen an anderen Stellen Einzelne und freie Verbände dergleichen Erziehungshilfen für andere zu schaffen; sie sorgen für die, die es allein nicht können oder nicht die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Arbeit haben. Beide Wege führten dazu, dass große gesellschaftliche Gebilde entstehen, die schließlich von öffentlichen Verbänden, ja vom Staat selbst getragen werden“ (Klumker 1923, S. 6 ff.).

In dieser Entstehungszeit jugendfürsorgerischer Institutionen blühte auch das Stiftungswesen. Wohltätigkeitsstiftungen verschiedener Art wurden von verantwortungsbewussten Bürgern ins Leben gerufen, als Reaktion auf die Not und die Bedürfnisse der Zeit. So wurden Überlegungen angestellt, in welcher Weise man junge Mütter unterstützen könnte, damit sie die Pflege und Betreuung ihrer Kinder selbst wahrnehmen können. „Im Übrigen sollten überhaupt bei der Beurteilung der Bedürftigkeits- und Unterstützungsverhältnisse der einzelnen Familien zur Entscheidung der Frage, ob im einzelnen Falle die Hausfrau außer ihrem Haushalte mitverdienen soll, stets besonders die Bedürfnisse der Kinder an Aufsicht und Erziehung berücksichtigt werden. Eine leider ziemlich seltene, weitblickende Armenpflege hat längst eingesehen, dass es häufig besser angebracht ist, der Mutter höhere Unterstützung zu geben, als sie zur Erwerbstätigkeit zu veranlassen“ (Wilhelm Feld im Pädagogischen Magazin 1923, Heft 802, S. 6 ff.). Aus diesen Überlegungen lassen sich zwei Gedanken ableiten: Zum einen wird eine gewisse Skepsis gegenüber den noch neuen erzieherischen Einrichtungen für Kleinkinder deutlich und zum anderen wird erwartet, dass somit Stellen frei für arbeitslose Männer würden.

Bei vielen Überlegungen spielte sicher auch die Höhe des Betreuungsgeldes eine wichtige Rolle: „Viele Eltern sind zu arm, um das Nötige auf ihre Kinder verwenden zu können. Viele sind zu unbehülflich, um im Kinderkreise sich mit Nutzen zu bewegen. Manche wohnen an Orten, die für die Erziehung kleiner Kinder gefährlich sind. Ihnen ist durch die Kleinkinderbewahranstalt eine reiche Hülfe geboten und ihrem Herzen eine Beruhigung gewährt, der sie mit Dank und Freude erfüllt. In Erwägung dieser Verhältnisse und in weiterer Berücksichtigung, dass die Erziehung nicht erst mit dem erreichten 6. Lebensjahr oder mit dem Eintritte in die Schule beginne, wie viele glauben, sondern ihren Anfang schon sehr frühe nehmen müsse, dann in besonderer Würdigung der Lage der Kinder armer Eltern, sowie in Bedachtnahme auf solche, welche durch verschiedene Verhältnisse an der Erziehung ihrer Kinder gehindert sind oder deren Pflichterfüllung in Absicht auf Aufsicht und Leitung kleiner Kinder durch Lokal- und Privatverhältnisse erschwert wird, haben Regenten, Regierungen, Behörden, Vereine, auch Private, die in finanzieller Beziehung die nötige Stellung einnehmen, beschlossen, Kleinkinderbewahranstalten zu errichten. Diese Segensanstalten werden nimmermehr aus der Reihe wohltätiger Erscheinungen der Zeit ausgestrichen. Auch dürfte es Niemanden zu rathen seyn, dieselben verbannen zu wollen, denn das hieße: einer Mutter verbieten, ihrem Kinde schon frühe Führerin, Pflegerin, Lehrerin, d.h. Mutter zu seyn“ (Wirth 1840, S. 4 ff.).

10. Soziale Probleme und Bedürfnisse als „Gründe“ für Wohlfahrtseinrichtungen

Wie schon mehrfach erwähnt wurde, kam es mit der sich ausbreitenden Industrialisierung zu einer Häufung sozialer Probleme:

So zeigte sich ein wachsender Bedarf an Wohlfahrtseinrichtungen. Robert Erdberg schrieb darüber im Jahr 1903: „Die Wohlfahrtseinrichtungen sind eine Erscheinung in unserem sozialen Leben, deren Bedeutung immer allgemeiner anerkannt wird und deren gestaltender Einfluss auf die Entwicklung dieses sozialen Lebens immer prägnanter zum Ausdruck kommt“ (S. 1). Gleichzeitig verwies Erdberg aber auch auf die Freiwilligkeit dieser Institutionen: „Wohlfahrtseinrichtungen sind Einrichtungen, welche beruhen auf freiwilliger Thätigkeit der Gesellschaft und welche geschaffen werden zur Linderung oder Beseitigung solcher aus der wirtschaftlichen Entwicklung notwendig hervorgehende sozialer Schäden, die auf dem Wege rechtlicher Zwangsnormen noch nicht oder überhaupt nicht gemildert oder beseitigt werden können“ (Erdberg 1903, S. 22).

Die Gemeinschaft des „ganzen Hauses“ hatte in den früheren Jahrhunderten die sozialen Aufgaben getragen, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer stärker auf die öffentliche Armenpflege zukamen. Aktive und wohltätige Bürger, sogenannte Guttäter, übernahmen und unterstützten viele Maßnahmen, ebenso die Kirchen und Wohlfahrtsverbände, bis es dann immer stärker zur Unterstützung durch den Staat und die Kommunen kam und sich die Gesetzgebung mit den neuen sozialen Problemen und Bedürfnissen beschäftigte.

Der öffentlichen Armenpflege erwuchsen Aufgaben, die kaum noch zu bewältigen waren. Dazu Christian Jasper Klumker (1918): „Die öffentliche Armenpflege, die älteste und größte und heute noch stärkste öffentliche Einrichtung solcher Art, erzieht im ganzen Deutschen Reich mehr als 300 000 Kinder, die völlig auf sie angewiesen sind… Welch gewaltiges Maß von Kinderschutz liegt in der öffentlichen Kinderfürsorge des Deutschen Reiches beschlossen! Sowohl die Zahl der Schützlinge mit mehr als zwei Millionen ist groß, auch die Arbeit, die hier zu leisten ist, ist für die Gesamtheit von starkem Wert, ihre Wirkung geht über den Kreis ihrer Schützlinge weit hinaus! Die große Teilnahme des Volkes, die sie deshalb verdient, wird nach dem Kriege noch lebendiger werden, weil wir an den Ersatz aller der Lücken denken müssen, die dieses blutige Ringen hinterlassen hat, weil jedes Kind für unser Volk dann einen viel größeren Wert als bisher darstellen wird. So melden sich schon viele Pläne und Wünsche in der privaten wie in der öffentlichen Fürsorge, die Verwirklichung heischen“ (S. 7 ff.).

Wilhelm Polligkeit (1917) sah einen Gradmesser für die Änderung der Bedürfnisse in der Zahl der Aufnahmegesuche in Tagesheimen für Kinder: „Man glaubt, aus den Abweisungen von Aufnahmegesuchen und sonstigen Wünschen der Mütter ein Urteil über die Notwendigkeit veränderter Maßnahmen gewinnen zu können. Diese Erkenntnisquelle ist jedoch nur beschränkt verwertbar. Man darf nicht übersehen, dass nur ein geringer Bruchteil aufsichtsbedürftiger Kinder in Tagesheimen versorgt wird. Die weit überwiegende Mehrzahl befindet sich unter Aufsicht von Angehörigen oder fremden Personen oder aufsichtslos zu Hause. Ihre Bedrängnisse dringen selten zu den Ohren der Leiter der Heime“ (S. 5).

Beachtung finden muss auch die Tatsache, dass der Gedanke, die Kinder tagsüber zur Betreuung in eine Anstalt zu schicken, noch ungewohnt war und solchen Einrichtungen auch noch der notwendige Bekanntheitsgrad fehlte. Nach einer Untersuchung von Polligkeit (ebd.) wuchs die Zahl der unbeaufsichtigten Kinder insbesondere bei Mehr-Kinder-Familien und erreichte bis zu 66%. „Es ist sehr viel eher möglich, dass eine Nachbarin ein oder zwei Kinder noch unter Mitaufsicht nimmt als drei oder mehr. Auch die Unterbringung in Tagesheimen wird, wenn die Kinder verschiedenen Altersgruppen angehören, dadurch erschwert, dass selten Krippen, Kindergärten und Horte örtlich so nahe beieinander liegen, dass die Mütter nicht übermäßig viel Zeit beim Hinbringen oder Abholen der Kinder verlieren. Mit Recht ist deshalb der Vorschlag gemacht worden, bei Neueinrichtung von Tagesheimen für die verschiedenen Altersgruppen deren Lage so zu wählen, dass sie räumlich möglichst zusammen liegen. Ein anderer, allerdings nicht völlig befriedigender Umstand zur Erklärung der Zunahme der Aufsichtslosigkeit mit wachsender Kinderzahl liegt darin, dass Mütter von mehreren Kindern sich leichter damit beruhigen, dass die älteren Geschwister auf die jüngeren schon aufpassen werden. Nicht in allen Fällen wird dies zutreffen und es enthebt uns nicht von der Verpflichtung, in den Familien mit vier und mehr Kindern Umschau zu halten, ob die Kinder während der Abwesenheit der Mutter tags- oder nachtsüber hinreichend versorgt sind“ (Polligkeit 1917, S. 19 ff.).

11. Persönlichkeiten in der Elementarpädagogik und ihr Einfluss auf die frühkindliche Bildung in Kinderbetreuungseinrichtungen

Gedanken über die pädagogische Betreuung und Förderung von Kindern im Alter vor der Schule finden wir seit Jahrhunderten. Zu einer Verdichtung des Gedankengutes kam es jedoch erst im 19. Jahrhundert aufgrund der weiter oben skizzierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Von namhaften Pädagogen dieser Zeit wurde das Kleinkind in den Mittelpunkt ihrer pädagogischen Ideen und Theorien gestellt.

Jean Paul (1763-1825) legte 1807 seine Gedanken über die Erziehung von Vorschulkindern dar. Er schrieb, dass das schöpferische Spiel für die Entwicklung des Kindes notwendig sei und „dass dieses Spiel erst in der Kindergemeinschaft seine volle erzieherische Funktion erfüllen kann“. Jean Paul erkannte die große Kraft der gemeinschaftlichen Erziehung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kleinkindes. Eine seiner Hauptforderung war: „Lasst Kinder durch Kinder lernen!“ (Jean Paul 1807, S. 79 ff.).

Bei Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) finden wir die wichtigsten Aufgaben des Erziehers darin beschrieben, das Lachen und den Frohsinn des Kindes zu hüten und mit allen Mitteln zu unterstützen. In den Ausführungen zu „Lienhard und Gertrud“ schrieb Pestalozzi gegen Ende seines Lebens, dass die Erziehung in Zukunft nicht nur in der mütterlichen Wohnstube, sondern auch in öffentlichen Einrichtungen erfolgen kann und sollte. Pestalozzi wollte neben seiner Schule ein Kinderhaus eröffnen, wohin „arme Mütter, die die Notdurft des Lebens von der Seite ihrer Kinder wegreißt, das sie den Tag über ihren Geschäften nachgehen (Feld, Taglohn), ihre noch nicht schulpflichtigen Kinder bringen und wo sie den ganzen Tag über sie besorgen lassen könnten“ (Krecker 1983, S. 88).

Der eigentliche Begründer der öffentlichen Kleinkindererziehung war jedoch Johann Friedrich Oberlin (1740-1826). Er gründete „Wohnstuben für Stricken“, die nicht nur der Aufbewahrung der Kinder dienten, sondern eindeutig pädagogischen Charakter hatten. In einem Brief an den Nationalkonvent in Paris beschrieb Oberlin seine Bemühungen, die öffentliche Meinung der gesamten Gemeinde in seine Erziehungsbestrebungen einzubeziehen und dadurch Wechselbeziehungen zwischen öffentlicher und häuslicher Erziehung sowie zwischen Erziehung und Umweltgestaltung wirksam zu machen. Er schrieb an den Präsidenten des Nationalkonventes: „Bürgerpräsident! Ich habe vor einigen Tagen einen Auszug aus dem Protokoll des Nationalkonvents vom 16. Fructidor im 2. Jahr der Republik erhalten, worin meines guten und biederen Vorgängers und meiner ehrenvoll gedacht wird, hinsichtlich unserer Bemühungen, die unserer Sorgfalt anvertrauten Bewohner der fünf Dörfer und drei Weiler im Steinthal zu civilisirten Franzosen in Sprache und Leben heranzubilden… Durch solche Mittel ist diese kleine, früher völlig unwissende Bevölkerung ganz umgewandelt, und das Französische ist gleichsam die Muttersprache aller Familien, die sich gern civilisiren lassen wollten; obgleich die Stunden dieser Lehrerinnen um die Abneigung von Seiten der Eltern und der Kinder zu vermeiden, wöchentlich nur ein- oder zweimal und gegenwärtig nur alle 10 Tage stattfinden…“. Oberlin hatte dem Nationalkonvent mitgeteilt, mit welch einfachen pädagogischen Mitteln er die früher völlig unwissende Bevölkerung umgewandelt hatte.

Bettina von Arnim (1785-1859) berichtete in ihren Ausführungen, dass die kapitalistische Klasse im Interesse ihres Profits gezwungen sei, Maßnahmen zur Betreuung und Erziehung von Kleinkindern einzuleiten, wenn sie die physische Existenz und die notwendige sittliche und geistige Ausbildung des Proletariernachwuchses sichern wolle.

