Zitiervorschlag

Familien mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen

Martin R. Textor


In vielen Familien erleben Eltern Schwierigkeiten mit ihren Kindern. Relativ oft nennen sie Erziehungsprobleme wie häufigen Ungehorsam, Unordnung, Trotz, Eigensinn, Widerstand zum Zeitpunkt des Zubettgehens, zu großen Fernsehkonsum, Lärm, Streit, unordentliche Ausführung der Hausaufgaben, Genuss von zu viel Süßigkeiten und Schwierigkeiten beim Aufstehen - in dieser Reihenfolge (Institut für Demoskopie Allensbach 1983). Vielfach wird auch kritisiert, dass die Kinder zu wenig Geduld haben, sich nur schlecht konzentrieren können, unruhig und nervös sind, schlecht schlafen, wenig Appetit haben und empfindlich sind.

Nach verschiedenen Untersuchungen werden heute zwischen 20 und 25% aller Kindergarten- und Schulkinder als verhaltensauffällig oder psychisch gestört eingestuft; mindestens 5% sind behandlungsbedürftig. Auffällige Verhalten ist festzustellen:

Bei Jugendlichen können auch Gewalttätigkeit, Zerstörungswut, Alkoholmissbrauch, Drogensucht, die Mitgliedschaft in Jugendsekten oder Abweichungen im Sexualverhalten zum Problem werden. Ferner sind vielfach extrem passive, sehr schüchterne oder übermäßig konformistische Kinder hilfsbedürftig - was oft nicht erkannt wird, da solche Symptome nicht die Aufmerksamkeit von Erwachsenen auf sich lenken.

Da die Entwicklung eines Kindes zu einem großen Teil von den individuellen Merkmalen der anderen Familienmitglieder, ihren Beziehungen und der Familie als Ganzem bestimmt wird, müssen derartige Faktoren auch bei der Untersuchung der Ursachen von psychischen Problemen und Verhaltensstörungen in Erwägung gezogen werden. Im nachfolgenden soll der Schwerpunkt auf solche interpersonale und familiale Entstehungsgründe gelegt werden. Damit wird jedoch nicht bestritten, dass auch manche Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten auch im Kind selbst liegen können. So spielen in vielen Fällen somatische Faktoren wie Erbanlagen, Dispositionen, Behinderungen, Geburtsschäden, langwierige Krankheiten, Mangel an Antriebskraft, Hyperaktivität und Überempfindlichkeit eine große Rolle. Aber auch intrapsychische Konflikte sind von Bedeutung, bei denen zum Beispiel Bestrebungen des Kindes auf verinnerlichte Verbote treffen und abgewehrt werden. Ferner können Kinder aufgrund von Traumata unter großen Ängsten leiden, sich wegen negativer Erfahrungen abkapseln, unter Wahrnehmungsstörungen leiden oder aufgrund fehlender Kontakte zu Gleichaltrigen zu wenig soziale Fertigkeiten besitzen.

Viele Kinder erlernen auffällige Verhaltensweisen in ihren Familien, indem sie andere Mitglieder unbewusst nachahmen. Häufig versuchen sie auch, durch derartige Reaktionen die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen - insbesondere wenn ihnen dieses durch ein sozial akzeptiertes Verhalten nicht gelingt, wenn sie also zum Beispiel vernachlässigt werden oder aufgrund von extrem hohen Erwartungen nur selten ein Lob erhalten. Die Reaktionen der anderen Familienmitglieder, egal ob es sich dabei um Strafen, Verärgerung, Angst oder Sorge handelt, werden dann als Selbstbestätigung und Zeichen von Anteilnahme und Interesse gedeutet. Sie wirken also als positive Verstärker, erhöhen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Verhaltensauffälligkeiten und führen zu ihrer Verfestigung. Schließlich verhalten sich die Kinder auch außerhalb der Familie auffällig - insbesondere wenn dort ihr Verhalten ebenfalls positiv verstärkt wird, sie sich also zum Beispiel aufgrund ihrer Aggressivität eine führende Position in der Schulklasse erkämpfen können und von ihren Mitschülern bewundert werden.

