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Zitiervorschlag

Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen - Jungen und ihre Bezugspersonen im Sozialisationsprozess

Daniela Wagner

 

Die Identität eines Kindes bildet sich durch die individuelle Auseinandersetzung mit der Umwelt heraus. Die vom Kind mitgebrachten physischen und psychischen Anlagen treffen auf eine Reihe von Sozialisationsinstanzen, die Verhaltensweisen und Normen vermitteln. Aus deren Zusammenwirken bildet sich die Identität heraus. Zu den bedeutsamsten Sozialisationsinstanzen zählen die Familie, die Peergroup sowie Bildungseinrichtungen und Medien.

Die Entwicklung von Geschlechtsidentität bei Kindern

Eine treffende Umschreibung der Herausbildung von Geschlechtsidentität liefert Money (1973, zit. in Mertens 1997, S. 27), der sie als Erleben und Fühlen einer Geschlechtszugehörigkeit in Übereinstimmung mit der subjektiven Selbstwahrnehmung über eine gewisse Zeit hinweg darstellt. Geschlechtsrolle ist demzufolge das zum Ausdruck bringen des eigenen Geschlechts im entsprechenden Austausch und durch Interaktionen mit anderen. Money betrachtet Geschlechtsidentität distanziert von der Geschlechtsrolle, ist Letztere doch stark auf stereotype Verhaltensmerkmale und subtile Beeinflussung der Gesellschaft und deren Normen und Regeln zurückzuführen (Mertens 1997, S. 25).

Die Geschlechtsidentität ist ebenso wie die Identität nicht vorbestimmt und festgelegt, sondern ein immer wieder überprüfter, lebenslang wandelbarer Prozess. Im Bezug auf die Positionierung in einer von Frauen und Männern bewohnten Welt spielt das biologische Geschlecht eine bedeutende, aber nicht die bedeutendste Rolle. Vielmehr wird nach diesem Verständnis die Bildung von Geschlechtsidentität durch äußeren Einflüsse geprägt (vgl. Rendtorff 2011, S. 62). Darunter zählen die Vorstellung und das Vorleben von Geschlecht durch Mutter und Vater sowie soziokulturelle Einflüsse der Gesellschaft (ebd.). Rendtorff verweist hier auf die Psychoanalyse, in der die Ansicht vertreten wird, dass biologisch betrachtet kein "rein" männliches oder weibliches Wesen existiert, da jedes Geschlecht auch einen Teil des anderen in sich trägt. Dennoch gehört jeder Mensch nur einem Geschlecht an. Sich mit diesem auseinanderzusetzen, in welcher Art auch immer, ist ein zentraler Ausgangspunkt für die Bildung von Geschlechtsidentität (ebd., S. 63).

Der Prozess der sich bildenden Geschlechtsidentität wird darüber hinaus von der Umwelt maßgeblich beeinflusst. So erleben Kinder aufgrund ihrer Geschlechts bereits von Geburt an unterschiedliche Verhaltensweisen ihnen gegenüber, die sie wiederum in Interaktionen mit ihrer Umwelt verstärken oder abschwächen und die sie zu einer frühen, wenn auch unbewussten und nicht steuerbaren "Selbstkategorisierung" (Blank-Mathieu 1996, S. 14) veranlassen. Die Reaktionen des Kindes auf die Angebote der Eltern werden überwiegend durch Reize hervorgerufen, die das Interesse des Kindes tangieren oder unberührt lassen. Dennoch beeinflusst auch das Kind durch sein Verhalten den geschlechtsabhängigen Umgang seiner Eltern mit ihm, welcher je nach Ausmaß und aktiver Teilnahme des Kindes zu einer ersten Aneignung von Geschlechtsidentität führt (ebd.).

Mertens (1997) verdeutlicht, dass die von Außen erfolgende Geschlechtszuweisung des Kindes eine Reihe von Erwartungen in diesem auslöst, die in die Entwicklung seines Selbst einfließen. Diese Ansicht wird auch von Ovesey und Person (1973, zit. in Mertens 1997, S. 27) unterstützt. Die durch die Eltern vermittelte Vorstellung von Geschlecht steht im Gegensatz zur Aneignung der Geschlechtsrolle, die sich durch eine kontinuierliche Entwicklung und Dynamik sowie dem subjektiven Erleben des eigenen Geschlechts in Interaktion mit anderen herausbildet.