Friedrich Engels (1820-1895) beschrieb die Lage der arbeitenden Klasse in England. Die Kinder seien meist vernachlässigt, beide Eltern müssten arbeiten, die Kindersterblichkeit sei sehr hoch. So würden in Manchester 57% der Arbeiterkinder vor dem 5. Lebensjahr sterben, in den höheren Klassen jedoch nur 20%. „In vielen Familien arbeitet die Frau so gut wie der Mann außer dem Hause, und die Folge davon ist die gänzliche Vernachlässigung der Kinder, die entweder eingeschlossen oder zum Verwahren ausgemietet werden. Da ist es denn kein Wunder, wenn hunderte von solchen Kindern durch allerlei Unglücksfälle das Leben verlieren. Nirgends werden so viele Kinder überfahren und überritten, nirgends fallen so viele zu Tode, ertrinken oder verbrennen als in den großen Städten Englands… Diese armen Kinder, die auf fürchterliche Weise ums Leben kommen, sind rein die Opfer unserer gesellschaftlichen Unordnung und der bei der Erhaltung dieser Unordnung interessierten besitzenden Klasse…“ (Engels 1845).

Im Jahr 1846 betonte C. Felde die Notwendigkeit allgemeiner Kinderbewahranstalten. Sollten die Hindernisse einer wirklichen Erziehung aus dem Wege geräumt werden, so müssten wohl die sozialen Verhältnisse umgestaltet werden: „So kann die Schule weiter nichts tun, als dass sie die hier und da schon angewandten Mittel, die schädlichen Einflüsse des unsittlichen Hauses zu paralysieren, in Anspruch nimmt. Wir meinen die Kinderbewahranstalt… Aus diesem Grunde haben die Kinderbewahranstalten, welche ihre Zöglinge bis auf die Stunden der Nacht in ihren Händen haben, so unendlichen Wert, umso mehr, da gegen das 4. Lebensjahr die Grundzüge der sittlichen Physiognomie sich beim Kinde bilden… Alles was Sinn für die Volksbildung hat, sollten diese Anstalten, wo es nur geht befürworten und ins Leben zu rufen versuchen“ (Felde 1846, S. 67 ff.).

Samuel Wilderspin (1792-1866), Vorsteher der Zentralkinderschule in London, schrieb 1823 sein Buch „Über die frühzeitige Erziehung der Kinder der Armen in den englischen Kleinkinderschulen“. 1826 erschien sein Werk in deutscher Sprache und übte in der deutschen Öffentlichkeit eine große Wirkung aus. Wilderspin propagierte ein System der öffentlichen Kleinkindererziehung, das den Anforderungen der kapitalistischen Produktionsweise und dem Streben der herrschenden Klasse entsprach: „…meine ich, dass Kleinkinderschulen dem Lande große Vorteile verschaffen müssen:

  1. Durch ihre Tendenz, der Vermehrung von Verbrechen, wie der durch so häufige Unfälle verursachten Lebensverkürzung Einhalt zu tun,
  2. indem sie den Schulbesuch befördern dürften, da sie den Eltern die gewöhnliche Entschuldigung, ich musste den Jungen zu Hause halten, benehmen werden,
  3. bin ich überzeugt, dass sie das Beste sowohl der Kinder als der Eltern befördern werden…“ (Wilderspin 1826, S. 8 ff.).

Die Organisation einer Kleinkinderschule stellte Wilderspin sich in dem Sinne vor, dass die Kinder, die keinen Begriff vom Zusammenwirken haben, mit den sogn. „Handlectionen“ beginnen müssten: „Die Kinder sollen sich dabei ergötzen und gleichzeitig einen Schritt zur Ordnung machen“ (ebd.). Sollen Kinder aufmerksam werden, dann müssten sie etwas zu tun haben.

Es folgte eine Reihe ähnlicher Veröffentlichungen. So schrieb Johann Georg Wirth 1940 über die Gestaltung des pädagogischen Prozesses in Kleinkinderbewahranstalten. Grundlage bildeten für ihn die von fortschrittlichen bürgerlichen Pädagogen für die Erziehung des Kleinkindes in der Familie entwickelten Prinzipien. Er formulierte als Zweck der Anstalten: „Die Kleinkinderbewahranstalt übernimmt den Ersatz der häuslichen Erziehung, sie bildet, in vielen Fällen, die Unterstützung derselben. Diese Ansicht muss bei allen Vorgängen in derselben die Leitende sein, um nicht auf Kosten der Kinder Übungen vorzunehmen, die einer späteren Zeit angehören. Wie der verständige, für das Wohl seiner Kinder liebreich tätige Familienvater es als seine besondere Aufgabe betrachtet, die körperliche und geistige Entwicklung derselben in seine Umsorge zu nehmen, unterstützt von der nicht minder sorgenden Mutter, so wirkt die Bewahranstalt für die Gesamtheit der ihr anvertrauten Pfleglinge. Noch stehen die Kleinen in einem Alter, für das keine besonderen Leistungen vorgeschrieben sind. Fremd ist ihnen noch die ernste Rechenschaftsablage über ihre Zeitverschwendung. Noch wird es mit der Frage ‚Was hast Du gelernt?‘ nicht so strenge genommen; denn der Zweck der vorgenommenen werdenden Übungen ist, streng und wahrgenommen, nicht der, das Kind zu befähigen, in kurzer Zeit dieses oder jenes leisten zu können, sondern alles, was vorgeht, bleibt nur das Mittel zum Hauptzwecke: zur Entwicklung der dem Menschen verliehenen körperlichen und geistigen Anlagen…“ (Wirth 1840, S. 37 ff.).

In seiner Schrift „Die Kleinkinderschulen, was sie sind und was sie sein sollen“ aus dem Jahr 1848 schrieb Julius Fölsing (1818-1882) über Kleinkinderschulen für Proletarierkinder und für Kinder des Bürgertums. Er machte darauf aufmerksam, dass Kinder, die in ihrer frühen Jugend geistig vernachlässigt würden, dies in der Schule nicht mehr aufholen könnten. Auch sah er in der Armut und der Berufstätigkeit beider Eltern einen Grund, warum Kinder nicht genug gefördert werden: „Wo bleiben die kleinen Kinder während der Abwesenheit der Eltern? Sind keine Großeltern oder sonst müßige Personen zur Aufsicht da, so werden die Kleinen an oder in die Wiege angebunden, wenigstens in die finstere, schmutzige Stube eingesperrt. Die Fenster werden zugebunden, die Stubentüre wird zugeknebelt. Alles ist so fest verwahrt, dass nichts Fremdes hinein kann… niemand will sich des Kindes annehmen… Dieses Unheil trifft die Kinder vieler armer Eltern desto härter, je jünger sie sind. Insbesondere trifft es die Kinder der Witwen, die den ganzen Tag arbeiten müssen, dass sie, außer der Herbeischaffung von Esswaren und Kleidern, das Geld für die Miete erschwingen können. Unter solchen Umständen muss aber ein Kind körperlich verschrumpfen, keine Kraft kann sich entwickeln… In neuerer Zeit besonders in Aufnahme gekommen, die Gründung von Kleinkinderschulen. Während die Eltern außer dem Hause sind, werden die Kinder in jenen Anstalten von morgens bis abends sorgsam bewahrt, rein gehalten, mit warmer Suppe mittags gespeist und den ganzen Tag über zur Ordnung angehalten. Die Eltern können dann doppelt fleißig und ruhig sein und ohne Sorgen arbeiten. Wenn sie am Abend ihre Kinder abholen, so wird es ihnen noch einmal so viel Freude machen wenn sie sehen, wie ihre Kleinen gedeihen, wie sie wachsen, freundlicher aussehen, den Eltern mit größerer Liebe zugetan sind… Ohne Zweifel muss eine gute Anstalt auch auf die Häuser und Familien einwirken. Es sind Beispiele genug bekannt, dass lasterhafte Väter und nachlässige Mütter durch den Anblick ihres von fremden Leuten besser gepflegten und geliebten Kindes sich zu schämen anfingen und wenigstens vorsichtiger wurden…“ Fölsing (1884) unterschied zwischen Bewahranstalten und Anstalten für Kinder höherer Stände. In beiden Einrichtungen sollten Kleinkinder jedoch ihren Tätigkeitstrieb ausleben und auf die Zukunft vorbereitet werden.

Durch Friedrich Fröbels (1782-1852) Pädagogik zog sich die Erkenntnis der Bedeutsamkeit der frühen Kindheit. In dieser Lebensphase sah er die gesamte Entwicklung des Menschen begründet und eine Basis für die fortschrittliche Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Nach Fröbels Auffassung hing von der Intensität des Spiels die Entwicklung des Menschen ab, und deshalb müsste das Spiel intensiver gefördert werden. Spiel war für ihn freitätige Darstellung des Inneren. Fröbel gelangte zu dem Schluss, dass die Kinder aller Klassen in Kindergärten erzogen und gebildet sowie zu gutem Spiel befähigt werden müssen. Diese Aufgaben sollte der Allgemeine Deutsche Kindergarten leisten, der von Fröbel als eine umfassende Organisation aller Einrichtungen und ihrer Erzieher gedacht wurde. 1840 wurde der erste Fröbel-Kindergarten gegründet.

In der „Deutschen Schulzeitung“ war 1848 zu lesen: „Zweck des Kindergartens ist es Personen, namentlich junge beiderlei Geschlechts, in der rechten Leitung und Beschäftigung der Kinder zu unterweisen, den Müttern gute Gehilfinnen in der Pflege der Kleinen, den Familien bessere Wärterinnen und Erzieherinnen, den Bewahranstalten und anderweitigen Kindergärten geschickte Kindermütter und einsichtige Kinderführer zu geben. Um die Verbreitung des Fröbel'schen Ideengutes zu ermöglichen, kam es zu vielfältigen Versammlungen von Lehrern und Freunden in Rudolstadt. Die deutschen Lehrer wandten sich an die deutschen Regierungen und den Deutschen Reichstag, da diese einen Grund zu einem neuen, freien Volksleben legen wollen. In der festen Überzeugung, dass die Volksfreiheit nur auf dem festen Grunde allseitiger sittlicher und geistiger Volksbildung aufgebaut werden kann, halten es die Lehrer für die heilige Pflicht, die Aufmerksamkeit der Regierungsorgane auf eine noch wenig beachtete Stufe der Volksbildung, auf die öffentliche Kleinkindererziehung hinzulenken“.

Die Rudolstädter Lehrerversammlung wandte sich an die deutschen Regierungen und den Reichstag in Frankfurt: „Es ist die Pflicht des Staates, die notwendige Ergänzung der häuslichen Erziehung, diese notwendige Vorbereitung der öffentlichen Elementar-Volkserziehung zu schaffen, des Staates, welcher die Bildung des Kindes nicht erst dann in die Hände nehmen darf, wenn es in vielen Fällen zu spät ist. Wird das Kind im Kindergarten durch Wort, Spiel und Gesang und bildenden Umgang mit kinderfreundlichen Frauen, Jungfrauen und Kindern schon in den ersten Jahren der Entwicklung an Tätigkeit und Freude am Schönen, an Gesetz und Ordnung, an Selbständigkeit und Gemeinsamkeit, an eine religiös-sittliche Auffassung des Natur- und Menschenlebens gewöhnt, so werden Trägheit, Missstimmung, Gesetzlosigkeit, Absonderung der Stände, Egoismus und unzählige andere Laster und Auswüchse der sich selbst überlassenen Kindesnatur im Keime erstickt… Die politische Neugestaltung, welche jedem Staatsbürger politische Rechte einräumt, fordert ein bis in die untersten Schichten gleichmäßig gebildetes Volk, wenn nicht die Arbeit in Anarchie der Massen ausarten soll; man wird eine umfassendere allgemeine Bildung nicht von den seitherigen Elementar-Bildungsanstalten allein verlangen wollen; man wird die von den Lehrern geforderten Ergänzungen – die Fortbildungsschulen – und zunächst die Vorschulen oder Kleinkinderschulen unverweilt schaffen müssen… Müssen die Regierungen helfend eingreifen, wenn sie auch nur eine künftige allgemeine Einführung der Kindergärten vorbereiten wollen. Und wenn die Lehrer Deutschlands fast einstimmig Kindergärten für ein Bedürfnis der Zeit halten; wenn die zu Rudolstadt im August dieses Jahres versammelten Lehrer erklären, dass sie die allgemeine Einführung von Kindergärten für Stadt und Land, für alle Stände, obschon ohne Schulzwang, für notwendig halten; wenn endlich das Programm für die zweite, Anfang August dieses Jahres zu Dresden abgehaltene sächsische Lehrerversammlung unter den allgemeinen Volkserziehungsanstalten, welche in jeder Gemeinde bestehen müssen, auch die Kindergärten nennt“ (Allgemeine Schulzeitung 1848, Spalte 1345-1348).

