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Zitiervorschlag

IGLU 2017 - Konsequenzen für Grundschule, Kita und Elternarbeit

Martin R. Textor

 

Im Dezember 2017 wurden die Ergebnisse der neuen "Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung" (IGLU 2016) veröffentlicht, an der sich im vorausgegangenen Jahr 47 Staaten und Regionen als reguläre Teilnehmer beteiligt hatten (Hußmann et al. 2017). In Deutschland wurden die Leistungen von 3.959 Schüler/innen aus 208 Grundschulen erfasst. Der erzielte Mittelwert von 537 Punkten war durchschnittlich; er lag etwas unter den Mittelwerten für die EU (540 Punkte) und für die OECD (541 Punkte). In 25 Staaten und Regionen schnitten die Viertklässler/innen besser ab, in 21 schlechter.

Im Vergleich zu IGLU 2001 verschlechterte sich die relative Position Deutschlands erheblich: In vielen Ländern wurden 2016 bessere Ergebnisse als 2001 erzielt, während sie in Deutschland annähernd gleich blieben (539 Punkte im Jahr 2001, 537 Punkte im Jahr 2016). Zudem nahm die Streubreite der Leistungen in den 15 Jahren zu und war so hoch wie in nur wenigen anderen Ländern: Während 11% der Viertklässler/innen 2016 die Kompetenzstufe V erreichten, kamen knapp 6% nicht über die Kompetenzstufe I (rudimentäres Leseverständnis) und 13% nicht über die Kompetenzstufe II hinaus. Nur ein Drittel dieser leseschwachen Schüler/innen erhielt eine besondere schulische Förderung.

Hier spielt sicherlich eine Rolle, dass fast jedes sechste Kind in der vierten Grundschulklasse eine niedrige Lesemotivation aufwies. Auch gaben 17% der Schüler/innen an, (fast) nie außerhalb der Schule zum Vergnügen zu lesen. Doppelt so viele (rund 35%) leihen sich nie oder fast nie Bücher in (Schul-) Bibliotheken aus.

Schülerinnen wiesen mit 543 Punkten einen um 11 Punkte besseren Durchschnittswert als Schüler auf (532 Punkte). Noch besser schnitten Viertklässler/innen aus Familien der dritten Berufsgruppe (Akademiker, Techniker und Führungskräfte) ab: Hier betrug der Unterschied 72 Punkte im Vergleich zu Kindern aus Familien der ersten Berufsgruppe (manuelle Tätigkeiten) und entsprach damit ungefähr eineinhalb Lernjahren. Er lag damit um 20 Punkte höher als der Unterschied bei der Lesekompetenz von Kindern aus nicht armutsgefährdeten Elternhäusern und von armutsgefährdeten Kindern (Differenz von 52 Punkten).

Aber nicht nur Geschlecht und soziale Herkunft wirkten sich auf die Leseleistung aus, sondern auch Familiensprache bzw. Migrationshintergrund: Bei Schüler/innen, die immer oder fast immer zu Hause Deutsch sprechen, betrug die Leistungsdifferenz 40 Punkte im Vergleich zu Viertklässler/innen, die nie oder nur manchmal zu Hause die deutsche Sprache verwenden. Bos und Kolleg/innen (2017) schlüsselten die letztgenannte Gruppe noch weiter auf: "Im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, deren Eltern in Deutschland geboren sind, erzielen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund Leseleistungen, die 24 (ein Elternteil im Ausland geboren) beziehungsweise 49 (beide Elternteile im Ausland geboren) Leistungspunkte geringer ausfallen, ein Unterschied, der einem Lernzuwachs von einem halben beziehungsweise einem ganzen Schuljahr entspricht" (S. 22).

Insbesondere die beiden letzten Absätze zeigen, dass an Grundschulen der Ausgleich geschlechtsspezifischer, sozialer oder durch den Migrationsstatus der Eltern bedingter Leistungsunterschiede auf dem Gebiet des Lesens nicht gelungen ist. Trotz eines sich über vier Jahre erstreckenden gemeinsamen Unterrichts, der bei einigen Schüler/innen durch inklusive und Sprachfördermaßnahmen ergänzt wurde, konnten aus dem Geschlecht, der sozialen Herkunft oder dem Migrationshintergrund resultierende Benachteiligungen nicht kompensiert werden. Damit sind die Bildungschancen - insbesondere hinsichtlich des Besuchs weiterführender Schulen - höchst ungleich. Für das Fünftel der Viertklässler/innen, die nur rudimentär bzw. schlecht lesen können (Kompetenzstufen I und II), dürfte sogar der Erwerb eines Hauptschulabschlusses mit Schwierigkeiten verbunden sein.