Häufig sind in Familien, in denen Kinder verhaltensauffällig werden, auch andere Personen mehr oder minder stark gestört - sie leiden ebenfalls unter pathogenen Familienprozessen und -strukturen. So werden in diesen Fällen oft Kommunikationsstörungen und ungewöhnliche Interaktionsmuster festgestellt. Unter diesen Umständen lernen Kinder nicht, sich klar und deutlich auszudrücken, Gedanken und Gefühle auf angemessene Weise zu äußern, richtig zuzuhören oder den Sinn unverstandener Botschaften mit Hilfe von Rückfragen zu ermitteln. Häufig erleben sie, dass ihre Mitteilungen ignoriert oder disqualifiziert werden.

In anderen Fällen kommt es zu Konflikten mit den Eltern, die durch ihr Bestreben nach Individuation und Selbständigkeit, die Ablösungsproblematik, verschiedene Wertsysteme, unterschiedliche Vorbilder und viele andere Gründe hervorgerufen werden. Diese können sich negativ auswirken, wenn die Kinder hart bestraft oder ausgestoßen werden, wenn sie sich ungeliebt fühlen und ein negatives Selbstbild entwickeln. Manchmal ziehen sie sich zurück, kapseln sich ab und distanzieren sich von ihren Eltern. In anderen Fällen werden sie aggressiv und feindselig. Sie können aber auch die Konflikte verinnerlichen, die sich dann in Symptomen äußern.

Häufig leiden Kinder unter den Ehekonflikten ihrer Eltern, werden in sie hineingezogen und erhalten bestimmte Rollen zugeschrieben. So fungieren sie zum Beispiel bei Auseinandersetzungen als Schiedsrichter, Vermittler oder Bundesgenosse oder wirken nach einem Streit als Botschafter, der negative Bemerkungen, Informationen über Gefühle oder Friedensangebote überbringen muss. In allen diesen Fällen werden die Grenzen zwischen der Ehedyade und den Kindern überschritten, werden letzteren Aufgaben zugewiesen, die ihrem Alter und ihrer Position nicht entsprechen. So glauben die Kinder oft, dass sie die Familie zusammenhalten, und halten sich für mächtiger, klüger und stärker, als sie sind. Bei häufigen Ehekonflikten und zunehmender Entfremdung der Gatten wird Kindern vielfach auch die Rolle eines Ersatzpartners zugeschrieben, der die emotionalen Bedürfnisse eines Elternteils befriedigen, ihm Trost spenden und als verständnisvoller Gesprächspartner dienen soll. Manchmal wird diese Beziehung so eng, dass sie zum Inzest führt, oder die Angst vor demselben wird so groß, dass körperliche Berührungen nicht mehr zugelassen werden und die Kinder starke sexuelle Hemmungen entwickeln. In diesen Fällen werden die Kinder an einen Elternteil gekettet und verlieren den anderen. Es kann sich negativ auf die Entwicklung der Geschlechtsidentität auswirken, wenn der verbündete Elternteil gegengeschlechtlich ist und die Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen unmöglich macht.

Wenn die Ehepartner aufgrund ihrer Konflikte oder aus anderen Gründen nicht mehr ihren familialen Aufgaben nachkommen, kann auch ein Kind parentifiziert werden: Es verzichtet auf altersgemäße Aktivitäten und Entwicklungsbedingungen, um die Führung der Familie und die Erziehung seiner Geschwister zu übernehmen. In anderen Fällen werden Kinder für die Familienprobleme verantwortlich gemacht und zum Sündenbock erklärt. Dazu kann es aber auch kommen, wenn die Eltern Spannungen aus ihrem Arbeitsverhältnis abreagieren wollen, sich durch individuelle Charakteristika oder Ablösungsbestrebungen der Kinder bedroht fühlen oder in sie verpönte Bestrebungen, Gefühle und Gedanken hineinprojizieren und sie deswegen stellvertretend bestrafen. Sie benutzen den Sündenbock als Ventil für Aggressionen, vermeiden durch die Rollenzuschreibung die Auseinandersetzung mit ihren Problemen und stabilisieren auf diese Weise ihre Persönlichkeit und ihre Beziehungen. Der Sündenbock entwickelt hingegen negative Gefühle, wird in seiner Individuation behindert und wird oft verhaltensauffällig.