Friedrich Adolph Diesterweg (1790-1866) trat ebenfalls ganz entschieden für die Errichtung guter Institutionen für Vorschulkinder ein. 1851 erläuterte er in einer Rede zur Eröffnung eines Kindergartens in Berlin die Bedeutung dieser Einrichtungen für die Gesellschaft, für die Familien, für die gesunde und harmonische Entwicklung der Kinder und für die Arbeit in den Schulen. Seine Ausführungen machten deutlich, dass die Fröbelschen Kindergärten besonders für die Kinder des Bürgertums eingerichtet wurden. „Friedrich Fröbel ist der Erfinder derselben. Seit vielen Jahren, besonders aber seit 12 und mehr Jahren, hat dieser Mann seine Aufmerksamkeit und Tätigkeit dem Nachdenken über die beste Art der Einwirkung auf Kinder im ersten Stadium des Lebens vor dem schulpflichtigen Alter gewidmet. Er trat in die Spuren Pestalozzis, seines Lehrers und Freundes. Pestalozzi hatte sein ganzes Leben darüber nachgedacht. Er glaubte in der Erhöhung der Erziehungsfähigkeit der Mütter, in den Wohnstuben die Lösung des Problems zu erblicken und veröffentlichte zu diesem Zweck sein Buch der Mütter. Fröbel ging weiter. Er erkannte, dass der schöne Zweck nicht durch Bücher, sollten sie noch so vollkommen sein, erreicht werden könne; die Mehrzahl der Mütter liest keine Bücher oder versteht sie nicht. Er gewann die Überzeugung, dass eine bessere Erziehung kleiner Kinder nur praktisch erlernt und durch lebende Personen verbreitet werden könne. Er gründete am Ende eine Anstalt, um darin erwachsene Mädchen zur Behandlung kleiner Kinder anzuleiten, und er vereinigte kleine Kinder, um an ihnen die Sache praktisch zu zeigen, er gründete den Kindergarten“.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts breitete sich das Kindergartenwesen in Deutschland immer weiter aus. Zum Personenkreis um Fröbel gehörte auch Henriette Goldschmidt (1825-1920). Sie gründete in Leipzig den Verein für Familien- und Volkserziehung und veröffentlichte eine Reihe von Schriften, die die Anwendung von Fröbels Theorien in der praktischen Arbeit zur Grundlage hatten. Der Bereich der Spracherziehung bildete einen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Leiten ließ sie sich von einem Wort Alexander von Humboldts: „Der Mensch ist ein singendes Geschöpf, Töne zu Gedanken verbindend“. Damit sprach Goldschmidt (1909) insbesondere die menschliche Sprachfähigkeit an, die im engsten Zusammenhang mit der geistigen Entwicklung gesehen werden muss: „Wie der bis jetzt erreichte Kulturstand nur durch die Sprache möglich geworden, so sind Erziehung, Erziehungsmittel undenkbar ohne Sprache“ (S. 133).

Vielerorts wurden Lehr- und Beschäftigungspläne für die Ausbildung von Schwestern und weltlichen Kindergärtnerinnen erstellt, um all den Förderaufgaben zum Wohle der Kinder gerecht zu werden. Immer lag ein Schwerpunkt auf der Bewegungs- und Spracherziehung, im Lernen von Versen und dem Erzählen von Geschichten.

Mit der Geschichte der Kindergärten eng verknüpft war auch noch die Pädagogin Henriette Schrader-Breymann (1827-1899). Sie charakterisierte den Volkskindergarten, verband die Gedanken Pestalozzis von der Wohnstubenerziehung mit dem Fröbelschen Spielgedanken und versuchte, dies auf die gesellschaftlichen Verhältnisse des ausgehenden 19. Jahrhunderts anzuwenden. Für die Kinder der Proletarier forderte sie Ganztagseinrichtungen. Als im Pestalozzi-Fröbel-Haus ein Volkskindergarten entstand, beschrieb sie dessen Zweck wie folgt: „Es wird vorzugsweise den Müttern, welche den Tag über auf Arbeit gehen und ihre Kinder sich selbst überlassen müssen, die notwendige und naturgemäße Hilfe bei der Erziehung ihrer Kleinen geboten. Frauen und Mädchen gebildeter Stände finden Gelegenheit, in liebevollen, natürlichen Verkehr mit den ärmeren Volksklassen zu treten. Angehende Erzieherinnen werden durch den Verkehr mit Kindern auf ihren künftigen Beruf vorbereitet. Grundprinzipien: Der Kindergarten entlehnt die Grundzüge seiner Einrichtung und Leitung nicht der Schule, sondern dem gesunden, sittlich-religiösen Familienleben. Die Kinder finden demgemäß in der Anstalt, wie Pestalozzi verlangt, alle Anreize, ihre Anlagen und Kräfte durch den Gebrauch derselben zu entwickeln, aber nicht nur zum eigenen Nutzen, sondern auch im liebevollen Dienste für andere. Die Leitung der Kinder ist weniger eine schulmäßige, als eine wahrhaft mütterliche“ (Schrader-Breymann 1890, S. 2).

Maria Montessori (1870-1952) forderte eine freie Erziehung für das Vorschulalter. 1909 legte sie in ihrem Buch „Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter“ ihre pädagogischen Grundsätze dar. Die Erzieherin erhielt die Funktion einer Beobachterin, die dann die Umgebung des Kindes entsprechend seinem Entwicklungsstand und seinen Bedürfnissen vor- und aufbereitet.

Im Oktober 1917 fand in Frankfurt der 2. Lehrgang für Kinderfürsorge statt. In einem Bericht darüber hieß es, dass der Gedanke an die ständig wachsende Zahl der Kinder, die sittlicher Verwahrlosung zum Opfer fallen, den Wunsch nach einer Verbesserung der Erziehung in den breiten Schichten der minderbemittelten Bevölkerung von Grund auf zu verbessern, verstärken würde. Man ging in diesem Zusammenhang davon aus, dass der Einfluss der Kindergärten auch in die Familien hineinwirken würde, dass die Kindergärtnerinnen durch Elternarbeit die Familie beeinflussen könnten und dass ein Teil der Familien durch den Kindergarten von der Kinderfürsorge erfasst würde.

In verschiedenen Gremien befasste man sich mit der Verbesserung der Kinderbetreuung im vorschulischen Alter, z.B. im Ausschuss für Kleinkinderfürsorge vom 1.-11. Oktober 1917 in Frankfurt. Insbesondere in den schweren Zeiten des Ersten Weltkrieges waren Frauen aus den verschiedensten Gründen zur Arbeit gezwungen. In jenen Zeiten war auch die Unterbringung in Betreuungsinstitutionen alles andere als zufriedenstellend: schlechteste Raumbedingungen, keine oder kaum Außenspielflächen, zudem noch eine unzureichende Zahl an ausgebildeten Kindergärtnerinnen und Helferinnen. Nicht selten kamen 100 Kinder auf eine Kraft.

Auch die Deutsche Arbeiterbewegung befasste sich mit der Erziehung im Vorschulalter. Clara Zetkin (1857-1933) sprach 1906 auf dem Mannheimer Parteitag der SPD über die Aufgaben der Familienerziehung und ihre Bedeutung für die Entwicklung der kleinen Kinder. An den Gedanken von Clara Zetkin bezüglich einer sozialistischen Erziehung schloss Käte Duncker (1871-1953) auf der Sozialdemokratischen Frauenkonferenz in Nürnberg von 1908 an.

Die vielen Veröffentlichungen über die Bedeutung des elementaren Bildungswesens blieben nicht ohne Auswirkungen auf den ganzen deutschsprachigen Raum. Vielerorts entstanden Kindergärten, auch in Bayern. Diese Entwicklung mag so manchen Bürger zur Stiftung „seiner“ Kinderbewahranstalt motiviert bzw. den letzten Anstoß dazu gegeben haben.

12. Kinderbewahranstalten und die Bayer. Verordnung zu ihrer Errichtung

Die Entwicklung der Kleinkinderschulen führte in Bayern zur Verordnung der Bayer. Regierung über die Errichtung von Kinderbewahranstalten. Dies zeigt das zunehmende Interesse der Gesellschaft an der geordneten öffentlichen Betreuung von Kleinkindern. Man hatte aber eine gewisse Angst vor zu viel Bildung und wollte auf keinen Fall eine „Schule vor der Schule“. Besonders viel Bedeutung wurde der religiösen Erziehung beigemessen.

Im Jahr 1838 wurden dann nachfolgende Vorschriften vom hierfür zuständigen Königlichen Staatsministerium des Inneren erlassen und im „Ministerialblatt für Kirchen- und Schulangelegenheiten im Königreich Bayern“ veröffentlicht:

„Seine Majestät der König wollen daher, dass bezüglich dieser Anstalten nachstehende Vorschriften allgemein zur Anwendung gebracht werden sollen.

§1

Die Kleinkinderbewahranstalten sind, in solange nicht anders verfügt werden wird, als Privatinstitute zu betrachten und als solche den bestehenden Vorschriften gemäß zu behandeln. Es ist jedoch zur Bildung einer solchen Anstalt die obrigkeitliche Bewilligung erforderlich. Ihre Einrichtung und Erhaltung ist allenthalben zu befördern, wo sich das Bedürfnis für sie kundgibt, wo die erforderlichen Mittel dazu aufgebracht werden können, und wo sich gegen den Inhalt der zur Genehmigung vorzulegenden Statuten etwas Wesentliches nicht erinnern lässt.

§2

Die erwähnten Anstalten sollen keinen anderen Zweck haben, als den kleinen, für die öffentlichen Schulen noch nicht reifen Kindern Aufenthalt und Pflege in der Art angedeihen zu lassen, wie solche von verständigen und gewissenhaften Eltern zu gedeihlicher Entwicklung geistiger und leiblicher Kräfte für dieses zarte Jugendalter gewährt zu werden pflegen. Auf diese ihre Bestimmung sind sie allenthalben zu beschränken, und es ist daher auch nicht zu gestatten, dass ihnen der noch hie und da übliche Name einer Kleinkinderschule beigelegt, oder dass den dabei beschäftigten Personen der Titel eines Lehrers oder einer Lehrerin verliehen werde…

§4

Da bei weitem der größere Teil der in diese Anstalt aufgenommenen Kinder armen Eltern angehört und für einen Stand erzogen werden soll, welcher vorzugsweise einen gesunden, kräftigen und gewandten Körper, Lust und Liebe zu anstrengender Arbeit und möglichste Beschränkung seiner Bedürfnisse zu seinem künftigen Fortkommen und zu seinem äußeren Lebensglücke nötig hat: so muss in den Kinderbewahranstalten alles sorgfältig vermieden werden, was nachteilig auf den Gesundheitszustand einwirkt, die Pfleglinge schwächt und verweichlicht, den Hang zum Wohlleben hervorruft und Bedürfnisse erzeugt, die in späteren Lebensjahren nicht mehr befriedigt werden können… Es ist viel mehr dahin zu wirken, dass die Kinder schon frühe leiblich gestärkt und gekräftigt werden, dass sie sich viel und ungezwungen in freier Luft bewegen, und dass sie selbst bei übler Witterung in den Zimmern mit Sitzen, Stehen und Gehen fleißig abwechseln…

§7

Als eine der wichtigsten Pflichten haben die mit der Aufsicht und Pflege dieser kleinen Kinder beauftragten Personen es zu erachten, für die möglichste Erweckung und Belegung eines wahrhaft frommen Sinnes in den zarten Gemüthern gewissenhaft Sorge zu tragen. Dazu genügt aber nicht, die Kinder nur am Anfange und beim Schlusse beten zu lassen. Es muss vielmehr die ganze Erziehungsweise darauf als auf das höchste und letzte Ziel hin gerichtet und dahin gearbeitet werden, dass die Kleinen schon von früher Jugend an Gott erkennen und lieben lernen, dass Lehre, Beispiel und Übung sie fortwährend und in der rechten Art auf ihn und sein Gebot zurückweisen, dass sie sich früh gewöhnen, das zum Gegenstande ihrer Verehrung zu machen, was ihnen, wie allen Menschen, bis in das späteste Lebensalter heilig und ehrwürdig bleiben soll, kurz, dass sie sich ganz von frommem, christlich-religiösem Sinne durchdrungen fühlen und das Gebet ihnen nicht eine Sache der bloßen Gewohnheit erscheint, sondern Bedürfnis des Lebens, Trost und Freude wird…

§8

Hierbei mögen die Pfleger und Aufseher wohl bedenken, dass sie es mit Kindern zu tun haben, welchen das Wahre und Gute noch nicht durch Verstandesgründe zur Überzeugung gebracht, sondern durch Beispiel und Gewöhnungen den zarten Herzen eingepflanzt und für ihr ganzes Leben lieb und wert gemacht werden soll. Dieser Grundsatz muss die ganze Behandlungs- und Erziehungsweise in den Kinderbewahranstalten leiten, deren große Aufgabe nur dann als gelöst zu betrachten ist, wenn durch ebenso liebevolle, als ernste Behandlung Aufrichtigkeit und Offenheit, Schamhaftigkeit und Reinlichkeit, Ordnung und Pünktlichkeit, Dienstfertigkeit und Mäßigung, Dankbarkeit und Liebe, strenger Gehorsam und Freude an nützlicher Tätigkeit, samt anderen Tugenden des kindlichen Alters, den Kleinen zur Gewohnheit, ja gleichsam zur anderen Natur werden, und jenen eigentlich sittlich frommen Sinn oder Charakter begründen, welcher vom Staate und der Kirche eine sichere und erfreuliche Bürgschaft für die Zukunft gewährt…“ (Wirth 1840, S. 37 ff.). Somit hatten die Kindergärten in Bayern und damit auch in Unterfranken eine rechtliche Basis und klare pädagogische Ziele.

13. Organisation und Trägerschaft der Kinderbewahranstalten

Bei Kindergärten, Kinderbewahranstalten oder Kleinkinderschulen gab es trotz unterschiedlicher Bezeichnung der Institutionen kaum Unterschiede. Träger der Einrichtungen kamen aus dem Bereich der privaten Wohltätigkeit. Vorrangig war die Rechtsform des Vereins. Die Vereinsmittel setzten sich zusammen aus Spenden, Legaten und periodischen Sammlungen. Auch viele kirchliche Einrichtungen bedienten sich der Rechtsform des Vereins.

Nach einer preußischen Statistik von 1912/13 wurden 82% aller Kinderbetreuungseinrichtungen von Vereinen getragen. Dies galt jedoch nicht für alle deutschen Länder, insbesondere nicht für Bayern. Hier gab es z.B. in Unterfranken die Struktur der Wohltätigkeitsstiftungen zu Kinderbewahranstalten. Wurde durch Geldentwertung oder Inflation aber das Vermögen von Stiftungen zunichte gemacht, kam es aber nicht selten zu Vereinsgründungen, die den Fortbestand der Einrichtungen sicherstellen sollten.