Schon früh sind Kinder in der Lage, geschlechtsspezifische Unterschiede wahrzunehmen und nach männlich und weiblich zu kategorisieren. Hubrig (2010) liefert hierzu eine Übersicht, zu welchen kognitiven Leistungen Kinder in unterschiedlichen Altersstufen fähig sind. So können sie ab etwa dem dritten Lebensmonat Stimmen und ab dem neunten Monat Gesichter von Frauen und Männern unterscheiden und diese zuordnen (Hubrig 2010, S. 43). Mit Beginn des zweiten Lebensjahrs treffen Kindern eine generelle Unterscheidung zwischen männlich und weiblich und können Verhaltensweisen auf ein Geschlecht zurückführen. Sie selbst sind sich ihrer Geschlechtszugehörigkeit noch nicht bewusst und gebrauchen im Alltag Mann und Frau als Kategorien wie beispielsweise Tier und Spielzeug (ebd., S. 44).

Nach Kohlbergs Ansatz bauen Kinder im Kindergartenalter allmählich ein Geschlechtsbewusstsein auf, wodurch sich ein enormer Entwicklungssprung vollzieht, der eine zunehmend stärker werdende Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht zur Folge hat. Kohlberg stellt dies in fünf Schritten dar, die sich aus der Zuordnung des eigenen Geschlechts und das der anderen, das Wissen um geschlechtsabhängige Attribute (Stereotype), die hohe Bewertung des eigenen Geschlechts und dem Erlangen der Geschlechterkonstanz zusammensetzen (Hubrig 2010, S. 48). Ab einem Alter von etwa drei Jahren bieten stereotype Kleidung oder Verhaltensweisen wie Schminken (Frauen) oder Bart tragen (Männer) Orientierung beim Abgrenzen der Geschlechter. Kinder verfügen über den Drang, ihre entdeckte Geschlechtszugehörigkeit ausleben und demonstrieren zu wollen, sodass sie häufig in für sie geschlechtstypischen Spielsituationen mit gleichgeschlechtlichen Gruppen anzutreffen und im Einhalten entsprechender Verhaltensweisen zu beobachten sind. Mit etwa fünf bis sechs Jahren erlangen sie allmählich die Geschlechterkonstanz, in der sie von der Sicherheit geleitet werden, dass ihr Geschlecht irreversibel ist, auch wenn sie im Spiel die gegengeschlechtliche Rolle annehmen oder sich verkleiden. Zunehmend rücken Informationen des eigenen Geschlechts in den Interessenfokus; Jungen und Mädchen setzten sich häufiger mit geschlechtstypischen Inhalten auseinander, verinnerlichen diese, bringen sie beispielsweise durch Nachahmung zum Ausdruck und formen so kontinuierlich ihr Selbstbild (ebd., S. 46 f.).

Sofern Geschlechtsidentität nicht angeboren sondern ein Bestandteil von Sozialisation ist, kann angenommen werden, dass geschlechtsspezifische Eigenschaften und Verhaltensweisen erlernbar sind und in Abhängigkeit zu dem von Bezugspersonen und anderen Menschen im direkten Umfeld gezeigten geschlechtsspezifischen Verhalten stehen. Dennoch reicht diese Annahme als Erklärung für die Entwicklung von Geschlechtsidentität nicht aus.

Der Einfluss familiärer Bezugspersonen auf die Entwicklung von Jungen

Die im gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte vollzogene Pluralisierung der Lebensformen und die Entstehung neuer Familientypen sorgen für eine Annäherung väterlicher und mütterlicher Pflichten im Familienleben (Keller 2011, S. 76).

Zur Bedeutung von Mutter und Vater

In der symbiotischen Phase ist die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern frei von Widersprüchen und Konflikten, da deren Geschlechter noch keine elementare Rolle spielen und das Kind unter entsprechenden Bedingungen in der Lage ist, zu beiden Elternteilen eine frühe, intensive Bindung aufzubauen. Sobald sich das Kind von der Mutter löst und beginnt, eine Ich-Identität aufzubauen, erkennt es zunehmend Identifikationspotenziale in seinen Eltern im Zusammenhang mit deren Geschlecht. Die Mutter-Tochter- und Vater-Sohn-Beziehung gilt aufgrund der jeweiligen Gleichgeschlechtlichkeit als die am stärksten von Identifikation gekennzeichnete Beziehung im familiären System (Petri 2004, S. 70 f.). Dennoch müssen die Auswirkungen des elterlichen Verhaltens in Bezug auf die Geschlechtsidentität des Kindes immer unter Berücksichtigung "soziokultureller interpersoneller, intrapsychischer und biologischer Dimensionen" (Mertens 1997, S. 37) betrachtet werden.

