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Zitiervorschlag

Familie und Arbeitslosigkeit

Martin R. Textor

 

Generell müssen verschiedene Gruppen von Arbeitslosen und ihren Familien unterschieden werden. So sind die negativen Folgen von Arbeitslosigkeit zum Beispiel besonders groß, wenn beide Ehepartner, der einzige Ernährer der Familie oder ein allein erziehender Elternteil davon betroffen sind, wenn eine besonders große Familie zu versorgen ist oder wenn eine Person länger als ein Jahr ohne Arbeit ist. Die Belastungen sind aber auch für viele junge Familien sehr groß, da sie hohe Ausgaben (insbesondere wenn sie Wohnungseigentum erworben haben) und oft nur geringe Ersparnisse haben.

Arbeitslosigkeit führt fast immer zu einer Verschlechterung der materiellen Situation einer Familie. Dieses ist besonders dann der Fall, wenn kein Anspruch auf Arbeitslosengeld I besteht oder wenn dieses ausläuft und nur noch Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) gezahlt wird. Das verminderte Haushaltseinkommen führt natürlich auch zu Einschränkungen im Familienbudget. So kommt es häufig zu einer Verschlechterung der Ernährung, sind viele Freizeitaktivitäten nicht mehr finanzierbar, kann keine neue Kleidung gekauft werden, werden Anschaffungen verschoben, muss oft auf eine Urlaubsreise verzichtet werden. Sind die materiellen Ressourcen aufgebraucht, werden Schulden gemacht oder ein Teil des Eigentums veräußert. Kann die Familie ihre Wohnung nicht mehr finanzieren, muss sie in eine preiswertere umziehen. Die mit andauernder Arbeitslosigkeit zunehmende Überschuldung und Verarmung können zu sozialem Abstieg und unter Umständen zum Abgleiten in gesellschaftliche Randständigkeit führen.

Psychische und soziale Probleme von Arbeitslosen

Jedoch sind für die meisten Arbeitslosen die finanziellen Probleme leichter zu bewältigen als die psychosozialen Belastungen. So werden sie aus gewohnten Zeitstrukturen herausgerissen, haben keinen Feierabend und kein wirkliches Wochenende mehr (Entrhythmisierung des Tages und der Woche). Zumeist wissen sie nicht, wie sie die ihnen nun zur Verfügung stehende Zeit auf sinnvolle und befriedigende Weise verbringen können. Einige entwickeln neue Hobbys oder nutzen Weiterbildungsmöglichkeiten beziehungsweise Angebote von Kirchen, Verbänden und staatlichen Organisationen. Die meisten wissen aber nicht, wie sie die Zeit verbringen sollen, leiden unter Nichtstun und klagen über Langeweile. In der Regel kommt es zu einem gesteigerten Medienkonsum. Vor allem verheiratete Männer mit einem traditionellen Rollenbild empfinden Arbeitslosigkeit als Zerstörung ihrer Identität als Ernährer ihrer Familie. Sie erleben oft einen Autoritäts- und Bedeutungsverlust als Ehepartner und Elternteil.

Im Verlauf der Arbeitslosigkeit nehmen die Kontakte zu den früheren Kolleg/innen ab. Aber auch manche Bekannten ziehen sich zurück, zumal Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft noch immer vorurteilbehaftet ist und stigmatisiert wird. Damit schwinden die Quellen, aus denen das Selbstwertempfinden der Arbeitslosen gespeist wird, mangelt es zunehmend an sozialer Bestätigung. Andere Außenbeziehungen werden von den Arbeitslosen selbst reduziert, da sie sich wegen ihrer Situation schämen oder mit ihren Freunden nicht mehr mithalten können. Oft konzentrieren sie sich dann auf die eigene Familie, um dort ihre zwischenmenschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Der erhöhte Aufwand an Zeit und Emotionen, den sie ihrem/r Partner/in und ihren Kindern abverlangen, mag diese aber überfordern.