Eine wichtige Rolle spielten in einzelnen Regionen auch Kinderbewahranstalten in der Trägerschaft von Ordensgemeinschaften und Kirchenstiftungen. Letztere entstanden insbesondere nach der Aufforderung des 2. Dt. Katholikentages von 1849, dass sich Kirche und Ordensgemeinschaften der durch die fortschreitende Industrialisierung notwendig werdenden außerfamiliären Kleinkindererziehung annehmen sollten. „Bezüglich der Trägerschaft, Organisation und Struktur katholischer Kleinkinderbewahranstalten kann für das 19. Jahrhundert nur von einer Vielfalt gesprochen werden. Es wäre vermessen, die zahlreichen unterschiedlichen Organisationsformen in irgendeiner Weise auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu wollen… Trotz aller Vielfalt entwickeln sich aber im 19. Jahrhundert bereits wichtige Grundlinien im katholischen Verständnis von Kinderfürsorge. Dazu gehört die Notbehelfsthese als Legitimation für das geteilte Sozialisationsfeld sowie die Grundstruktur, dass die nicht privat-familiale Seite dieses Feldes öffentlich-institutionell gebaut wird. Das heißt, der Kindergarten organisiert sich nicht von der Betroffenenseite her, sondern wird von der freien Wohltätigkeit her inszeniert, wobei dies im 19. Jahrhundert überwiegend ortsnah gegründete Stiftungen, Vereine und Genossenschaften sind“ (Manderscheid in Schnabel 1987, S. 205 ff.). Viele Bewahranstalten definierten sich als katholische Einrichtungen, obwohl sie z.B. einen kommunalen Träger hatten, jedoch von Ordensfrauen geführt wurden.

Bei den Gründungen von Kinderbewahranstalten zeigten sich also ganz unterschiedliche lokale und individuelle Träger und Trägermotive. Es erstaunt allerdings, dass das Wissen um Stiftungskindergärten in der Bevölkerung so gering ist. Es ist aber auch verständlich, denn nur vereinzelt haben die Stiftungen bis in die heutige Zeit überlebt. Zudem hat das Interesse an der regionalen Entstehungsgeschichte der Einrichtungen nachgelassen. So war beispielsweise eine Gedenktafel an einem Kindergarten bei der Außenrenovierung einfach übertüncht worden. Angeregt durch meine Nachforschungen zu den Stiftungskindergärten ließ der Bürgermeister die Tafel wieder freilegen und räumte ein, dass der Kindergarten eben doch nicht eine Gründung der Kommune war, sondern vielmehr von wohlhabenden Privatleuten gestiftet wurde.

14. Amtliche Statistik – Situation in Bayern

Ab 1870 gab es in Bayern eine amtliche Statistik über Stiftungen; am 16. November 1871 wurde dann durch eine Entschließung der königlichen Staatsministerien die alljährliche Erstellung einer Übersicht der neuen Stiftungen und Fundationszuflüsse zum Gemeinde-, Unterrichts-, Wohltätigkeits- und Kultusstiftungsvermögens für jeden Regierungsbezirk angeordnet. Das Ergebnis dieser Erhebungen wurde für die Jahre 1870 bis 1879 im 13. Jahrgang der „Zeitschrift des Königlichen Statistischen Bureaus“, für 1880 bis 1881 im 15. Jahrgang dieser Zeitschrift und für die Folgejahre alljährlich veröffentlicht. Im Jahr 1888 war der Gesamtbestand der Stiftungen aber nicht mehr ermittelt worden, und die geistlichen Pfründestiftungen waren außer Betracht gelassen worden.

Die Entschließung des königlichen Staatsministeriums des Innern vom 9. März 1911 leitete eine Neuaufnahme der Bayer. Stiftungen in die Wege. So wurden Stiftungen und stiftungsähnliche Fonds, Pfründe- und Familienstiftungen wieder erfasst. Es handelte sich dabei um die Stiftungen, die bis 1910 unter Aufsicht irgendeiner staatlichen Behörde gestanden hatten. In diesen Erhebungen wurden Entstehungszeit und Zweck der Stiftungen, Informationen über die Höhe des Stiftungsvermögens und die Art der Kapitalanlage, über die Belastung durch Schulden und über den Haushalt der Stiftungen erfasst. So konnte durch die Erhebung von 1910 das Bayer. Stiftungswesen endlich wieder anschaulich dargestellt werden.

Leider kam es erst 1963, also ca. 50 Jahre später, zur nächsten Erhebung. So lagen zwei Weltkriege zwischen der Erfassung des Stiftungswesens von 1910 und von 1963. Zahlreiche Stiftungen, die noch heute bestehen, stammten aus der Zeit vor 1910. Manche wurden nach 1910 errichtet und bereits vor 1963 wieder aufgelöst. Grund dafür war in einzelnen Fällen der Kapitalverlust durch die Währungsreform oder die Übernahme durch das staatliche Bildungswesen. Diese „Grauzone“ ist besonders interessant – insbesondere deshalb, weil sie in der amtlichen Statistik nie erfasst und nur mehr oder weniger zufällig entdeckt wurde. An dieser Stelle sei allen Pfarrern und Bürgermeistern gedankt, die von den Nachforschungen erfahren und auf ihre Stiftung aufmerksam gemacht haben. Eine Fülle von Hinweisen fand sich auch in handschriftlichen Aufzeichnungen eines früheren Stiftungsreferenten im Bayer. Staatsministerium des Innern.

15. Stiftungen in Bayern – Verteilung, Struktur, Blick auf die Stifterpersönlichkeiten

Warum ist es interessant, nach all diesen Stiftungen zu suchen? Betrachtet man die Sozialgeschichte Bayerns, so fällt auf, dass das Wohlfahrtswesen in diesem Land schon immer sehr breit ausgebaut war, nicht zuletzt durch viele private Initiativen und Stiftungen. So gibt eine Zusammenstellung der Stiftungen Einblick in ihre soziale Wirksamkeit. Viele bezweckten eine Linderung der Armut, verhießen den Aufstieg in höhere Schichten und bewahrten vor den Folgen der öffentlichen Armenunterstützung und der daraus folgenden Diskriminierung. Die Stiftungen zeigten aber auch das Interesse an kulturellen Zwecken, die Pflege religiösen Lebens, die Frage nach der Erziehung der Jugend vom Kleinkindalter an und Wege der Förderung von Kunst und Wissenschaft.

In der Statistik der Stiftungen finden sich differenzierte Informationen:

Im Jahr 1910 gab es in den Bayer. Regierungsbezirken insgesamt 20.762 Stiftungen verschiedenster Art. Mit Stand 1982 waren es aber nur noch 925. Sie waren folgendermaßen auf die Regierungsbezirke verteilt:

 

Stand 1910

Stand 31.3.1982

Oberbayern

4 290

275

Niederbayern

2 345

60

Pfalz

1 462

-

Oberpfalz

2 073

69

Oberfranken

1 726

113

Mittelfranken

2 591

111

Unterfranken

2 818

142

Schwaben

3 457

205

1910 waren 32,1% aller bayer. Stiftungen Unterrichts- und Wohltätigkeitsstiftungen. 1982 lag der Schwerpunkt der Stiftungen in den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Forschung.

1910 fielen 40,2% des gesamten Stiftungsvermögens auf Unterrichts- und Wohltätigkeitsstiftungen. Hier ließen sich sechs Gruppen unterscheiden:

Von 6 668 in Betracht kommenden Stiftungen hatten 5 330 nur eine Zweckbestimmung, 1 338 hatten zwei oder mehrere Zweckbestimmungen. Insbesondere die Stiftungen für Erziehung, Unterricht und Bildung erreichten eine besonders große Mannigfaltigkeit der Zweckbestimmungen. Am häufigsten waren Stiftungen für Kindergärten, Kinderbewahranstalten, Krippenanstalten, Waisenhäuser, Rettungshäuser und Volksschulen. An zweiter Stelle lagen Stiftungen für Krankenhilfe und Gesundheitspflege, an dritter Stelle Stiftungen zur Förderung der Krankenpflege.

Im Stiftungsverzeichnis von 1913 wurden die Stiftungen für Erziehung, Unterricht und Bildung in drei Abteilungen gegliedert:

Unterrichts- und Wohltätigkeitsstiftungen dienten dem Stifterwillen gemäß der Erfüllung meist sehr eng umschriebener Zwecke, wobei allerdings häufig ganz verschiedenartige Zwecke miteinander verbunden wurden.

Obwohl keine kirchlichen Stiftungen, war von den im Verzeichnis von 1913 aufgeführten Stiftungen nahezu ein Drittel konfessionell gebunden, zumeist was die Realisierung des Stiftungszweckes und die in der Stiftungseinrichtung beschäftigten Personen betraf. Diese konfessionelle Trennung gliederte sich in katholisch, protestantisch, christlich, israelitisch und paritätisch. Hinzu kamen örtliche Begrenzungen. So waren allein in Unterfranken von 1 198 Stiftungen nur 155 ohne örtliche oder konfessionelle Beschränkung. Hier kamen das Heimatgefühl und die eigene Religionszugehörigkeit der Stifter zum Ausdruck.

Ein weiterer Unterschied findet sich in der Leistungsfähigkeit der Stiftungen. Über die Hälfte waren kleinere Stiftungen mit einem Kapitalvermögen bis zu 10 000 Mark; etwa 30% verfügten über 10 000 bis 100 000 Mark und nur etwa 10% über mehr als 100 000 Mark. Mit Stand von 1910 hatte die Gräflich Dörnbergsche Waisenfondstiftung zur Unterstützung von Waisen, wohltätigen und gemeinnützigen Anstalten und Stipendiengewährung (gegründet 1897 in Regensburg) das größte Kapitalvermögen in Bayern: 23 Millionen Mark Kapitalien und Grundbesitz im Werte von über einer Million Mark.

Die Stiftertätigkeit für gemeinnützige Zwecke hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mächtig entfaltet: Mehr als 60% aller Stiftungen und 46% aller Stiftungskapitalien stammten aus dem 19. Jahrhundert. Nimmt man alle Stiftungen der vorausgegangenen Jahrhunderte zusammen, so erreicht man dennoch nicht diese Zahlen.

Im Jahre 1902 veröffentlichte Hans Schorer im Verlag des Caritasverbandes in München sein Werk „Die Wohltätigkeitsstiftungen im Königreiche Bayern – Mit namentlichen Verzeichnis von 6 500 Wohltätigkeitsstiftungen nebst Angabe von Zweck, Begrenzung, Gründungsjahr, Vermögen“. Der Caritasverband widmete dieses Werk seiner „huldreichen Förderin“, Ihrer königlichen Hoheit Frau Prinzessin Ludwig Ferdinand von Bayern. Es war das wohl einzige Werk, das sich so intensiv mit den Wohltätigkeitsstiftungen in Bayern befasste. Der Autor beschäftigte sich darin mit den kulturgeschichtlichen Hintergründen, den Bereichen Recht und Verwaltung und der amtlichen Statistik. Er schrieb u.a., dass unter den Stifterpersönlichkeiten besonders bayer. Herzöge, Kurfürsten und Könige glänzen würden: „Stiftungen sind Wertmesser für die Schätzungen der Menschen; sie verraten auch was deren Herz in hohem Grade bewegt“ (Schorer 1902, S. 9).

In seinen Überlegungen zu Recht und Verwaltung bezog sich Schorer u.a. auf einen Juristen namens Roth. Dieser definierte in seinem Buch zum bayer. Zivilrecht die Stiftung als „einen Vermögensbegriff, welcher durch eine rechtswirksame Disposition in der Art selbständig gestellt ist, dass er für den durch den Stifter bestimmten Zweck verwaltet wird“ (Schorer 1902, S. 12). Hiermit wurde die privatrechtliche Seite der Stiftung deutlich herausgestellt. Gleichzeitig aber rückte der öffentliche Charakter der Stiftungen in den Vordergrund: „Der stifterische Wille vollzieht nicht bloß eine einmalige Selbstentäußerung, sondern will in unbestimmte Zukunft anderen Willen binden und zu seinen ausführenden Organen machen. Er will als Kern einer Persönlichkeit fortleben durch das Mittel eines sich stets erneuernden Anstaltsorganismus, lange nach dem Erlöschen seiner Erdenwirksamkeit die Lebenden in seinen Dienst zwingen“ (Schorer 1902, S. 13).

Der weitaus größte Teil der Stiftungen hatte örtlichen Charakter. In der bayer. Statistik von 1887 waren 15 964 von 17 367 Stiftungen örtliche Stiftungen. Grundsätzlich unterscheidet man die selbständigen bzw. rechtsfähigen Stiftungen und die unselbständigen, sogenannten „fiduziarischen“ Stiftungen. Bei Letzteren wurde einer bereits bestehenden juristischen Person, z.B. einer Gemeinde, das Stiftungsvermögen mit der Auflage übertragen, es bestimmungsgemäß zu verwenden. Selbständige Stiftungen sind mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet. Sie lassen sich untergliedern in Stiftungen des bürgerlichen Rechts und Stiftungen des öffentlichen Rechts. Stiftungen, die ausschließlich private Zwecke verfolgen – wie reine Familienstiftungen –, deren Erträge oder sonstigen Vergünstigungen also ausschließlich Angehörigen eines Familienverbandes zukommen, unterliegen nach Art. 34 des Bayer. Stiftungsgesetzes nicht der staatlichen Aufsicht.