Gemäß Seiffge-Krenke (2004, zit. in Watzlawik et al., S. 66) sind elterliche Fürsorge und Nähe bedeutsamer als das Geschlecht, die sie übermittelt. Jedes Elternteil besitzt demnach die Fähigkeit, das Verhalten des anderen anzunehmen und in die Erziehung einzubringen, wenn dies erforderlich ist. Jedoch liegt bei alleinerziehenden Müttern eine große Hürde in der Kompensation des fehlenden Vaters, was bei dem Kind ein erhöhtes Risiko der Benachteiligung in den Bereichen der Geschlechtsfindung, schulischen Leistungen und psychosozialen Anpassungsfähigkeit bewirken kann (Watzlawik et al. 2007, S. 66).

Insbesondere für die Entwicklung von Jungen sind sowohl männliche als auch weibliche Anteile in der Erziehung wichtig (Weigand 2012, S. 84). Im Bezug auf die Beziehung zwischen Mutter und Sohn zeigt Weigand (2012) die Besonderheit derselben auf und stellt - mehr noch als in einer Beziehung zwischen Mann und Junge - die geforderte Sensibilität seitens der Mutter in den Fokus. Jungen scheinen außerdem größere Schwierigkeiten als Mädchen damit zu haben, nicht die ungeteilte Liebe der Mutter zu bekommen, da sie ihrerseits auch eine Liebesbeziehung zum Vater hat (Weigand 2012, S. 84).

Der Vater als autoritäre Erziehungsinstanz, die Grenzen setzt, Regeln festlegt und Orientierung bietet, ist für die Herausbildung der Ich-Identität eines Kindes fundamental und bildet den Grundstein für eine gesunde Entwicklung des Jungen (Petri 2004, S. 86; Weigand 2012, S. 86). Die Beziehung zwischen den beiden männlichen Familienmitgliedern ist geprägt von Stolz und starker Verbundenheit aufgrund der Gleichgeschlechtlichkeit. Der Vater sieht in seinem Sohn, stärker noch als die Mutter, einen Teil seines selbst.

Petri (2004) erkennt in diesen Momenten der Identifikation erste, beziehungsaufbauende Basiselemente, die durch ihre Wechselseitigkeit verstärkt werden. In diesem Kontext wird auch von der sogenannten "Dialektik" (Petri 2004, S. 70) zwischen Vater und Sohn gesprochen, die sich aus Identifikation auf der einen und Abgrenzung auf der anderen Seite zusammensetzt. Der Wunsch, dem Vater charakterlich so nah wie möglich, wenn nicht sogar wie er zu sein, steht in einem Spannungsverhältnis zu dem Wunsch nach Eigenständigkeit sowie dem natürlichen Entwicklungsprozess der Reife und dem sich daraus ausbildenden eigenen Willen und Charakter. Dennoch ist diese Dialektik nicht als negativ sondern als entwicklungsfördernd für Jungen zu betrachten (ebd.).

Sind die motorischen Fähigkeiten des Jungen allmählich fortgeschritten und beginnt er zu gehen, zu laufen und zu klettern, fungiert der Vater zunehmend als attraktiver Spielpartner und bietet dem Jungen in zahlreichen Spielsituationen vorbildliche Verhaltensweisen. So zeigt er seinem Sohn, "wie sich destruktive Impulse konstruktiv umwandeln lassen" (Petri 2004, S. 75). Bentheim und Murphy-Witt (2007, zit. in Weigand 2012, S. 59) betonen die Bedeutung des Vaters als männliche Identifikationsfigur für Jungen im Alter von drei bis sechs Jahren und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Geschlechtsidentität. Nicht nur als Identifikationsfigur und Spielpartner übernimmt der Vater eine bedeutende Rolle, sondern er hat auch als natürlicher Antrieb in der Entwicklung seines Kindes einen großen Einfluss. Der Sohn, der zu seinem Vater aufsieht und ihn um seiner Größe, Stärke und Fähigkeiten willen bewundert, wird gleichzeitig in seiner Neugier und Experimentierfreude, seinem Mut und Entdeckungsdrang sowie seinen motorischen Fähigkeiten (heraus-) gefordert. Diese Bewunderung kann jedoch auch in Konkurrenz umschlagen (Seiffge-Krenke 2004, zit. in Watzlawik et al. 2007, S. 67 f.).