Generell tendieren Arbeitslose dazu, sich überflüssig zu fühlen, einen Mangel an Lebenssinn zu verspüren und ein negatives Selbstbild zu entwickeln. Sie machen sich häufig für ihre Situation verantwortlich und zweifeln an sich selbst. Da sie ihr weiteres Leben nicht mehr planen können, fühlen sie sich hilflos und ihrem Schicksal ausgeliefert. Mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit wird ihre Grundstimmung immer negativer, verlieren sie die Hoffnung auf eine Besserung ihrer Situation, werden sie immer passiver, unzufriedener und verbitterter. Oft werden sie depressiv oder alkoholkrank, wobei Alkoholmissbrauch vielfach mit erhöhter Streitlust, Aggressivität und Gewaltanwendung in der Familie verbunden ist. Auch verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand, sind sie häufiger krank. Anzumerken ist noch, dass die Stärke der beschriebenen psychosozialen Belastungen unter anderem von der Dauer der Arbeitslosigkeit und der subjektiven Einschätzung der eigenen Chancen am Arbeitsmarkt abhängig ist.

Auswirkungen auf das Familiensystem

Die Arbeitslosigkeit eines Elternteils führt auch zu Veränderungen in der Familie. So mag ein arbeitsloser Vater seine Frau im Haushalt oder bei der Kindererziehung entlasten, können seine Kinder für ihn eine neue Bedeutung erlangen (zum Beispiel als Sinn des Lebens). Viele arbeitslose Männer nutzen jedoch ihre freie Zeit nicht für Familientätigkeiten. Oft erleben sie eine Verschiebung familialer Macht hin zur Seite ihrer Frau, insbesondere wenn diese die Ernährung der Familie übernimmt.

Für viele Familienmitglieder bedeutet die ständige Anwesenheit des arbeitslosen Vaters auch eine ungewohnte Kontrolle. Oft reagiert die (nicht erwerbstätige) Partnerin mit Stresssymptomen wie z.B. psychosomatischen Beschwerden, Angst oder Depressivität. Zudem verschlechtert sich häufig die sexuelle Beziehung. Ferner kommt es vielfach zu einer Beeinträchtigung der familialen Kommunikation, zu häufigen Auseinandersetzungen (unter Umständen mit Gewaltanwendung) und zu einer Beeinträchtigung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens aller Familienmitglieder. Ferner nimmt die Scheidungsgefahr zu.

Generell bestimmen die vor Eintritt der Arbeitslosigkeit vorhandene Qualität des Familienlebens und die Anpassungsfähigkeit der Partner weitgehend darüber, ob und wie eine Familie die Arbeitslosigkeit eines Elternteils und deren Folgen bewältigt. Von besonderer Bedeutung ist hier die Bereitschaft zur Veränderung familialer Rollen und Aufgaben. Ist sie gegeben, können sich die Partner bzw. Eltern besser an die neue Situation anpassen und erleben weniger Konflikte.

Außenbeziehungen

In vielen Fällen erleben nicht nur die Arbeitslosen, sondern auch ihre Familienmitglieder eine Reduzierung sozialer Kontakte zu Freunden und Bekannten. Aufgrund ihrer finanziellen Situation können sie sich nur noch selten mit ihnen in Gaststätten und Freizeiteinrichtungen treffen oder sie zu Hause bewirten. Aber auch aus Angst vor Stigmatisierung reduzieren einige Familien ihre Außenkontakte beziehungsweise geraten in soziale Isolation. So entstehen manchmal nach außen hin abgeschottete Familiensysteme mit einem erhöhten Gewaltpotential in der Partnerbeziehung und einem größeren Risiko für Kindeswohlgefährdungen.

Andere Familien können jedoch die Beziehungen zu Freunden und Bekannten (weitgehend) aufrechterhalten oder sogar noch intensivieren. Dies scheint Mittelschichtfamilien häufiger zu gelingen als Unterschichtfamilien. Ferner tritt diese Situation häufiger auf, wenn die Außenbeziehungen der Familie schon vor Eintritt der Arbeitslosigkeit von guter Qualität und belastbar waren. Zudem werden (nicht erwerbstätige) Ehefrauen, deren Mann arbeitslos geworden ist, von manchen Freund/innen als „Opfer“ betrachtet, dem man helfen muss. In den genannten Fällen erfahren die Familienmitglieder also viel soziale und emotionale Unterstützung.

Von besonderer Bedeutung sind auch die Beziehungen zu den Herkunftsfamilien. Diese helfen oft mit Rat und Tat, steuern zum Lebensunterhalt bei und finanzieren besondere Wünsche ihrer Enkel. Mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit lässt aber oft die materielle Unterstützung nach, insbesondere wenn die Herkunftsfamilien selbst nur über begrenzte Ressourcen verfügen. In anderen Fällen – vor allem bei alleinerziehenden Töchtern, die arbeitslos geworden sind – ist das Verständnis der Großeltern für die Problemsituation der Zeugungsfamilie geringer ausgeprägt, reagieren sie oft mit Kritik und Vorwürfen. Dann wird auch weniger finanziell geholfen.