Manche Kinder entwickeln auch Symptome, um die Ehe ihrer Eltern zu retten. So setzen sie diese ein, um die Aufmerksamkeit der Eltern während einer heftigen Auseinandersetzung auf sich zu ziehen und sie von dem Ehekonflikt abzulenken. Ähnlich wie verhaltensgestörte Sündenböcke zwingen sie ihre Eltern, sich mit ihren Symptomen und ihrer Behandlung zu beschäftigen. Beide werden zur Zusammenarbeit gezwungen, da sie nur so das Verhalten ihrer Kinder kontrollieren und die von ihnen außerhalb der Familie erzeugten Schwierigkeiten bewältigen können. In all diesen Fällen gewinnen die Kinder eine große Macht, da sie im Mittelpunkt des Familienlebens stehen, Schuldgefühle und Ängste hervorrufen und auf diese Weise die Eltern zu bestimmten Reaktionen zwingen können. Zudem erfahren sie einen sekundären Krankheitsgewinn, da die Eltern sich immer mehr um sie bemühen, sich für sie aufopfern oder sie von bestimmten Pflichten entbinden.

Kindern werden aber auch pathogen wirkende Rollen unabhängig von Eheproblemen zugewiesen. So wird zum Beispiel schon bei ihrer Geburt erwartet, dass sie später Arzt, Priester, Künstler oder Filmstar werden. Viele werden in Rollen wie die des Genies oder Dummkopfes, des "hässlichen Entleins" oder der berauschenden Schönheit, des "schwarzen Schafes" oder des Helden hineingedrängt. Richter (1969) verweist noch auf folgende Rollenzuschreibungen: "Unter Anlehnung an die von S. Freud angegebene Einteilung menschlicher Partnerbeziehungen ('Objektwahlen'') lassen sich beschreiben: die Rollen des Kindes als Substitut für eine Elternfigur, für einen Gatten oder eine Geschwisterfigur, als Abbild des elterlichen Selbst, als Substitut des idealen oder des negativen Aspekts des elterlichen Selbst und als umstrittener Bundesgenosse. In jeder dieser Rollen stecken zugleich Merkmale der normalen Eltern-Kind-Beziehung. Aber je einseitiger und enger die Eltern dem Kind die jeweilige Rolle in ihrer teils bewussten, teils unbewussten Einstellung vorschreiben, umso mehr erhöht sich die Belastung für das Kind, umso eher gerät es in die Gefahr einer neurotischen Erkrankung" (S. 17). In all diesen Fällen stehen die Kinder unter dem Druck, die zumeist unbewussten Erwartungen ihrer Eltern erfüllen zu müssen. Sie erleben, dass ihre Eigenarten, Bedürfnisse und Wünsche ignoriert werden, dass sie bei ihren Bestrebungen nach Individuation und Selbstverwirklichung sehr schnell an Grenzen stoßen.

Ferner wirken sich oft "Delegationen" (Stierlin 1976, 1977) negativ aus. So werden Kinder häufig mit der Mission betraut, für ihre Eltern bestimmte Aufgaben auf der Es-Ebene (zum Beispiel Ersatzbefriedigung unterdrückter Triebimpulse), Ich-Ebene (Bewältigung von Schwierigkeiten, an denen die Eltern scheiterten) oder Überich-Ebene (zum Beispiel Sühnung "böser" Taten) zu erfüllen. Diese Aufträge werden zumeist schon recht früh übermittelt - lange bevor dann die Kinder als Delegierte fortgeschickt werden, aber über ein Loyalitätsband mit ihren Eltern verknüpft bleiben. Problematisch ist, wenn die Aufträge die Kinder überfordern, im Widerspruch zueinander stehen oder gegen ein Elternteil gerichtet sind. Wie bei der Rollenzuschreibung werden auch hier die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder eingeschränkt, werden sie mit bestimmten Aufgaben belastet.