Der Vater ist auf der physischen Ebene distanzierter als die Mutter, die mit dem bewussten Lenken kindlicher Verhaltensweisen einen wesentlichen Erziehungsbeitrag leistet. Auf der psychischen Seite wiederum fordert der Vater seinen Sohn heraus, lässt mehr Selbstständigkeit als die Mutter zu und schafft so eine andere, bedeutende Form der Nähe (Watzlawik et al. 2007, S. 41).

Das Stadium, in dem Vater und Sohn sich gegenseitig miteinander identifizieren, ist gekennzeichnet von antithetischen Elementen wie Kleinsein und Größe, Angst und Bewunderung, Nähe und Abgrenzung, Stärke und Schwäche. So versucht der Sohn, seine Ängste zu überwinden, und lehnt sich im Spiel vermehrt gegen seinen Vater auf, was dazu führt, dass er seinen Fokus auf die spielerisch-aggressive Entfaltung seiner Emotionen legt. Der Vater hingegen erkennt im Spiel Potenzial zum Stress- und Aggressionsabbau und trägt seinerseits ebenfalls zu einer Dynamik in dieser Interaktion bei. Das unterschiedliche Nutzen, das beide Teilnehmer aus der Spielsituation für sich ziehen können, macht eben diese zu einem unentbehrlichen Element der Vater-Sohn-Beziehung (Petri 2004, S. 77 f.).

Gemäß Petri (2004) sind es überwiegend die Väter, die Jungen in der Entfaltung ihrer motorischen Fähigkeiten unterstützen und starkes Engagement im Lehren von "männlichen" Kompetenzen wie Klettern, Boxen, Umgang mit Technik und Werkzeug usw. gerade ab dem vierten bis fünften Lebensjahr ihres Sohnes zeigen. Somit profitieren in diesem Alter Söhne mehr als Töchter von ihren Vätern, wobei die Beziehung zwischen den beiden männlichen Figuren eher narzisstisch als ödipal geprägt ist (ebd., S. 78 f., S. 86).

Dennoch lässt sich festhalten, dass trotz der Bedeutung des Vaters und anderer Bezugspersonen die Mutter, sofern sie primäre Bindungsperson in den ersten Lebensmonaten des Kindes ist, den größten Einfluss auf die Sozialisation und Entwicklung des Kindes nimmt (Hopf 2005, S. 86).

Geschwister in der Rolle der Sozialisationspartner

Geschwister haben eine dauerhafte, lebenslange Beziehung zueinander, und eine Blutsverwandtschaft oder zumindest eine gemeinsame Geschichte (Lüscher 1997, S. 20). In Anlehnung an die Erkenntnisse von Havighurst (1963) umschreibt Goetting (1986, zit. in Kasten 2001) die Entwicklungsaufgaben von Geschwistern mit emotionaler Unterstützung, Freundschaft und Kameradschaftlichkeit sowie solidarischem Verhalten zueinander. Brody und Stoneman (1994, zit. in Lüscher 1997, S. 20) fügen hinzu, dass Geschwister als Spielkameraden, Sozialisationspartner, Verbündete in der Familie oder Freundesgruppe und als Lernmodell für wünschenswerte, negative oder positive Verhaltensweisen fungieren.

Geschwister bieten einander durch Imitation, Vorbildfunktion sowie kognitive und soziale Auseinandersetzungen viele Lerngelegenheiten (Lüscher 1997, S. 47 f.). Durch ihre Intimität, Dauer und Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe können Geschwisterbeziehungen intensiver sein als Eltern-Kind-Beziehungen.

Die gegenseitige Beeinflussung unter Geschwistern ist abhängig von äußeren Rahmenbedingungen (soziale und ökonomische Gegebenheiten, Familienkonstellation insbesondere im Hinblick auf Geschlecht und Geschwisterrangfolge, kultureller Hintergrund) und Faktoren innerhalb der Geschwisterbeziehung (Bank/ Kahn 1994, zit. in Lüscher 1997, S. 21). Starke Bindungen unter Geschwistern können negative Konsequenzen wie Abhängigkeit voneinander mit sich ziehen, die unter Umständen durch Vernachlässigung und Gleichgültigkeit der Eltern verstärkt wird (ebd., S. 22).