So wird in den kommenden Monaten der (politische) Druck auf die Grundschulen zunehmen, die Lesekompetenz verstärkt zu fördern. Die Autor/innen der IGLU-Studie empfehlen z.B. die Schaffung einer schriftreichen Umgebung, mehr Zeit für den Leseunterricht, einen kognitiv anregenden, abwechslungsreichen Unterricht mit ausgeprägter Förderkultur, mehr begleitetes und wiederholtes lautes Lesen, die Förderung reduktiv-organisierender und elaborativer Lesestrategien, den verstärkten Einsatz von Sachtexten im Leseunterricht, individuelle Unterstützungsprogramme für leseschwache Kinder wie Intervallförderung oder Zusatzkurse, mehr Hilfslehrkräfte im Leseunterricht, mehr Fachspezialisten (z.B. Leseexperten, Sprachtherapeuten), gut ausgestattete Schülerbibliotheken sowie den Ausbau inklusiver Maßnahmen, um der zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft besser gerecht werden zu können.

Konsequenzen für Kitas

Ein Teil des Drucks wird von den Grundschulen - und von der Politik - an die Kindertageseinrichtungen weitergegeben werden. So wird man von den sozialpädagogischen Fachkräften eine noch intensivere Förderung von Sprachkompetenzen wie Wortschatz, Artikulation, Grammatik, Sprachverständnis und kommunikative Fähigkeiten einfordern. Beispielsweise könnten Erzieher/innen mehr und längere Gespräche mit einzelnen Kindern oder Kleingruppen führen, bei denen sie ihren Gesprächspartnern aktiv zuhören und sie zu komplexeren Aussagen anregen. Ferner sollten sie viele sprachbezogene Bildungsaktivitäten anbieten und darauf achten, dass es auch während der Freispielzeit zu intensiven Interaktionen z.B. im Rollenspielbereich kommt. Schließlich gilt es, sich noch mehr als Sprachvorbild zu begreifen und entsprechend zu kommunizieren.

Zudem wird von den sozialpädagogischen Fachkräften erwartet werden, dass sie ihre Bemühungen im Bereich der Literacy-Erziehung verstärken. Sie sollen Kleinkindern die Begegnung mit der Buch-, Erzähl- und Schriftkultur ermöglichen sowie deren Interesse an der Schrift und dem Schreiben wecken. In vielen Kitas erschweren jedoch weite Altersmischung oder Gruppenöffnung die Literacy-Erziehung - im erstgenannten Fall, weil gerade auf diesem Gebiet sinnvolle Bildungsaktivitäten wie z.B. dialogorientierte Bilderbuchbetrachtungen, Stuhlkreis, Vorlesen und Erzählen mit dem Alter der Kinder variiert werden müssen (also nur in Kleingruppen ähnlich alter Kinder durchgeführt werden können), im letztgenannten Fall, weil bei freier Wahl von Funktionsräumen Kinder sich solchen Angeboten entziehen können. Wenig sinnvoll wäre laut Valtin (2017) der Einsatz von Trainingsprogrammen zur Förderung der "phonologischen Bewusstheit", da das Konzept "aus linguistischer, fachdidaktischer und lernpsychologischer Sicht fragwürdig" sei und "zudem keine langfristigen Effekte" erziele (S. 319).

Noch mehr Unterstützung als bisher benötigen Kinder aus bildungsfernen Familien und Kinder mit Migrationshintergrund, die Deutsch als Zweitsprache lernen. Hier gilt es, die alltagsintegrierte Sprachförderung zu intensivieren, zumal spezielle Sprachförderprogramme laut mehrerer Studien die Sprachkompetenzen der Kinder nicht nennenswert verbesserten (siehe z.B. Dubowy/ Gold 2017). Dazu gehört beispielsweise, eine sprachanregende Atmosphäre zu schaffen, kommunikative Situationen im Kita-Alltag auszuweiten, mehr handlungsbegleitend zu reden, Sprechfreude aufseiten der Kinder zu stimulieren, die Begriffsbildung und -ausdifferenzierung zu fördern und bei Fehlern vom korrektiven Feedback Gebrauch zu machen. Ferner könnten Fachkräfte vermehrt Fingerspiele, Reime und Lieder einsetzen, Bilder- und Märchenbücher vorlesen sowie Gesprächsrunden und Sprachspiele anbieten.