Die Zielsetzungen innerhalb des öffentlichen Stiftungswesens werden in Art. 1 Abs. 3 des Bayer. Stiftungsgesetzes geregelt: „Öffentliche Stiftungen im Sinne dieses Gesetzes sind die rechtsfähigen Stiftungen des bürgerlichen Rechts, die nicht ausschließlich private Zwecke verfolgen, und die rechtsfähigen Stiftungen des öffentlichen Rechts. Als öffentliche Zwecke gelten die der Religion, der Wissenschaft, der Forschung, der Bildung, dem Unterricht, der Erziehung, der Kunst, der Denkmalpflege, dem Heimatschutz, dem Sport, der Wohltätigkeit oder sonst dem Gemeinwohl dienenden Zwecke“. Dabei schließt der Oberbegriff Gemeinwohl bis heute alle der Allgemeinheit dienenden Zweckbestimmungen ein.

Nach den Angaben des Bayer. Statistischen Landesamtes befasst sich die größte und gleichzeitig älteste Gruppe der Stiftungen noch immer mit sozialen Angelegenheiten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Begriffe  Spital-, Hospital-, Bürgerspital- oder Anstaltsstiftung immer wieder auftauchen.

Im Bayer. Stiftungsgesetz von 1954 wird ausgeführt, wie eine Stiftung entsteht: Grundlage sind das Stiftungsgeschäft (bei Stiftungen des bürgerlichen Rechts) bzw. der Stiftungsakt (bei Stiftungen des öffentlichen Rechts) und die staatliche Genehmigung. Im Stiftungsgeschäft bzw. Stiftungsakt drückt sich der Wille des Stifters aus, eine Stiftung zu einem bestimmten Zweck zu errichten. Wenn die Zweckbestimmungen einer Stiftung sich im Rahmen kommunaler Aufgaben bewegen und der Wirkungskreis nicht wesentlich über den Umkreis einer Gebietskörperschaft hinausgeht, handelt es sich um sogenannte kommunale Stiftungen, deren Verwaltung, wenn in der Satzung nicht anders bestimmt, der jeweiligen kommunalen Körperschaft obliegt. Solche kommunalen Stiftungen betreiben zum größten Teil Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Alten- und Pflegeheime, Krankenhäuser, Kinderheime und Kindergärten oder gewähren solchen Einrichtungen finanzielle Unterstützung. 1982 wurden in Bayern 404 bzw. 41% der öffentlichen Stiftungen von Kommunen verwaltet.

16. Die unterfränkischen Stifter und ihre Stiftungen zu Kinderbewahranstalten

Gibt es Stiftungen zu Kinderbewahranstalten, die im ausgehenden 20. Jahrhundert oder gar heute noch bestehen? Befragte Bürger verneinten diese Frage. Sie hielten solche Stiftungen für längst überholt und nicht mehr existent. Ein Blick in den Bedarfsplan der Regierung von Unterfranken für das Kindergartenwesen zeigte jedoch, dass es derartige Stiftungen noch gibt, ja sie haben sogar Kriege und Geldentwertung überlebt. Gemessen an der Zahl der Stiftungen vor dem Zweiten Weltkrieg ist es zwar nur noch eine kleine Zahl, doch sind verbliebene Stiftungen oft noch recht stabil. Sie verfügen über Stiftungsvermögen, vor allem aber über Tradition und Bedeutung als Träger örtlicher Sozialgeschichte.

So überrascht es nicht, dass sich mancherorts Bürger für den Erhalt ihrer Kindergartenstiftung einsetzen und den Stiftern so noch immer ein Andenken gewährt wird. Dies trifft besonders dann zu, wenn im Verwaltungsorgan der Stiftung, dem Stiftungsrat, noch Nachkommen der Stifter vertreten sind, oder wenn die Kommune das Engagement ihrer früheren Wohltäter auch heute noch zu schätzen weiß und sie in der Gemeinde lebendig in Erinnerung hält.

Aber dies ist eher selten der Fall. Häufig wurden Stiftungseinrichtungen nach der Währungsreform, wenn die Stiftungsmittel zur Weiterführung der Kinderbewahranstalt bzw. des Kindergartens nicht mehr ausreichten, von der Kommune oder der örtlichen Kirchenstiftung übernommen.

17. Stifterpersönlichkeiten und ihre Motive

Mit ihren Stiftungen hatten die Guttäter die Zeichen der Zeit erkannt und mit ihren Einrichtungen die Ziele großer pädagogischer Persönlichkeiten umgesetzt. Sie hatten sich inspirieren lassen und nicht gewartet, bis die Kindertagesbetreuung von der Politik in die Wege geleitet wurde.

Die 146 in dieser Publikation erfassten Wohltätigkeitsstiftungen zu Kinderbewahranstalten in Unterfranken zeigen uns ein buntes Bild von Stifterpersönlichkeiten. Nicht in allen Stiftungsunterlagen gab es Hinweise, welcher Berufs- oder Standesgruppe die Stifter angehörten. So ist nur eine ungefähre Auflistung möglich:

In vielen Stiftungsunterlagen war nur vom sogenannten Guttäter die Rede oder es wurden nur Namen genannt, ohne Hinweis auf Beruf, Stand bzw. Herkunft.

Motiviert durch die „Erst“-Stifter entschlossen sich viele Guttäter zu Legaten oder Zustiftungen zu einer schon bestehenden Stiftung. Diese Personen zeigten sich mit dem in der Stiftungsurkunde festgelegten Stiftungszweck einverstanden oder erweiterten ihn um einen ergänzenden Aspekt. Die Namen solcher Zustifter tauchen im Stiftungsnamen nicht auf, waren nur in den Stiftungsunterlagen zu finden. Vielen Stiftern war das recht, denn sie wollten namentlich nicht in der Öffentlichkeit genannt werden.

Die „Stiftung Protestantische Kinderbewahranstalt, Industrie- und Haushaltungsschule“ vereinigte viele Stifter und verschiedene Stiftungszwecke, wie schon aus dem Namen hervorgeht. Ihre Anfänge gehen auf das Jahr 1846 zurück, als der Kitzinger Bürger Georg Krauß zur Errichtung einer protestantischen Kinderbewahranstalt 300 Gulden stiftete. Durch diese Guttat wurden weitere Stifter motiviert, sodass 1860 die Anstalt durch eine Vereinigung von Bürgern gegründet werden konnte. Zu diesen Bürgern gehörte auch der Brauereibesitzer Thomas Ehemann, der zur „Etablierung der Anstalt“ Räume in seinem Haus zur Verfügung stellte. Die Sorge um die Kinderbewahranstalt setzte sich in seiner Familie fort. Nach seinem Tode schenkte seine Tochter Lisette Noll der Kinderbewahranstalt ein Haus mit Garten und ordnete an, „dass die bisher als Privatanstalt betriebene Anstalt zu einer öffentlichen erhoben und mit den einer öffentlichen rechtlichen Anstalt zukommenden Rechten und Pflichten vom Staate anerkannt, durch ein Mitglied des Stadtmagistrats unter öffentlich rechtlicher Aufsicht verwaltet, die innere geschäftliche Leitung der Anstalt aber zunächst den Diakonissinnen von Neuendettelsau übertragen wird“ (siehe Dokumentation S. 237). So wurde die Stiftung am 16. Oktober 1879 durch die königliche Regierung genehmigt.

Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte ließen sich weitere Kitzinger Bürger motivieren und schenkten bzw. vermachten der Kinderbewahranstalt Beträge in beträchtlicher Höhe. Unter den Guttätern war der Magistratsrat Carl Reichard von Deuster. Er hatte ein Haus angekauft und der Stiftung geschenkt. Es wurde abgebrochen und ein Neubau errichtet. Durch die Angliederung der Handarbeitsschule kam es zur Erweiterung des Stiftungsnamens. 1900 wurden die Räumlichkeiten zu klein; ein weiteres Anwesen wurde dazugekauft.

Neben den vielen Zuwendungen, die der Stiftung unmittelbar zuflossen, ist zu erwähnen, dass bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges begüterte Kitzinger Familien der Stadt ansehnliche Kapitalien vermachten, mit der Auflage, rechtlich selbständige Stiftungen des öffentlichen Rechts zu begründen und gesondert zu verwalten sowie die Erträge für den Betrieb der Kinderbewahranstalt und der Haushaltungsschule zur Verfügung zu stellen.

Einige der Zustiftungen, Legate und Schenkungen aus dem Kreise der Kitzinger Bürger sollen hier beispielhaft genannt werden:

Hier wird deutlich, wie sich Bürger durch die Guttat einiger Vorbilder „anstecken“ ließen und ihren Teil zum Gelingen und zur Realisierung der guten Sache beitrugen.

Durch zweimaligen Währungsverfall, 1924 und 1948, schmolzen diese Stiftungskapitalien auf unbedeutende Beträge zusammen. Auf Antrag der Stadt Kitzingen wurden die Stiftungen mit Entschließung vom 20. August 1963 aufgehoben. Folgende Stiftungen waren betroffen:

Der eine Stiftungszweck, nämlich die Unterhaltung eines Kindergartens, wurde von Anbeginn bis heute erfüllt. Die 1895 errichtete Haushaltungsschule musste aber 1971 aus finanziellen Gründen eingestellt werden.

Ferner gab es Stifter, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert waren. Nachdem sie dort ihr Glück gemacht hatten, kehrten sie in die Heimat zurück und stifteten einen Teil ihres Vermögens. Ihre Namen sind teils noch heute im Stiftungsnamen enthalten wie z.B. „Frank und Georg Ritter´sche Kindergartenstiftung“ in Astheim, „Barbara und Mary Engert´sche Kinderbewahranstaltsstiftung“ in Volkach oder „Ehrenbürger-Anton-Tiberius-Kliegl-Stiftung“ in Bad Kissingen. Ihr Werk wurde in der Heimat dankbar begrüßt, doch waren ihre Motive für die Stiftung ganz verschieden.

Frank Ritter war der Sohn des früheren Astheimer Bürgermeisters Josef Ritter. „Einer seiner Söhne, Frank, der das Schreinerhandwerk erlernt hatte, wanderte im Jahr 1870 nach Amerika aus. Durch Fleiß, Sparsamkeit, tüchtige Geschäftsführung und Erwerbung eines Patentes auf die verstellbaren Stühle für Zahnärzte, brachte er es zu einem riesigen Vermögen und wurde Fabrikbesitzer in Rochester… Die Herren Gebrüder Ritter waren sich in besonders vorstehender Weise zugetan, besuchten sich gegenseitig und kamen gemeinsam auch öfters in ihre Heimatgemeinde Astheim. Besonders denkwürdig gestaltete sich der Besuch im Juli 1910, wo selbst der 100. Geburtstag von dem Vater, Herrn Josef Ritter, gefeiert wurde. Vor der Feier besuchten Herr Frank Ritter mit Gemahlin und Herr Georg Ritter im Juliusspital zu Würzburg einen alten Astheimer, den früheren Gehilfen ihres Vaters, Valentin Hirt. Dieser verbrachte in der Pfründnerabteilung seinen Lebensabend. Befragt, wie es ihm gehe, sagte er unter Tränen, dass es sehr hart sei, wenn man in seinen alten Tagen aus der Heimat muss, weil kein Platz und keine Pflege zu finden ist. Mitfühlend wandte sich … an seinen Bruder mit den Worten ‚Du hast Geld, wir machen eine Stiftung und bauen ein Haus, damit die alten Leute nicht aus der Heimat brauchen‘. Herr Fabrikbesitzer Frank Ritter war sofort damit einverstanden, in Asteim ein Altenheim erstehen zu lassen. Die Geburtstagsfeier gestaltete sich zu einem Freudenfest im vollsten Sinne des Wortes… Die Gemeinde sprach die Bitte aus, auch eine Kinderbewahranstalt damit verbinden zu wollen, da eine solche für die ländlichen Verhältnisse sehr nötig ist. Die Herren Stifter gewährten diese Bitte und gingen gleich daran, am Dorfeingang einen Bauplatz zu erstehen“ (siehe Dokumentation S. 34 ff.).

In der Stiftungsurkunde ist dann zu lesen: „Zweck der Stiftung ist, in dem bezeichneten Hausanwesen armen und gebrechlichen Leuten, welche in Astheim heimatberechtigt sind oder zur Zeit des Invalidenwerdens mindestens 10 Jahre in Astheim ihren ständigen Wohnsitz gehabt und sich während dieser Zeit das Heimatrecht erworben haben, in unentgeltlicher Weise Wohnung und volle Verpflegung, einschließlich Verköstigung und freie ärztliche Behandlung und Beschaffung der erforderlichen Heilmittel, zu gewähren“ (siehe Dokumentation S. 35). Aus diesen kurzen Ausschnitten wird deutlich, dass es zur Stiftung des Kindergartens nicht in erster Linie durch die Motivation der Stifter gekommen ist. Für sie war die soziale Not der alten Menschen ausschlaggebend für die Guttat.

Viele Stifter verknüpften das Nutzungsrecht für ihre Stiftung mit dem Heimatrecht. Es ist auffallend, dass vielen Stiftern daran gelegen war, dass ihre Guttat nur von den Bürgern ihres Heimatortes genutzt wird. Ausnahmen waren eine Seltenheit.

Ein typisches Merkmal jener Zeit war auch, dass Stifter ihre Guttat als einen Dank ansahen für das Glück und den Erfolg, der ihnen in der Neuen Welt beschieden war.

Stifterpersönlichkeiten sollen hier jedoch nicht verherrlicht werden. Manch einer wählte ganz egoistische Motive. Sie wollten z.B. mit einer Stiftung erreichen, dass der Name des Stifters in der Heimat überdauert und jedermann wissen sollte, wie großzügig und wohltätig er war. So berichtete in einem von mir durchgeführten Interview eine Nachfahrin, dass die Guttäter nicht vom „Stamme Gabedorf“ (in der Bedeutung von Gebefreude) gewesen seien. Vielmehr hätten sie nur in der Heimat unvergessen bleiben wollen und wären zudem noch geizig gewesen. Hinter so mancher Wohltätigkeitsstiftung verbirgt sich also auch viel Menschliches...