Frances Schachter (1976, zit. in Lüscher 1997, S. 32) weist auf die Abgrenzung von Geschwistern als Teil des Identifikationsprozesses hin und verdeutlicht, dass sich gleichgeschlechtliche Geschwister mit geringem Altersabstand einerseits stark miteinander identifizieren, andererseits voneinander abgrenzen und andere Wege zu gehen versuchen. Aufgrund unterschiedlicher Begabungen und Interessen wird eine Rollenverteilung vorgenommen, von der es sich zu unterscheiden gilt. Dieser Prozess, der auch als "De-Identifikation" bezeichnet wird, vollzieht sich spätestens im Schulalter und führt nach Bank und Kahn (1994, zit. in Lüscher 1997, S. 32) zu einem Verlust der eigentlichen Identität, da die erzwungene Abgrenzung unter Geschwistern zu einem Verzicht auf individuelle Neigungen und Interessen führt.

Ein weiterer bedeutsamer Faktor im Bezug auf Geschwister als Sozialisationsinstanz ist die Geschwisterrangfolge und das damit einher gehende, konkurrierende Verhalten untereinander (Sulloway 1997, zit. in Bertram/ Bertram 2009, S. 108). Erklärungsversuchen Sulloways zufolge hat die Geschwisterposition innerhalb der Familie entscheidenden Einfluss auf das soziale Handeln sowie den späteren Lebensweg der einzelnen Kinder. Auch die Rivalität untereinander kann Kinder, die sich benachteiligt fühlen, dazu veranlassen, um jeden Preis die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu erkämpfen. Bezogen auf die jeweilige Gestaltung des Lebenswegs stellte Sulloway heraus, dass überwiegend nachgeborene Kinder dazu tendieren, aus familiär-traditionellen Gegebenheiten auszubrechen, einen völlig anderen Lebensweg als ihre Geschwister einzuschlagen und sich unkonventionellen Aufgaben zu widmen. Im Gegenzug dazu orientieren sich Erstgeborene eher an den Einstellungen der Eltern und schlagen folglich einen Lebensweg ein, der an den Wertvorstellungen des Elternhauses festhält (Sulloway 1997, zit. in Bertram/ Bertram, S. 109).

Diverse Konstellationen unter Geschwistern im Bezug auf das Geschlecht können außerdem für die Entwicklung von Jungen eine besondere Bedeutung haben. So steht etwa der ältere Bruder nicht in einem Konkurrenzverhältnis zu seiner jüngeren Schwester und sieht seine Beziehung zu ihr ähnlich wie die zwischen Mutter und Vater. Unabhängig davon, ob die Schwester jünger oder älter ist, befindet sich der Bruder in einer verantwortungsbewussten, führenden Position ihr gegenüber (Toman 2002, S. 18 f.).

Noch mehr zeichnet sich die Neigung zur Führungsübernahme beim ältesten Bruder von Brüdern aus. Die Fürsorge, der Versuch der Bevormundung, der Wunsch nach Anerkennung und Treue sowie seine Besorgnis über die Zukunft seiner Brüder ist nach Toman (2002) kennzeichnend für den ältesten Jungen in dieser Geschwisterkonstellation. Dies spiegelt sich auch in der späteren Berufswahl wider. Häufig sind Männer, die älteste Brüder von Brüdern sind, in Positionen wie Richter, Lehrer, Sozialarbeiter und anderen verantwortungstragenden Berufen anzutreffen. Beim jüngsten Bruder von Brüdern stimmt zwar der Wunsch nach Anerkennung und Wertschätzung mit dem des ältesten Bruder überein, jedoch ist er für die Rolle des Anführenden nicht geeignet. Später entscheidet er sich eher für Berufe in Bereichen wie Musik, Schauspiel oder Kunst.

In diesem Zusammenhang ist auch die Situation des Jungen als Einzelkind zu betrachten. So ist das männliche Einzelkind stärker als andere an den Kontakt mit älteren Personen gewöhnt und verhält sich entsprechend erwachsener. Aufgrund der ungeteilten Aufmerksamkeit und Unterstützung seiner Mitmenschen im direkten Umfeld ist er in der Schule häufig seinen Mitschülern voraus und interessiert sich mehr für Themen, die der Erwachsenenwelt entspringen. Einen besonderen Stellenwert räumt er seinen Freunden ein, wobei er sich mit anderen Einzelkindern oder ältesten Brüdern identifiziert. Ebenso wie jeder andere Junge identifiziert er sich auch mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Hier spielt nach Toman (2002, S. 148 ff.) die väterliche Geschwisterposition und das damit verbundene Erziehungsverhalten dem eigenen Sohn gegenüber eine große Rolle).