Aber auch die Kommunalpolitik ist gefragt: Sie muss dafür sorgen, dass bildungsferne Eltern und Eltern mit Migrationshintergrund ihre Kinder so früh wie möglich in Kindertageseinrichtungen anmelden - je jünger die Kinder bei der Aufnahme in die Kita sind (und je länger sie täglich betreut werden), umso effizienter können ihre Sprachkompetenzen verbessert werden bzw. umso leichter werden sie die deutsche Sprache lernen. Zudem zeigten alle IGLU-Studien, dass Kinder, die drei Jahre oder länger eine Kita besuchten, bessere Leseleistungen im vierten Schuljahr aufweisen. Insbesondere durch Hausbesuchsprogramme, wie sie in manchen Kommunen praktiziert werden, könnten entsprechend geschulte Personen Beziehungen zu diesen Eltern aufbauen und ihnen die Bedeutung einer möglichst frühzeitig einsetzenden frühkindlichen Bildung verdeutlichen, aber auch Eltern beraten und die Familienerziehung verbessern.

Die Eltern einbinden

Trotz einer immer früher beginnenden und immer mehr Stunden am Tag umfassenden Kindertagesbetreuung sowie einer alle Kinder gleichermaßen bildenden Grundschule bleibt die "Bildungsmacht" der Familien ungebrochen: Wie die IGLU-Studie 2016 erneut zeigte, entwickeln sich Kinder aus bildungsnahen Familien im kognitiven Bereich immer noch besser als Kinder aus bildungsfernen Familien. Sie wachsen nicht nur in einer (sprachlich) anregungsreicheren Umgebung auf, sondern werden auch intensiver von ihren Eltern gefördert (vgl. Textor 2017).

Auch hinsichtlich der Sprachförderung und Literacy-Erziehung gibt es große Unterschiede zwischen Familien, wie die jährlichen Vorlesestudien zeigen, die von der Stiftung Lesen (2017) gemeinsam mit DIE ZEIT und der Deutschen Bahn Stiftung durchgeführt werden. So lesen 55% der im Jahr 2017 befragten Eltern ihren Kindern in den ersten zwölf Lebensmonaten und 28% innerhalb der ersten drei Lebensjahre nicht regelmäßig vor - obwohl 91% dem Vorlesen einen (sehr) großen Einfluss auf die kindliche Entwicklung zusprechen. 49% der älteren Kinder, denen selten oder nie vorgelesen wird, und immerhin noch 30% der übrigen Kinder wünschen sich, dass ihre Eltern häufiger vorlesen.

Eine ältere Vorlesestudie ergab, dass in 30% der Familien mit Kindern im Alter von zwei bis acht Jahren selten oder gar nicht vorgelesen wird (a.a.O.). Nur 9% der Väter lesen ihren Kindern täglich vor - aber 29% der Mütter. Immer wieder wurde festgestellt, dass gebildete Eltern ihren Kindern häufiger vorlesen als bildungsferne oder zugewanderte Eltern.

Laut einer älteren Vorlesestudie (a.a.O.) fördert das Vorlesen die familiäre Kommunikation: 67% der befragten Eltern mit Kindern zwischen zwei und acht Jahren gaben an, dass das Vorlesen Gespräche über alltägliche Themen oder einschneidende Ereignisse anstößt. So nutzen auch 41% der Eltern ganz gezielt Geschichten, um ihren Kindern beim Verarbeiten schwieriger Situationen zu helfen. Andere Vorlesestudien ergaben, dass das Vorlesen nicht nur die Eltern-Kind-Beziehung stärkt, sondern auch Selbstbewusstsein, Gerechtigkeitssinn, Fantasie, Kreativität und Empathie fördert, zu einer positiven Einstellung zum Lesen führt und das Lesenlernen erleichtert.

Sozialpädagogische Fachkräfte in Kinderkrippen und Kitas können Eltern (und insbesondere Väter) auffordern, schon im ersten Lebensjahr ihrer Kinder mit dem Vorlesen zu beginnen, und damit verbundene Fragen beantworten. So sind sich viele Eltern unsicher, wann der richtige Zeitpunkt ist, um mit dem Vorlesen anzufangen, und welche Bücher für Babys, Ein- und Zweijährige geeignet sind. Es ist ihnen nicht bewusst, dass Kleinstkinder vom Vorlesen profitieren, selbst wenn sie sich noch nicht länger konzentrieren oder gar sprechen können.