Da die meisten Stifter in Eigeninitiative gegen die soziale Not und für das Wohl der Kinder eintraten, waren sie in der Lage, Bedingungen und Forderungen für die Tätigkeit ihrer Stiftungen zu stellen. Besonders erwähnenswert scheint an dieser Stelle die „Pfarrer Sturm´sche Stiftung“ in Obersinn zu sein, die 1867 die Genehmigung durch das Königlich Bayerische Staatsministerium des Innern erhielt. Grundlage für die Stiftung bildete das Testament des Pfarrers Aloysius Christopherus Sturm, geboren am 13. August 1809. Er regelte seinen Nachlass mit Testament vom 29. Mai 1866. In diesem Testament legte er genau fest, wie nach seinem Tode mit seinem Vermögen verfahren werden sollte. Zu seinem Haupterben erklärte Pfarrer Sturm sein eigenes, seinen Namen führendes Armeninstitut für die Katholiken seines Geburtsortes Obersinn (siehe Dokumentation S. 366 ff.).

In seinem Testament vergaß Pfarrer Sturm keinen Gegenstand seines geistlichen Amtes und seines Hausrates unter ganz bestimmten Voraussetzungen zu vergeben. Er sorgte auch für Dreiheiligenmessen, die auf ewig jährlich an seinem Sterbetag gelesen werden sollten (dadurch würde er nicht in Vergessenheit geraten). Unter Punkt XIII des Testaments äußerte er den Wunsch, auch im Tod nahe bei seiner Stiftung sein zu wollen. „Falls mein entseelter Körper nicht in einer mit Quadersteinen ausgemauerten Gruft in Obersinn beigesetzt wird, wünsche ich, dass mein Herz wenigstens in einer Glas-Kapsel mit Weingeist auf dem Kirchhofe zu Obersinn am Kreuze wohlverwahrt in einem Steingrüftchen beigesetzt und an meinem jährlichen Sterbetage auf meiner Gruft ein Öllämpchen von den Ordensschwestern angezündet werde. Falls ich nicht ganz dort beigesetzt werde, soll mein Herz allda bei meiner Stiftung ruhen“ (siehe Dokumentation S. 388).

Die Person des Pfarrer Sturm ist noch immer lebendig in der Obersinner Bevölkerung. Bürger und Pfarrer setzen sich weiter für die Stiftung ein, so der Stand bei meinen Recherchen von 1983. Der Versuch, die Stiftung aufzulösen, um beim damaligen Umbau des Kindergartens bessere Bezuschussungsmöglichkeiten zu erlangen, wurde vom Stiftungsrat angelehnt und stattdessen die Bevölkerung zur Mitarbeit aufgerufen. Es wurden Feste und Aktionen veranstaltet, deren Erlös dem Umbau des Kindergartens zu Gute kam. Dies zeigte, dass auch viele Jahre nach Errichtung der Stiftung diese vom Bürgersinn mitgetragen wird.

Heute ist die Kindertageseinrichtung durch das dichte Netz an Kindertagesstätten und den Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung für die Bürger zur Selbstverständlichkeit geworden. Es ist gesetzlich verankert, dass die Bereitstellung von Plätzen eine Pflichtaufgabe der Kommunen ist. Mit der Übernahme der Verantwortung durch die öffentliche Hand wurden Stiftungen überflüssig. Ist diese Entwicklung ein Gewinn oder Verlust? Diese Frage muss der Leser für sich beantworten.

Auf alle Stifterpersönlichkeiten und ihre Motivation kann in dieser Publikation nicht eingegangen werden, auch wenn dies interessant und aufschlussreich wäre. Der Leser sollte sich deshalb unbedingt mit der Dokumentation beschäftigen.

Ein besonderes Motiv bedarf aber noch der Erwähnung, nämlich der Wunsch nach Verbesserung der Menschen, insbesondere der Kinder der jeweils nächsten Generation. Ein Beispiel hierfür ist Frau Dr. Johanna Ringelmann und ihre gleichnamige Stiftung aus dem Jahr 1878 in Wipfeld. Auf ausdrücklichen Wunsch der Stifterin wurde das von ihr mit Datum vom 30. Mai 1885 unterzeichnete Memorandum zu einem integrativen Bestandteil der Stiftungsakte bestimmt (siehe Dokumentation S. 517 ff.). Die ersten und letzten Zeilen dieses Memorandums verdeutlichen die eigentliche Motivation für die Kinderbewahranstaltsstiftung in Wipfeld: „Dieses Schriftstück soll für alle Zeiten unzertrennlich als integrativer Teil dieser Stiftungsakte einverleibt sein und bleiben und sowohl im orts- als auch im pfarramtlichen Archiv aufbewahrt werden, da die Begebenheit des Inhalts mir lediglich die Veranlassung zu dieser Stiftung gegeben hat“ (siehe Dokumentation S. 519).

Frau Dr. Ringelmann beschrieb alle Ereignisse um ihr Schloss Klingenberg und wie sie um den Verkaufspreis gebracht wurde. Nach vielen bitteren Erfahrungen entschloss sie sich für eine Stiftung: „Trotz all diesem ja weil all diese Freuden und Leiden auf Klingenberg in mein Gedächtnis und mit meinem Lebensgange innig und unzertrennlich verwebt sind und ich der schönen Natur alldort und dem, was ich mit bestem Willen und bescheidenen Kräften dort geleistet habe, bis zu meinem Tode in Liebe und Genugtuung gedenke, habe ich mich zur Gründung dieser Kinderbewahranstalt entschlossen, um mit Gottes Segen in dem herrlichen friedlichen Fleckchen Erde alldort die in guten Grundsätzen erzogene Jugend zu braven, redlichen menschenfreundlichen Ortsbewohnern heranzuziehen“ (siehe Dokumentation S. 524).

Ihr Sinn für Gerechtigkeit und ihre Sorge um die Besserung der Jugend haben Dr. Johanna Ringelmann zu dieser Stiftung veranlasst. Eine in Sandstein gemeißelte Erinnerungstafel am Eingang des Kindergartens verweist auf ihre Guttat.

Nachfolgende Tabelle soll einen knappen Überblick über die Motive der Stifter geben:

Ort

Name der Stiftung und des Stifters

Motiv

Amorbach

Victoria Stiftung;

Königin Victoria von Großbritannien und Irland

Erinnerung an die verstorbene Mutter Victoria: „In der Absicht, diese Beweise des Wohltätigkeitssinnes der Verewigten fortzusetzen, haben wir die Errichtung einer immerwährenden Stiftung beschlossen“.

(Dokumentation S. 2 ff.)

Aschaffenburg

Königin-Therese-Stiftung;

Silberhochzeit von Königin Therese

für Kinder armer Leute

Astheim

Frank und Georg Ritter´sche Kindergartenstiftung;

Frank Ritter, Fabrikbesitzer in Rochester/Nordamerika

Georg Ritter, Königlicher Hofkellereiverwalter in München

Stiftung einer Alterspfründe für Astheimer Bürger, motiviert durch eine Begegnung mit dem ehemalige Gehilfen des Vaters im Juliusspital in Würzburg; auf Bitte der Kommune Erweiterung der Stiftung auf eine Kinderbewahranstalt

(Dokumentation S. 33 ff.)

Bad Kissingen

Ehrenbürger-Anton-Tiberius-Kliegl-Stiftung;

Kliegl geboren in Bad Kissingen und ausgewandert nach New York

Unterstützung der guten Taten des bereits bestehenden Frauenvereins

(Dokumentation S. 54 ff.)

Bad Neustadt a.d.Saale

Väth-König´sche Kleinkinderbewahranstalt;

Privatiersleute Philipp Väth und Babette, geb. Wachter, Fräulein Babette König, Frau Anna Vogel, Frau Barbara Metz

Bewahrung der Kinder vor Gefahren des Leibes und der Seele

(Dokumentation S. 98 ff.)

Brendlorenzen

Stiftung St. Josephs-Anstalt;

Prof. Dr. Adolf Johannes im Vollzug des Wunsches seiner Schwester Anna Maria Johannes

Sicherung der Fortführung der Kinderbewahranstalt und Unterweisung von Mädchen in praktischen Handarbeiten

(Dokumentation S. 106 ff.)

Burgsinn

Frau Apollonia und Fräulein Theresia Knecht´sche Kinderbewahranstalt zu Burgsinn; Rentenverwalterswitwe Apollonia Knecht

Wunsch nach Begründung einer Kinderbewahranstalt

(Dokumentation S. 111 ff.)

Erlabrunn

Kleinkinderbewahranstaltstiftung;

Pfarrer Barazzi

Sicherung der sorgfältigen Beaufsichtigung von Kindern berufstätiger Eltern

(Dokumentation S. 132 ff.)

Estenfeld

Philipp Scheller´sche Stiftung;

Familie Scheller

Sicherung der Beaufsichtigung der noch nicht schulpflichtigen Jugend während der Berufstätigkeit der Eltern

(Dokumentation S. 138 ff.)

Gressthal

Johann Schmitt´sche Kinderbewahranstaltsstiftung;

Johann Schmitt, Bauer

da Witwer ohne pflichtteilberechtigte Erben Stiftung einer Kinderbewahranstalt

(Dokumentation S. 160 ff.)

Großlangheim

Kinderheim und Kinderbewahranstaltsstiftung;

drei „fromme Jungfrauen“: Eva Pfriem, Margarete Huber, Barbara Burlein

Sorge um die Erziehung hilfsbedürftiger Kinder aus Großlangheim

(Dokumentation S. 170)

Happertshausen

Johann und Katharina Hepp´sche Wohltätigkeitsstiftung;

Landwirtschaftsehegatten Johann und Katharina Hepp

Wohltätigkeitssinn

(Dokumentation S. 175)

Herbstadt

Maria Amberg´sche Kleinkinderbewahranstaltsstiftung;

Maria Amberg, ledige Bäuerin

kirchliche Verbundenheit und Wohltätigkeitssinn

(Dokumentation S. 203 ff.)

Höchberg

Kleinkinderbewahranstaltstiftung;

Posthalter Heinrich Horn

enge Verbindung zur kath. Kirche

(Dokumentation S. 219)

Homburg a. Main

Kehrer´sche Kinderbewahranstaltstiftung;

Pfarrer Valentin Kehrer

finanzielle Not der Gemeinde und Wunsch nach Errichtung einer Kinderbewahranstalt

(Dokumentation S. 222)

Kleinwallstadt

Kern´sche Anstalt;

ledige Geschwister und Bauersleute Alois und Katharina Kern

religiöse Gesinnung, sie wollten ihr Vermögen einem guten Zweck für das Wohl der Allgemeinheit zuführen

(Dokumentation S. 276 ff.)

Marktbreit

Paul und Margaretha Ziegler´sche Stiftung;

Johann Ziegler und Margaretha Scherer geb. Ziegler

„Ein Geschenk des vielfach göttlichen Segens, welcher unseren unvergesslichen, in Gott ruhenden Eltern, Johann Paul Ziegler, Bürger und Rotgerbermeister, und meine Schwester Margaretha, verehelicht mit Herrn Pfarrer Scherer zu Gülchsheim, entschlossen ein Kapital von 2000 Gulden … unter folgenden Bedingungen zu stiften…

(Dokumentation S. 320)

Markt Einersheim

Geschwister Binnwerk´sche Kindergartenstiftung;

ledige Geschwister Georg Binnwerk, Auguste Binnwerk, Luise Binnwerk

„…die Angehörigen der Heimat in ihrem Lebensfortkommen zweckmäßig zu unterstützen und der beteiligten Gemeinde bei der Fürsorge für ihre hilfsbedürftigen Kategorien in menschenfreundlicher Weise an die Hand zu gehen“

(Dokumentation S. 325 ff.)

Marktheidenfeld

Stöber-Thaler´sche Stiftung;

Fabrikbesitzer Adam Thaler und Ehefrau Anna, geb. Stöber

zum Andenken an die Stöber´sche Familie und der verstorbenen Schwester und Schwägerin, Frau Rosina von Müssig; Wunsch etwas für die Gemeinde zu tun, „was ihr dauernd zur Stütze und zum Segen gereicht“. Obsorge für das körperliche und geistige Wohl der Kinder in der Gemeinde.

(Dokumentation S. 342 ff.)

Oberlauringen

Grunelius´sche Stiftung;

Gutsbesitzer Georg Grunelius, auf Grund seines Wohltätigkeitssinnes in den erblichen Freiherrnstand erhoben

Wohltätigkeitssinn und Sorge für die Armen

(Dokumentation S. 360 ff.)

Reichmannshausen

Pfarrer Waldhauser´sche Stiftung;

Pfarrer Sebastian Waldhauser

„...bedacht auf Seelsorge, Krankenpflege und andere christliche Liebeswerke in seiner Heimat und Pfarrei durch Errichtung frommer Stiftungen“

(Dokumentation S. 405 ff.)

Rüdenhausen

Fürstlich Castell-Rüdenhausen´sche Kinderbewahranstaltstiftung;

Wolfgang Graf und Herr zu Castell-Rüdenhausen

zum bleibenden Gedächtnis an das 100-jährige Jubiläum der Gräflich Castell´schen Altencredit-Casse Castell

(Dokumentation S. 427 ff.)

Wipfeld

Frau Dr. Johanna Ringelmann´sche Kunderbewahranstaltstiftung;
Dr. Johanna Ringelmann

Nach vielen menschlichen Enttäuschungen will Frau Dr. Ringelmann, dass die Kinder mit guten Grundsätzen zu braven, redlichen Ortsbewohnern erzogen werden.