Die Relevanz von Bezugspersonen außerhalb der Familie

Im Sozialisationsprozess begegnen Kinder neben ihren primären Bezugspersonen - der Mutter und dem Vater sowie anderen Familienmitgliedern - weiteren Menschen, die sie maßgeblich in ihrer Entwicklung beeinflussen. In der Kinderkrippe oder dem Kindergarten treffen sie wohlmöglich zum ersten Mal auf gleichaltrige und gleichgeschlechtliche Kinder. Insbesondere bei einer Inanspruchnahme von Ganztagsplätzen werden sie von auf Pädagog/innen durch einen Großteil ihrer frühen Kindheit begleitet. Welchen Einfluss diese beiden außerfamiliären Gruppen auf die Entwicklung von Jungen haben wird im Folgenden dargestellt.

Gleichaltrige Freunde und Spielpartner - Einflüsse der Peergroup

Die Bedeutsamkeit der Peergroup im Jugendalter zeigt sich in zahlreichen Beobachtungen und Studien. Andresen und Hurrelmann (2010, S. 122 f.) führen an, dass diese Bedeutung inzwischen auch der Peergroup in der (frühen) Kindheit beigemessen wird, da deren Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung und das Selbstwertgefühl des Kindes vielfältig sind. Das Wohlbefinden eines Kindes im Kindergarten oder in der Grundschule hängt im Wesentlichen davon ab, wie gut es in der Gruppe der Gleichaltrigen integriert und wie ausgeprägt sein Mitbestimmungsrecht innerhalb dieser Gruppe ist (ebd., S. 126).

Welche Bedeutung die Peergroup vor allem für Jungen im Kindergarten hat, erläutert Blank-Mathieu (1996), indem sie die für Jungengruppen charakteristischen, häufig auftretenden Mutproben und Rituale zur Gruppenaufnahme darstellt. Anhand ihrer Umfragen belegt sie, dass Jungen bereits nach wenigen Tagen im Kindergarten wissen, wie sie sich unter anderen Jungen zu verhalten haben (Blank-Mathieu 1996, S. 68). Metz-Göckel (1993, zit. in ebd.) führt weiter aus, dass die Peergroup Unsicherheiten der Jungen beseitigt und ihnen in Form von Mutproben und Wettkämpfen einen Übungsraum für strategische, männliche Verhaltensweisen gibt.

Die sich entwickelnde Eigendynamik in Jungengruppen lässt sich in der Praxis gut beobachten. Innerhalb dieser Konstellation herrscht eine gemeinsame Vorstellung von Männlichkeit in Form von Superhelden und anderen starken Männerfiguren vor, die als Leitbild und Orientierung im Ausleben des Junge-Seins dienen. Des weiteren können Jungen sich in der Gruppe stärker von anderen (Mädchen) abgrenzen, was insbesondere auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität und des eigenen Rollenverständnisses einen großen Einfluss nimmt (Blank-Mathieu 1996, S. 70 f.).

Eine weitere Funktion übt die Peergroup im Bezug auf das eigene Verhalten auf. Hier fungiert sie als "Kontrollinstrument", das zur Überprüfung der eigenen Handlungsweisen dient. Häufig übernimmt in einer Jungengruppe ein Junge die Rolle des Anführers, an dem sich die anderen Jungen orientieren. Imitation, Messen von Kräften und das Einüben von Verhaltensweisen finden hier statt. Die Eigendynamik der Gruppe darf demnach nicht unterschätzt werden, da sie sowohl positive als auch negative Auswirkungen - insbesondere im Hinblick auf die Kanalisierung aggressiver Verhaltensmerkmale - haben kann (ebd., S. 73).

Des Weiteren bewegt sich die Gruppe in Unabhängigkeit zu der Erwachsenenwelt und verfügt über eigene Handlungen und Rituale, die von Außenstehenden nur bedingt kontrollierbar und beeinflussbar sind. Die Teilhabe jedes Einzelnen an gruppeninternen Prozessen und Beziehungen stärkt darüber hinaus das Gefühl der Selbstwirksamkeit und das Selbstwertgefühl (Rabe-Kleberg 2003, S. 87).

Erzieherinnen und Erzieher in der Funktion institutioneller Bezugspersonen

Seit vielen Jahren wird darüber diskutiert, dass die Kinderbetreuung - egal, ob privat oder öffentlich - ein von Frauen dominierter Raum ist. Deshalb wird zunehmend die Forderung nach mehr Männern in Kitas gestellt.

Insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung von Jungen stellt sich die Frage, welche Bedeutung dem Geschlecht der pädagogischen Bezugspersonen beigemessen werden sollte, zumal bislang nur wenige Forschungsergebnisse zu diesem Feld existierten (Rohrmann 2009, S. 51). Rohrmann (2009) verweist auf bindungstheoretische Befunde aus Analysen von Ahnert et al. (2006), aus denen hervorgeht, dass die Bindung zwischen Mädchen und Erzieherinnen besser ist als jene zwischen Erzieherinnen und Jungen. Dies führt zur Annahme, dass Erzieherinnen der Beziehungsaufbau zu Mädchen leichter fällt, weil diese eher ihren geschlechtstypischen Vorstellungen entsprechen (Ahnert et al. 2006, zit. in Rohrmann 2009, S. 52). Weiter fällt es den Pädagoginnen schwer, sich mit den offensichtlich von Mädchen unterscheidenden Interaktionsmustern von Jungen auseinanderzusetzen, da sie sich selbst leichter mit denen ihres eigenen Geschlechts identifizieren und diese besser nachvollziehen können.

So ist es nach Ahnert et al. (2006) nachvollziehbar, dass der Beziehungsaufbau zwischen Jungen und Erzieherinnen durch beide Seiten erschwert ist und Jungen sich folglich in ihre Peergroups zurückziehen. Unter entsprechenden Bedingungen kann innerhalb einer solchen Peergroup eine Eigendynamik entstehen, die die Erzieherin in die Hilflosigkeit treibt und ein vermeidendes Verhalten den Jungen gegenüber auslösen kann (ebd.). Dies unterstreicht auch Blank-Mathieu (2012, S. 103), indem sie aufführt, dass Jungen sich von Erzieherinnen nicht ernsthaft angenommen fühlen und sich innerlich gegen deren Anweisungen wehren, wohingegen sie einen Mann eher als Autoritätsperson akzeptieren und dessen Angebote eher wahrnehmen.

Die Bedeutsamkeit von Männern und Vätern wurde in diesem Artikel bereits dargestellt. Blank-Mathieu (1996) verweist in diesem Zusammenhang auf Belotti, der betont, dass die Anwesenheit eines Mannes im Kindergarten das Bedürfnis nach gemeinsamer Zeit mit dem eigenen Vater befriedigen kann und Kindern das Gefühl vermittelt, etwas Großartiges, Sonderbares und Seltenes zu erleben. Dies kann den Kinder zu einem inneren Gleichgewicht verhelfen (Blank-Mathieu 1996, S. 34).

Im Bezug auf Jungen und ihrer Suche nach männlicher Identität spielt somit der Erzieher eine große Rolle, da er im Kindergarten als Orientierung und Vorbild fungieren kann. Insbesondere Jungen, die in einem weiblich dominierten Umfeld und ohne Vater aufwachsen, kann ein Erzieher dazu verhelfen, den Medien entnommene Rollenklischees abzulegen und ein neues, realitätsnahes Bild von Männlichkeit zu entwickeln.

Bisher können die Auswirkungen von Erziehern auf Jungen (und Mädchen) nicht wissenschaftlich belegt werden. Eine im kleinen Rahmen angelegte Studie aus Brandenburg greift jedoch erste Vermutungen auf. Der im März 2010 veröffentlichte Evaluationsbericht der PädQUIS gGmbh befasst sich in erster Linie mit der Überprüfung der Professionalität von Erziehern, die ihre Ausbildung im Rahmen des Quereinsteigermodells in Brandenburg absolvierten und seitdem in Kindertageseinrichtungen arbeiten (Gralla-Hoffmann et al. 2010). Ein Vergleich der Prozessqualität in den einzelnen Gruppen und teilnehmenden Einrichtungen gab Aufschluss darüber, inwieweit sich die Arbeit und deren Qualität in Abhängigkeit von dem jeweiligen Geschlecht und der Qualifizierung der Fachkräfte voneinander unterscheiden. Die "Caregiver Interaction Scale" (CIS) diente dabei als Instrument zur Messung der Qualität der Erzieher-Kind-Interaktion und des Erzieherverhaltens in den Bereichen Sensitivität, Akzeptanz und Involviertheit (vgl. ebd., S. 13).

Die Studie ist nicht repräsentativ für alle männlichen Angestellten in Kindertageseinrichtungen, da sie sich insbesondere den nach dem Quereinsteigermodell ausgebildet Männern widmet. Dennoch kann sie in Vermutungen und Thesen über die Beziehungsqualität zwischen Männern und Kindern einfließen. Zwar wurden nicht explizit die Auswirkungen von Erziehern auf das Verhalten von Jungen untersucht, doch ergaben die Beobachtungen, dass sich das Interaktionsklima von Erziehern und Erzieherinnen im Umgang mit Kindern nicht signifikant voneinander unterscheidet (Gralla-Hoffmann et al. 2010, S. 19).