Bedenkt man, dass Paare mit Kind(ern) im Jahr 2015 gerade einmal 14 Euro pro Monat für Bücher ausgaben (Statistisches Jahrbuch 2017, S. 176), kann man davon ausgehen, dass es in vielen Haushalten nur wenige Bilder- bzw. Kinderbücher gibt. Dies dürfte vor allem für bildungsferne Familien gelten - die auch eher selten öffentliche Bibliotheken nutzen. Deshalb sollte jede Kita eine "Kinderbücherei" einrichten, in der Eltern Bilder- und Kinderbücher und möglichst auch Musik-CDs, Spiele, DVDs, Spielebücher und Elternratgeber ausleihen können. Aufgrund der zunehmenden Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund sollten darunter Medien in der Muttersprache der Eltern sowie mehrsprachige Materialien sein. Je nach den Gegebenheiten, Bedarfen und Erfahrungen vor Ort kann die Kinderbücherei an jedem Werktag oder nur zu bestimmten Zeiten geöffnet sein und vom Personal, von einzelnen Eltern, dem Elternbeirat oder Ehrenamtlichen betreut werden. Oft reicht auch ein Karteikartensystem, das die Eltern beim Ausleihen von Medien eigenständig nutzen. Die Kinderbücherei kann durch Geld- und Sachspenden immer weiter ausgebaut werden. Falls sie von einer Kita nicht eingerichtet werden kann (z.B. mangels Platz), so könnte zumindest eine Bücherkiste (im Eingangsbereich) aufgestellt werden.

In vielen Kitas sind Eltern, Großeltern oder Ehrenamtliche in die Literacy-Erziehung eingebunden, da sie gelegentlich oder regelmäßig zum Vorlesen in die Einrichtung kommen. Dazu gehören oft auch Personen mit Migrationshintergrund, die in ihrer Muttersprache vorlesen, erzählen oder mit den Kindern singen. Diese Möglichkeiten sollten von allen sozialpädagogischen Fachkräften genutzt werden.

Grundschullehrer/innen sollten Eltern im Rahmen der Elternarbeit auf die Bedeutung des (Vor-) Lesens hinweisen und bei Termingesprächen direkt nachfragen, wie oft und wie lange das jeweilige Kind in seiner Freizeit liest. Ferner könnten sie Eltern auf gute Kinderbücher aufmerksam machen bzw. sie auffordern, ihr Kind zu einer intensiveren Nutzung der Schulbücherei oder einer öffentlichen Bibliothek zu motivieren.

Literatur

Bos, W./Valtin, R./Hußmann, A./Wendt, H./Goy, M.: IGLU 2016: Wichtige Ergebnisse im Überblick. In: Hußmann, A./Wendt, H./Bos, W./Bremerich-Vos, A./Kasper, D./Lankes, E.-M./McElvany, N./Stubbe, T.C./Valtin, R. (Hrsg.): IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster, New York: Waxmann 2017, S. 13-28

Dubowy, M./Gold, A.: Sprachförderung im Elementarbereich: Was - wann - wie fördern? http://www.kindergartenpaedagogik.de/2307.html (12.12.2017)

Hußmann, A./Wendt, H./Bos, W./Bremerich-Vos, A./Kasper, D./Lankes, E.-M./McElvany, N./Stubbe, T.C./Valtin, R. (Hrsg.): IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster, New York: Waxmann 2017

Stiftung Lesen: Vorlesestudie von Stiftung Lesen, DIE ZEIT und Deutsche Bahn Stiftung. https://www.stiftunglesen.de/forschung/forschungsprojekte/vorlesestudie (12.12.2017)

Textor, M.R.: Familie - zentraler Ort der Alltagsbildung. http://www.kindergartenpaedagogik.de/2241.html (12.12.2017)

Valtin, R.: Einordnung der IGLU-2016-Befunde in das europäische Rahmenkonzept für gute Leseförderung. In: Hußmann, A./Wendt, H./Bos, W./Bremerich-Vos, A./Kasper, D./Lankes, E.-M./McElvany, N./Stubbe, T.C./Valtin, R. (Hrsg.): IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster, New York: Waxmann 2017, S. 315-328

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de