Viele Kinder entwickeln Symptome, weil sie in symbiotischen Beziehungen mit ihren Eltern "gefangen" sind. Derartige Beziehungen entstehen vor allem dann, wenn zwischen den Eltern eine "emotionale Scheidung" stattgefunden hat und sie sich nun ihren Kindern zuwenden, sie zu Ersatzpartnern machen und von ihnen die Zuneigung, das Verständnis und die Aufmerksamkeit verlangen, die ihnen ihr Ehegatte vorenthält. Oft spielen aber auch Abhängigkeitsbedürfnisse, das Gefühl der eigenen Unvollständigkeit oder Angst vor der Leere nach der Ablösung der Kinder eine Rolle. Ähnliche unbewusste Bestrebungen liegen "Bindungen" (Stierlin) zugrunde, die auf der Es- (zum Beispiel Verwöhnung), Ich- (Mystifikation) und Überich-Ebene (Gefühl der Verschuldung gegenüber den Eltern) erfolgen können. Eine andere Situation entsteht bei Projektionen, bei denen ein Elternteil Persönlichkeitssegmente, Triebimpulse oder Aspekte intrapsychischer Konflikte unbewusst in ein Kind verschiebt. So mag zum Beispiel ein Vater seine aggressiven Impulse in seinen Sohn hineinprojizieren, der dann diese ausagiert und bestraft wird. Auf diese Weise werden sowohl die aggressiven Bestrebungen des Vaters als auch sein Strafbedürfnis befriedigt.

Ferner kommt es vielfach zur Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten, wenn die Eltern fortwährend zwischen Phasen der Verwicklung und Symbiose auf der einen und Phasen der Distanziertheit auf der anderen Seite wechseln. Dann sind die Kinder verwirrt und entwickeln keine Verhaltensmaßstäbe. Ähnliches gilt für den Fall, dass sich die Eltern nicht auf Regeln für das Verhalten ihrer Kinder einigen können. Ferner wirkt sich negativ aus, wenn Regeln unklar sind, dem Alter der Kinder nicht angemessen sind, nicht an deren Entwicklung angepasst werden oder nicht durchgesetzt werden. Extreme Regeln, übertriebene Familienwerte und Mythen können zum Problem werden, wenn sie das Verhalten der Kinder übermäßig einschränken und in großem Gegensatz zu den Normen des sozialen Umfeldes stehen.

Selbstverständlich wird auch die Entwicklung von Kindern geschädigt, wenn die Eltern ihrer erzieherischen Funktion nicht nachkommen. So erfüllen manche Männer ihre väterlichen Pflichten nicht, weil sie zu sehr durch den Beruf beansprucht werden oder Pflege und Erziehung entsprechend dem traditionellen Geschlechtsrollenleitbild ihren Partnerinnen als Aufgabe zuweisen. Einige Frauen lehnen den Lebensstil einer jungen Mutter ab, bleiben vollerwerbstätig und überlassen die Versorgung ihrer Kinder einer wechselnden Zahl von Betreuungspersonen - was unter Umständen zu Deprivationserscheinungen führen kann. Geben sie hingegen ihren Beruf auf, so machen manche ihre Kinder für den Verlust an Kontakten und Befriedigungen verantwortlich und lehnen sie ab.