Anmerkung

Der Text stammt aus meiner Bachelorthesis mit dem Titel "Der Einfluss von Bezugspersonen unter Berücksichtigung des Geschlechts auf die Identitätsentwicklung von Jungen bis zum Schuleintritt - Eine Frage nach der Notwendigkeit von Männern in der Elementarpädagogik" (Fachhochschule Düsseldorf, Mai 2013) und wurde aktuell überarbeitet.

Literatur

Ahnert, L./Pinquart, M./Lamb, M. E.: Security of Children's Relationships with Non-Parental Care Providers: A Meta-Analysis. Child Development 2006, 77 (3), S. 664-679

Andresen, S./Hurrelmann, K. (Hrsg.): Kindheit. Weinheim: Beltz 2010

Bertram, H./Bertram, B.: Familie, Sozialisation und die Zukunft der Kinder. Opladen: Barbara Budrich Verlag 2009

Blank-Mathieu, M.: Jungen im Kindergarten. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 1996

Blank-Mathieu, M.: Jungen im Kindergarten. In: Matzner, M./Tischner, W. (Hrsg.): Handbuch Jungen-Pädagogik. Weinheim: Beltz 2012, S. 96-108

Gralla-Hoffmann, K./Martins Antunes, F./Stoewer, D./Tietze, W.: Qualifizierung von langzeitarbeitslosen Männern zu Erziehern im Land Brandenburg - Evaluation ihrer pädagogischen Praxis im Berufsfeld. Berlin: PädQUIS 2010. http://www.mbjs.brandenburg.de/media_fast/4113/CB_Bericht20100422_korr.pdf (28.04.2013)

Hubrig, S.: Genderkompetenz in der Sozialpädagogik. Troisdorf: Bildungsverlag Eins 2010

Hopf, C.: Frühe Bindungen und Sozialisation. Eine Einführung. Weinheim: Juventa 2005

Keller, H.: Kinderalltag. Kulturen der Kindheit und ihre Bedeutung für Bindung, Bildung und Erziehung. Berlin: Springer-Verlag 2011

Lüscher, B.: Die Rolle der Geschwister: Chancen und Risiken ihrer Beziehung. Berlin: Edition Marhold im Wissenschaftsverlag Volker Spiess 1997

Mertens, W.: Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 1997

Metz-Göckel, S.: Jungensozialisation oder zur Geschlechterdifferenz aus Perspektive der Jungenforschung. Zeitschrift für Frauenforschung 1993, 11, S. 90-110

Money, J.: Gender Role, Gender Identity, Core Identity: Usage and Definitions of Terms. Journal of the American Academy of Psychoanalysis 1973, 1 (4), S. 397-402

Ovesey, L./Person, E.: Gender Identity and Sexual Psychopathology in Men: A Psychoanalytic Analysis of Homosexuality, Transsexualism, and Transvestism. Journal of the American Academy of Psychoanalysis 1973, 1 (1), S. 53-72

Petri, H.: Väter sind anders. Die Bedeutung der Vaterrolle für den Mann. Freiburg: Kreuz 2004

Rabe-Kleberg, U.: Gender Mainstreaming und Kindergarten. Weinheim: Beltz 2003

Rendtorff, B.: Bildung der Geschlechter. Stuttgart: Kohlhammer 2011

Rohrmann, T.: Gender in Kindertageseinrichtungen. Ein Überblick über den Forschungsstand. München: Deutsches Jugendinstitut 2009

Seiffge-Krenke, I.: Psychotherapie und Entwicklungspsychologie. Beziehungen: Herausforderungen, Ressourcen, Risiken. Berlin: Springer 2004

Toman, W.: Familienkonstellationen. Ihr Einfluss auf den Menschen. München: Beck Verlag 2002

Watzlawik, M./Ständer, N./Mühlhausen, S.: Neue Vaterschaft. Vater-Kind-Beziehung auf Distanz. Münster: Waxmann Verlag 2007

Weigand, I.: Frauen und Jungen. Eine pädagogische Herausforderung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012

Autorin

Daniela Wagner ist Erzieherin und B.A. in Pädagogik der Kindheit und Familienbildung. Ihre Anschrift lautet:

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