(Dokumentation S. 524)

Zell a. Main

Kinderbewahranstaltstiftung;
lediger Fabrikarbeiter Michael Klinger, Fabrikbesitzerswitwe Fanny Koenig

Erkenntnis über den segensreichen Einfluss der Anstalt auf die ihr anvertrauten Kinder in physischer, geistiger und moralischer Hinsicht

(Dokumentation S. 550)

In den Stiftungsunterlagen waren nur ganz wenige Hinweise auf die Motivation der Stifter zu finden, wie überhaupt auch kaum Informationen über die Stifterpersönlichkeiten. Nur in wenigen Fällen gab es noch authentische Berichte von alten Menschen, die in irgendeiner Weise Bezug zu Stiftern hatten. Bei 24 Stiftungen waren einige Hinweise vorhanden. Jedoch ließ sich auch hier keine Klassifikation aufstellen, zu unterschiedlich waren die Motive. Beweggründe, die immer wieder genannt wurden, waren die Sorge um die künftige Generation in der Heimatgemeinde und die Sicherstellung des physischen, geistigen und moralischen Wohls der Kinder sowie die Förderung von deren Erziehung in kindgemäßer Form, nach Art der Kindergärten. Diese und ähnliche Motive darf man wohl auch allen übrigen Wohltätigkeitsstiftungen zu Kinderbewahranstalten zusprechen.

Eine gewisse Dominanz hatte jedoch folgendes Motiv: das Andenken an die eigene Person, die Unvergesslichkeit des Namens. Durch die Stiftung wollten Menschen in ihrer Guttat weiterleben, über ihren Tod hinaus. Die Mehrzahl der Stifter hatte auch religiöse Motive, selbst wenn diese nicht ausdrücklich erwähnt wurden. Alle sonstigen Motive waren sehr individuell und geprägt von der Person des Stifters, seinen Beobachtungen im sozialen Umfeld und von der Fähigkeit, soziale Probleme und Notwendigkeiten wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren.

18. Religions- und Standeszugehörigkeit der Stifter

Wie sich die Stifter auf verschiedene Berufs- und Standesgruppen verteilten, wurde schon aufgezeigt. Stifter waren in allen Gruppen der Bevölkerung zu finden. Eine Dominanz bei der Gruppe der Geistlichen lässt sich wohl darauf zurückführen, dass diese sich stärker mit den sozialen Problemen der Zeit konfrontiert sahen. Kinderlose Personen entschieden sich häufig für die Stiftung einer Kinderbewahranstalt, um so positiv auf das Wohl von Kindern einzuwirken.

Über die Religionszugehörigkeit der Stifter ist in den meisten Fällen nichts bekannt. Sie lässt sich aber oft aus Informationen in den Stiftungsunterlagen ableiten. So wurden z.B. bei 57 Stiftungen als Betreuungspersonal Ordensschwestern gewünscht, bei 3 Stiftungen Diakonissinnen, bei 120 Stiftungen verantwortungsvolle praktizierende Christen und bei 25 Stiftungen unverheiratete Frauen (in dieser Aufzählung sind auch Doppelnennungen enthalten). In den beiden ersten Fällen ist wohl von einer katholischen bzw. evangelischen Religionszugehörigkeit auszugehen. Generell zeigt sich ein hoher Stellenwert der christlichen Erziehung, selbst wenn Träger der Anstalten nicht die Kirchen selbst waren.

Erwähnt werden muss noch der häufige Wunsch, Dillinger Franziskanerinnen und Schwestern der Töchter des Allerheiligsten Erlösers aus Würzburg als Betreuerinnen anzustellen. Evangelische Gemeinden holten sich bevorzugt Rat und Unterstützung bei der Diakonissenanstalt in Neuendettelsau.

Je nach Konfessionszugehörigkeit des Stifters kam es zu Aufnahmebestimmungen hinsichtlich der Glaubenszugehörigkeit von Kindern und deren Eltern. Obwohl in einzelnen Statuten eine strenge und umfassende religiöse Erziehung und Unterweisung festgeschrieben wurde, behielten das Wohl des Kindes und sein Bedürfnis nach institutioneller Betreuung einen vorrangigen Stellenwert.

In vielen Stiftungsurkunden gab es somit Regelungen für die Aufnahme von Kindern nach Konfessionszugehörigkeit:

57 Einrichtungen machten keine Einschränkungen. Die Mehrzahl der Stiftungsstatuten enthielt also keine Hinweise, und man kann somit davon ausgehen, dass alle Kinder der Ortsgemeinde aufgenommen wurden.

19. Stiftungsvermögen und Stiftungsverwaltung

Leider verblieben uns nur wenige Informationen über das jeweilige Stiftungsvermögen. Nach einer Aufstellung aus dem Jahr 1902 verteilte es sich bei den unterfränkischen Kinderbewahranstaltstiftungen etwa so:

Ort

Name der Stiftung

Gründung

Rentierendes Vermögen

Stadt:

     

Aschaffenburg

Fond der Kleinkinderbewahranstalt

1835

14 221

Kitzingen

Carl Reichard und Susanne von Deuster´sche Stiftung

1897

20 000

Kitzingen

Margaretha und Sophie Ehemann´sche Stiftung

1890

20 000

Kitzingen

Protest. Kinderbewahranstalt

1846

23 144

Würzburg

Oberst Sulzbeck paritätische Wohltätigkeitsstiftung

1891

7 544

Würzburg

Franz und Anna Steinfelder-Stiftung zu einer Krippenanstalt

1891

1 030

Würzburg

Wickenmayer´sche kath. Kinderpflege

1871

102 420

Bezirksamt Gerolzhofen:

     

Nordheim a. Main

Kleinkinderbewahranstaltsfond

1876

3 100

Rüdenhausen

Gräflich Castell-Rüdenhausen´sche Kleinkinderbewahranstalt

1894

10 000

Bezirksamt Hammelburg:

     

Fuchsstadt

Bezirksamt Hammelburg

Kunigunde Elisabeth Beck´sche Kleinkinderbewahranstalt

1886

1 256

Bezirksamt Haßfurt:

     

Eltmann

Kleinkinderbewahranstalt

1881

4 253

Haßfurt

Bischof Georg Anton Kleinkinderbewahranstaltstiftung

1865

1 242

Bezirksamt Hofheim:

     

Oberlauringen

Grunelius-Stiftung zur Kleinkinderschule

1884

13 783

Bezirksamt Karlstadt:

     

Arnstein

Kleinkinderbewahranstalt

1882

6 800

Karlstadt

Kleinkinderbewahranstalt

1864

1 200

Retzstadt

Adelmann´sche Kinderbewahranstaltstiftung

1879

2 650

Retzstadt

Maria-Regina-Stift (Fröbelkindergarten)

1881

5 142

Bezirksamt Kitzingen:

     

Euerfeld

Geschwister Scheller´sche Kinderbewahranstaltstiftung

1898

10 240

Mainstockheim

Kleinkinderbewahranstaltstiftung

1896

4 160

Marktbreit

Jäni´sche Stiftung

1861

1 467

Marktbreit

Paul und Margarete Ziegler´sche Kleinkinderbewahranstaltstiftung

1860

838

Marktsteft

Kleinkinderbewahranstalt

1863

2 514

Bezirksamt Lohr:

     

Burgsinn

Knecht´sche Kinderbewahranstalt

1885

13 500

Gemünden

W.L.Eberlein-Stiftung für Kleinkinderbewahranstalt

1888

25 800

Obersinn

Pfarrer Sturm´sche Armenstiftung für Kinderbewahranstalt

1868

28 017

Bezirksamt Marktheidenfeld:

     

Homburg a. Main

Valentin Kehrer´sche Kinderbewahranstaltstiftung

1881

1 453

Lengfurt

Klett´sche Kleinkinderbewahranstaltstiftung

1866

15 869

Marktheidenfeld

Stöber-Thaler´sche Stiftung für Wohltätigkeit

1877

12 896

Bezirksamt Mellrichstadt:

     

Nordhein v.d.Rhön

Grob´sche Stiftung

1897

20 000

Stockheim

Sylvester-Sauer´sche Stiftung

1878

13 800

Bezirksamt Miltenberg:

     

Amorbach

Königin-Victoria-Stiftung

1861

23 239

Bürgstadt

Dechant-Hartig-Kleinkinderbewahranstaltstiftung

1863

12 885

Eichenbühl

Hörst-Fond zur Kleinkinderbewahranstalt

1881

900

Kirchzell

Pfarrer Deben-Klimmer´sche Kinderbewahranstaltstiftung

1887

4 384

Kleinheubach

Kinderbewahranstaltstiftung

1864

290

Bezirksamt Neustadt a.d.Saale

     

Heustreu

Hahn´sche Kleinkinderbewahranstaltstiftung

1888

13 500

Neustadt a.d.Saale

Väth-König´sche Kleinkinderbewahranstalt

1885

12 060

Bezirksamt Obernburg:

     

Kleinwallstadt

Kern´sche Kleinkinderbewahranstalt

1870

24 000

Obernburg

Kleinkinderbewahranstaltstiftung

1865

1 242

Pflaumheim

Ostheimer´sche Kinderbewahranstaltstiftung

1874

4 000

Bezirksamt Schweinfurt:

     

Schnackenwerth

Pfister´sche Kinderbewahranstaltstiftung

1876

655

Wipfeld

Frau Dr. Ringelmann´sche Kinderbewahranstaltstiftung

1878

13 258

Bezirksamt Würzburg:

     

Erlabrunn

Kleinkinderbewahranstaltstiftung

1860

4 623

Estenfeld

Philipp-Scheller´sche Stiftung zur Kleinkinderbewahranstalt

1865

5 952

Güntersleben

Kuhn´sche Kleinkinderbewahranstaltstiftung

1887

4 557

Heidingsfeld

Kinderbewahranstaltstiftung

1869

4 346

Höchberg

Kleinkinderbewahranstaltstiftung

1893

13 600

Unterdürrbach

Kleinkinderbewahranstalt

1863

4 374

Zell a. Main

Kleinkinderbewahranstaltstiftung

1866

24 000

Quelle: Hans Schorer: Die Wohltätigkeitsstiftungen im Königreich Bayern, München 1902

Dies ist nur eine Übersicht zu 48 der von mir erfassten Stiftungen, doch mag dadurch deutlich werden, wie opferbereit die damaligen Stifter waren. Zu diesen Barbeträgen kamen noch gestiftete Häuser, Wälder und Grundstücke sowie z.B. Naturalien für die Versorgung der Kinder. Die Höhe der Vermögen verdeutlicht auch die Stabilität von Stiftungen: Viele waren auf ständige Spenden und Zustiftungen angewiesen, während andere die laufenden Kosten aus Zinsen, Vermietung und Verpachtung erzielen konnten.

Die Verwaltung der Kinderbewahranstaltstiftungen wurde von verschiedenen Organen wahrgenommen. Ortspfarrer und Bürgermeister gehörten grundsätzlich dem Stiftungsrat an. Dazu kamen häufig noch der dienstälteste Lehrer, der Vorsitzende des Armenpflegschaftsrates und verdiente Persönlichkeiten der Gemeinde.

Wie aus der Dokumentation ersichtlich wird, lässt sich aber bei einer Vielzahl von Stiftungen nicht erkennen, wie die Stiftungsverwaltung geregelt war. Das mag nicht zuletzt auch daran liegen, dass der Begriff „Stiftung“ so vielfältig genutzt wurde und es sich daher nicht immer um Stiftungen im Sinne des Stiftungsgesetzes handelte.

Von insgesamt 145 Stiftungen lag die Verwaltung bei 49 Stiftungen in der Hand der Gemeinde, bei 7 Stiftungen in der Hand des Armenpflegschaftsrates, bei 33 Stiftungen in der Hand der katholischen Kirche und bei 9 Stiftungen in der Hand der Evangelischen Kirche; bei 46 Stiftungen waren keine Angaben zu finden.

Bis zum Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900 war das Stiftungsrecht in Bayern ausschließlich landesrechtlich geregelt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bildete das Organische Edikt vom 1. Oktober 1807 über die Generaladministration des Stiftungs- und Kommunalvermögens in Bayern die Grundlage im öffentlichen Recht: „Hierdurch und durch mehrere Vollzugsverordnungen war die Verwaltung des Gemeinde- und Stiftungsvermögens zunächst zentralisiert und eigenen königlichen Administrationen übertragen worden… Mit der Verordnung, die Verwaltung des Stiftungs- und Kommunalvermögens betreffend vom 6.3.1817 wurde die eingeführte Zentralisierung der Verwaltung des gesamten Stiftungswesens wieder beseitigt. Die genannte Verordnung hat außerdem grundlegende Vorschriften für die Einrichtung der öffentlichen Stiftungen gebracht und die Unterscheidung nach der örtlichen und persönlichen Begrenzung der Stiftungszwecke… Die Bayerische Verfassung vom 26.5.1818 enthält ebenfalls einige Vorschriften über den Schutz des Stiftungsvermögens und über die Sicherung des Stiftungsvermögens der Glaubensgesellschaften“ (Störle, Völl und Völl 1979, S. 17 ff.). Diese Regelung führte dazu, dass die Stiftungen in örtliche Stiftungen, allgemeine Stiftungen und Stiftungen für einen bestimmten Personenkreis eingeteilt wurden (nicht durch den Gemeindeverband begrenzt).

Mit der Errichtung des Staatsministeriums für Inneres, für Kirchen- und Schulangelegenheiten durch die Allerhöchste Verordnung vom 27. Februar 1847 wurden auch die Zuständigkeiten auf dem Gebiet des Stiftungswesens neu geregelt und führte bei Stiftungen für Zwecke des Kultus und des Unterrichts zur Aufsicht durch das Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Durch die Einführung des BGB in Bayern erfuhren die landesrechtlichen Bestimmungen zunächst keine Änderung. Auch die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 und die Bayerische Verfassung vom 14. August 1919 enthielten für das allgemeine Stiftungsrecht keine Neuerungen.