Kindererziehung

Aufgrund der zuvor beschriebenen Umstände sind arbeitslose Eltern für ihre Kinder oft wenig ansprechbar, kommt es häufig zu einer Vernachlässigung der Erziehung. Auch verschlechtern sich vielfach die Beziehungen zwischen den Kindern und dem arbeitslosen Elternteil, insbesondere wenn dieser sich nun minderwertig und in seiner Autorität bedroht fühlt und mit einem autoritativen Erziehungsstil reagiert. Dann kann es zu Entfremdung, zu häufigen Konflikten (insbesondere zwischen Vätern und Söhnen) und sogar zu Kindesmisshandlung kommen.

Insbesondere wenn die Arbeitslosigkeit länger dauert, zeigen viele Eltern immer weniger Interesse an der Schul- und Berufsausbildung ihrer Kinder, motivieren sie weniger und investieren weniger in ihre Bildung als vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Auch stellen sie manchmal den Kontakt zu Kindertageseinrichtungen und Schulen ein. Bei Verhaltens- und Lernstörungen ihrer Kinder zeigen sie wenig Bereitschaft, mit Bildungseinrichtungen und psychosozialen Diensten zusammenzuarbeiten.

In anderen Fällen nutzen arbeitslose Eltern die dazu gewonnene Familienzeit, um sich intensiver mit ihren (Klein-) Kindern zu beschäftigen und viel mit ihnen zu unternehmen (was aber möglichst wenig Geld kosten sollte). In diesen Fällen hat der Elternteil den Verlust seiner Arbeitsstelle in der Regel relativ gut verarbeitet, war die Eltern-Kind-Beziehung zumeist schon vor Eintritt der Arbeitslosigkeit von guter Qualität.

Folgen für die Kinder

Direkt nach dem Verlust des Arbeitsplatzes versuchen die Eltern zumeist, die materielle Situation ihrer Kinder unverändert zu lassen. Mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit müssen diese dann aber oft Abstriche beim Taschengeld hinnehmen oder auf dieses ganz verzichten. Sie dürfen nicht mehr zu Kindergeburtstagsfeiern, auf Klassenfahrt, ins Kino oder in die Disco. Auch können sie hinsichtlich Kleidung und Freizeitausgaben nicht mit Gleichaltrigen mithalten, was vor allem in der Pubertät ein Problem sein kann. Oft schämen sie sich ihrer Eltern und fürchten den Spott ihrer Klassenkamerad/innen.

Mit der Zeit büßen viele Kinder das Gefühl der Geborgenheit ein, entwickeln immer stärker werdende Ängste vor der Zukunft und resignieren zunehmend. Bei einigen Kindern kommt es zu einem Anstieg der Leistungsmotivation, zu einer Verbesserung der häuslichen Lernvoraussetzungen und einer Leistungssteigerung. Zumeist werden aber ein Motivationszerfall, ein sich verschlechternder mündlicher Sprachgebrauch und ein Rückgang der Schulleistungen festgestellt, wobei letzterer bei Mädchen stärker ausgeprägt ist. Auch wechseln Kinder arbeitsloser Eltern seltener an weiterführende Schulen.

Werden die Familienverhältnisse als sehr belastend erlebt, zeigt sich das Leiden der Kinder häufig in psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, in psychosomatischen Erkrankungen, Bettnässen, Schlafstörungen, Stottern, Aggressivität, Konzentrationsstörungen, Suchtmittelmissbrauch usw. Da ihnen oft eine größere Selbständigkeit eingeräumt wird, lösen sie sich vielfach schon früh von ihrer Herkunftsfamilie ab. Wenn sich die Familiensituation aufgrund der Arbeitslosigkeit sehr verschlechtert hat, flüchten aber auch viele Heranwachsende aus ihrer Familie. Generell reagieren Mädchen stärker auf die Arbeitslosigkeit ihrer Eltern als Jungen.

Anmerkung

Dieser Artikel wurde mehrmals überarbeitet und ergänzt.

Literatur

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Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de