Nach langen und zum Teil sehr schwierigen Verhandlungen verabschiedete der Bayerische Landtag am 26. November 1954 das staatliche Stiftungsgesetz, das der verfassungsrechtlichen Autonomie und Selbstverwaltung der Kirchen über ihre Stiftungen gerecht wurde.

20. Stiftungskindergärten im Bewusstsein der Bevölkerung

Im Rahmen meiner Nachforschungen zu den Stiftungskindergärten in Unterfranken wurden über 250 Gemeinden angeschrieben mit der Bitte um Auskunft über die an ihrem Ort einst existierende Stiftung zu einer Kinderbewahranstalt. Obwohl ich ihnen den Namen der Stiftung und das Stiftungsjahr mitteilte, erhielt ich vielfach nur eine lapidare Antwort, dass darüber nichts bekannt sei.

Aber es kam auch zu vielen überraschenden Begegnungen. In einem Fall lud mich ein Pfarrer zu einem Gespräch ein, fragte mich aus, um mir dann mitzuteilen, dass es die von mir angenommene Stiftung nie gegeben hätte. Bereits drei Stunden nach dem Gespräch erreichte mich sein Anruf, dass die Unterlagen im Pfarramt vorlägen und ich sofort nochmals kommen könnte. Außerdem sprach er die Bitte aus, dass er in meiner Publikation namentlich erwähnt und die Stiftung umfassend berücksichtigt werden sollte. Was ihn wohl dazu geführt hat?

In anderen Fällen wurden mir im Pfarrhaus von der Haushälterin Schuhkartons mit schmuddeligen Unterlagen auf dem Küchentisch „kredenzt“. Ich schaute diese durch, machte mir Notizen, wurde dabei aber streng von der Haushälterin beobachtet. Mit erhobenem Zeigefinger sagte sie mir immer wieder: „Ja nichts mitnehmen“. In einem weiteren Fall öffnete mir ein Pfarrer eine Garage, voll mit Altpapier, aber auch mit Stiftungsunterlagen. Damit „das Zeug ihm nicht ins Haus komme“, brachte mir seine Haushälterin einen Hocker. Da saß ich dann in der Kälte. Der Preis für historische Nachforschungen...

Ein sogenanntes Archiv auf dem obersten Dachspeicher einer Kirche war ein besonderes Erlebnis. Über das Büro des Pfarrers hatte ich einen Termin mit dem Kirchenpfleger vereinbart. Ich solle mich „pflegeleicht“ anziehen, es sei alles furchtbar schmutzig. Der Kirchenpfleger begleitete mich über alte Holztreppen in einen ziemlich offenen Speicher. Hier könne ich mich vergnügen, er wisse auch nicht, was alles in den Kisten sei. Er hätte auch keine Zeit, um bei mir zu bleiben. Wie viele Stunden ich wohl brauche – er würde nämlich abschließen und mich dann wieder abholen. Ich war trotzdem nicht alleine auf dem Speicher. Ab und zu schaute eine Taube vorbei, und dann scheuchte ich wohl eine Maus auf. Karton für Karton schaute ich durch. Nichts was mich interessierte war dabei, dafür aber Jahrhunderte alte Dokumente über die Kirchengemeinde. Die Post war frankiert mit Raritäten für Briefmarkensammler. Nach drei Stunden wurde ich in Sachen Kinderbewahranstalt fündig. Mit Genehmigung des Pfarrers konnte ich die Unterlagen einige Tage ausleihen und kopieren. Ich machte ihn auf die Werte auf dem Speicher aufmerksam und auf die Bedeutung der Unterlagen für das Staatsarchiv oder kirchliche Archive. Es interessierte ihn wenig.

Viele der Unterlagen, die in der Dokumentation von mir erfasst wurden, sind mittlerweile mit Sicherheit unwiderruflich verschwunden, vermüllt oder im Reißwolf gelandet. Damit ist ein ganzes Stück Regionalgeschichte verloren gegangen.

21. Schlusswort: Stiftungen in Gegenwart und Zukunft

Stiftungen zu Kinderbewahranstalten befanden sich in der Vergangenheit nur wenig im öffentlichen Blickfeld; und dies gilt heute umso mehr. Die sozialen Aktivitäten der klassischen Stiftungen werden oft nur mit dem selbstlosen Einsatz von Ordensgemeinschaften in Zusammenhang gebracht. Stiftungen werden durch einen großen „Ballast“ von Traditionen „ausgebremst“ oder haben den Anschluss an moderne Entwicklungen nur schwer finden können. Dies hat sicherlich ein Stück dazu beigetragen, dass die klassischen Stiftungen von den Medien in einem gewissen Halbdunkel gelassen werden. Auch in der Öffentlichkeit waren und sind sie nicht im direkten Blickfeld. Die wirtschaftliche Verwaltung, vor allem des Grundvermögens, war oft Gegenstand kritischer Betrachtung. Es widersprachen sich die Interessen der Stifter und die Interessen der Bürger.

Immer wieder tauchte die Frage auf, ob man für das Stiftungswesen als solches Werbung machen solle. Mit dieser Fragestellung beschäftigte sich die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Stiftungen auf ihrer 29. Tagung im Jahr 1974. Die von Stiftungen häufig geleistete Pionierarbeit kann zudem dem Staat auch unbequem sein. Hans Liermann (1974) äußerte sich dazu wie folgt: „…da setzt eine Stiftung etwas in die Welt, dann ist es da, gut und nützlich, und wenn es in die Welt gesetzt ist, dann kann man das Kind nicht mehr töten, sondern es muss dann eben vom Staat weitergepflegt werden“ (S. 97).

Stiftungen arbeiten in der heutigen pluralistischen Gesellschaft auf den verschiedensten Gebieten. Da sind zum einen die caritativen Stiftungen und zum anderen die heute im Mittelpunkt des Interesses stehenden Stiftungen zur Förderung der Wissenschaft. Vermutlich besteht in der Öffentlichkeit eine Kluft zwischen diesen beiden Formen, da sich insbesondere das Caritative „von selbst versteht“. Auf die Frage, warum eine stärkere Neigung zu Wissenschaftsstiftungen bestehe, berichtete Herr Ministerialrat Dr. Zimmermann von Bayer. Staatsministerium des Inneren auf vorgenannter Arbeitstagung: „Die Gründe dafür sind nicht, oder meist nicht, klar erkennbar. Wir betreiben auch keine Motivationsforschung und wissen es deshalb auch nicht so genau. Abgesehen davon sind menschliche Motivationen ja nicht immer klar durchschaubar. Ich könnte mir aber denken, dass die festgelegte Regelung unserer Sozialgesetzgebung, die ja dem einzelnen Bürger auf jeden Fall Anspruch auf soziale Leistungen gibt, auf der einen Seite und freie Betätigungsmöglichkeiten im wissenschaftlichen Bereich auf der anderen Seite, den potentiellen Stifter veranlasst, eher in diese Richtung zu gehen, weil er sagt: Dort entlaste ich ja bestenfalls öffentliche Träger, während hier vielleicht ein Bazillus gefunden wird, der dann mit meinem Namen verbunden durch die Jahrhunderte geht. Das könnte mit ein Grund sein, weshalb heute größere Neigung besteht, Stiftungen in wissenschaftlicher Richtung zu errichten und nicht so große Neigung, Stiftungen im sozialen Bereich zu errichten“.

Hier wird ein Wandel bei den Stiftermotiven deutlich: Man will mit Stiftungen Neuland betreten. Was durch staatliche Gesetze und Verordnungen abgesichert ist, kann einem Stifter nicht mehr zu besonderer Anerkennung für die Anregung und Realisierung von Innovationen verhelfen. Im 19. Jahrhundert waren Sozialeinrichtungen wie Kinderbewahranstalten noch Neuland und wurden deshalb von vielen Stiftern als Zweck für ihre Stiftung ausgewählt.

Auf der 30. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Stiftungen vom 8.-10. Mai 1974 in Nürnberg beschäftigte man sich auch intensiv mit der Fragestellung, welche neuen Stiftungen denn nötig seien. Es wurden z.B. Vorschläge gemacht für Stiftungseinrichtungen zur Rehabilitation und Resozialisierung von ehemals Drogenabhängigen. Mittlerweile gibt es für diesen Bereich eine staatliche Regelförderung, sodass nötige Einrichtungen vorgehalten werden. Ein Vertreter des Ev. Landeskirchenamtes in München machte Stiftungsvorschläge für die Bereiche Alkoholismus, Strafentlassene und Erwachsenenbildung.

Für das Stiftungswesen der Zukunft muss gelten, dass „Individualität“ das Wesen der Stiftung ist und bleiben muss. Stiftungen haben eine Vorreiterrolle und sollten das fördern, was sie selbst für förderungswürdig halten. Stifter sind Individualisten, und Stiftungen sind „Individualitäten“. Stiftungen haben nicht mit Dingen zu tun, sondern mit Menschen. Sie dienen den Menschen und sind etwas so Menschliches, wie man es sich menschlicher überhaupt nicht vorstellen kann. Der Dichter Gotthold Ephraim Lessing drückte dies in folgendem Satz aus: „Die Beschäftigung mit dem Menschen ist die edelste Beschäftigung des Menschen, die es gibt!“

Anmerkung

Die 591 Seiten umfassende Dokumentation konnte aufgrund ihres Umfangs nicht angefügt werden. Sie ist – als Teil des gesamten Buches – unter der URL https://www.ipzf.de/Wohltaetigkeitsstiftungen.pdf zu finden.

22. Literatur

Vorbemerkung: Trotz aller Bemühungen konnte ich zu vielen Zitaten keine oder nur unvollständige Quellen finden. Sie wurden „fliegenden Blättern“ in den „Archiven“ entnommen oder handschriftlichen Notizen der Guttäter bzw. Verwalter der Stiftungen. Nahezu alle Urkunden und anderen handschriftlichen Aufzeichnungen lagen mir nur in alter deutscher Sütterlinschrift vor. Mit Hilfe meiner Mutter habe ich diese lesen gelernt und dann „übersetzt“.

Becker, Winfried, Buchstab, Günter u.a. (Hrsg.): Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland. Paderborn 2002

Contzen, Heinrich: Geschichte der sozialen Frage von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Berlin 1877

Diesterweg, Friedrich Adolph: Der erste Kindergarten in Berlin. Rede zur Eröffnung des Kindergartens im Pestalozzi-Stift in Pankow am 3. August 1851

Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen. Leipzig 1845

Erdberg, Robert von: Die Wohlfahrtspflege – eine sozialwissenschaftliche Studie. Jena 1903

Felde, C.: Die nöthige Reform der Jugenderziehung oder der physische und geistige Untergang der Jugend. Wolfenbüttel 1846

Fölsing, Julius: Die Kleinkinderschulen. Erfurt, Langensalza, Leipzig 1848

Goldschmidt, Henriette: Was ich von Fröbel lernte und lehrte. Leipzig 1909

Grimm, Claus, von Zwehl, Konrad, Müller, Rainer A. (Hrsg.): Aufbruch in das Industriezeitalter, Band 2. München 1985

Holzschuher, August von: Die Materielle Noth der unteren Volksklassen und ihre Ursachen. Augsburg 1850

Jean Paul (Friedrich Richter): Levana. Frankfurt 1807

Klumker, Christian Jasper: Einführung in das Verständnis der Armut und der Armenpflege. Leipzig 1918

Klumker, Christian Jasper: Kinder- und Jugendfürsorge. Pädagogisches Magazin 1923, Heft 802

Krecker, Margot: Quellen zur Geschichte der Vorschulerziehung. Berlin 1983

Liermann, Hans: Kurzbeitrag bei einer Podiumsdiskussion zum Thema: Welche neuen Stiftungen brauchen wir? In: Protokoll der 29. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Dt. Stiftungen und des Verbandes Dt. Wohltätigkeitsstiftungen am 2.-4. Mai 1974 in Trier. Berlin 1974

Mauersberg, Hans: Deutsche Industrie im Zeitgeschehen eines Jahrhunderts. Stuttgart 1966

Montessori, Maria: Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter. Stuttgart 1913

Pankoke, Eckart: Stabilität, Pluralität und Reflexivität sozialer Verbindlichkeit. Heidelberg 1986

Polligkeit, Wilhelm: Die Kriegsnot der aufsichtslosen Kleinkinder. Langensalza 1917

Rousseau, Jean Jacques: Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechts. Leipzig 1758

Schilling, Heinz: Aufbruch und Krise. München 1984

Schnabel, Thomas (Hrsg.): Versorgen – bilden – erziehen. Freiburg 1987

Schorer, Hans: Die Wohltätigkeitsstiftungen im Königreiche Bayern – Mit namentlichem Verzeichnis von 6 500 Wohltätigkeitsstiftungen nebst Angabe von Zweck, Begrenzung, Gründungsjahr, Vermögen. München 1902

Schrader-Breymann, Henriette: Der Volkskindergarten im Pestalozzi-Fröbel-Hause Berlin. Erstes Heft. Berlin, 2. Aufl. 1890

Schrey, Heinz-Horst: Einführung in die Evangelische Sozialethik. Darmstadt 1973

Störle, Johann, Völl, Otto, Völl, Josef: Bayerisches Stiftungsgesetz. München 1979

Weber-Kellermann, Ingeborg: Die Kindheit: Eine Kulturgeschichte. Frankfurt 1979

Wilderspin, Samuel: Über die frühzeitige Erziehung der Kinder der Armen in den englischen Kleinkinderschulen. Wien 1826

Wirth, Johann Georg: Mittheilungen über Kleinkinderbewahranstalten und aus denselben, so wie Kleinkinderschulen und Rettungsanstalten für verwahrloste Kinder. Augsburg 1840



In: Klax International GmbH: Das Kita-Handbuch.

https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/geschichte-der-kinderbetreuung/weitere-historische-beitraege/wohltaetigkeitsstiftungen-zu-kinderbewahranstalten-in-unterfranken-2/