Manchmal fehlen Müttern auch die für die Pflege und Erziehung ihrer Kinder notwendigen Fertigkeiten, da sie zuvor keine Erfahrungen im Umgang mit kleinen Kindern sammeln konnten. So mögen sie ihre Kinder vorzeitig entwöhnen, zu früh mit den Anforderungen der Reinlichkeitserziehung konfrontieren, dabei zu streng und ungeduldig vorgehen, den Willen der Kinder in der Trotzphase zu brechen versuchen oder ihnen dann keine Grenzen setzen. Manche erschweren die Ablösung der Kinder, indem sie sie zum Beispiel nicht mit anderen Kindern in Kontakt bringen und zu wenig an die Betreuung durch Dritte gewöhnen. Dann können der Eintritt in den Kindergarten oder die Einschulung zu Krisen werden. Die Ablösungsproblematik wird später wieder in der Pubertät aktuell und kann mit Machtkämpfen und Konflikten verbunden sein, wenn die Kinder von ihren Eltern nicht "losgelassen" werden.

Häufig kommt es auch zur Ausbildung von Verhaltensauffälligkeiten, wenn die Eltern einen der folgenden Erziehungsstile praktizieren:

In all diesen Fällen werden den Kindern keine optimalen Entwicklungsbedingungen geboten. Sie fühlen sich abgelehnt und ungeliebt (bei Vernachlässigung), entwickeln keine Leistungsbereitschaft und kein Selbstvertrauen (bei Verwöhnung), bleiben von ihren Eltern abhängig (bei Überbehütung), werden in ihrer Individuation behindert (autoritäre Erziehung), lernen keine Selbstkontrolle (antiautoritäre Erziehung) oder sind orientierungslos (inkonsistente Erziehung).

Oft machen Eltern auch bei der Geschlechtserziehung Fehler. So mögen sie die Neugierde ihrer Kinder hinsichtlich der Geschlechtsunterschiede unterdrücken und sie bei Masturbation streng bestrafen. Manchmal lehnen sie körperliche Zärtlichkeiten und Liebkosungen ab. In anderen, recht seltenen Fällen überschütten sie ihre Kinder mit Informationen über Sexualität, schicken sie bei Geschlechtsverkehr nicht aus dem Schlafzimmer oder stimulieren verfrüht sexuelle Bedürfnisse. Vielfach haben Kinder aber auch Schwierigkeiten bei der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität, wenn ein Rollenmodell (zum Beispiel wegen mangelndem Kontakt) ausfällt, die (Geschlechts-)Beziehung ihrer Eltern gestört ist oder extreme Geschlechtsrollenleitbilder vertreten werden.

Sind Kinder den beschriebenen Einflüssen ausgesetzt, werden sie oft psychisch krank und verhaltensauffällig. Ihre Symptome sind dann verständliche und sinnvolle Reaktionen auf eine gestörte Umwelt. Sie sind eine Funktion zwischenmenschlicher Beziehungen und können nur im Kontext des Familienlebens verstanden werden. Zudem gewinnen die Kinder durch ihre Symptome eine gewisse Machtposition, werden diese von ihren Eltern (und anderen Personen) durch Aufmerksamkeit, Fürsorge, Unterstützung usw. verstärkt. Zugleich signalisieren die Kinder aber auch durch ihre Symptome, dass sie leiden, dass ihre Familienverhältnisse gestört sind und dass sowohl sie als auch andere Familienmitglieder hilfsbedürftig sind.

Viele Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen liegen aber auch außerhalb der Familie. So ist für Kinder sehr belastend, wenn sie keine gleichaltrigen Freunde haben oder in Gruppen keine Beachtung finden. Dann fühlen sie sich einsam, ziehen sich immer mehr zurück und entwickeln ein negatives Selbstbild. In anderen Fällen versuchen sie, durch auffällige Verhaltensweisen (Gewalt, Clownerei, sexuelle Aktivität usw.) die Aufmerksamkeit der Gleichaltrigen auf sich zu ziehen und ihre Position in der Gruppe zu verbessern. Jedoch kann es sich auch negativ auswirken, wenn Jugendliche zu enge Beziehungen zu Gleichaltrigen eingehen, sich deren Einfluss unterwerfen und dadurch in ihrem Prozess der Selbstdifferenzierung gehemmt werden. Bestimmte Subkulturen wie Jugendsekten oder extreme politische Gruppierungen können sie zudem ihrer Familie und der Gesellschaft entfremden.

Andere Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten können im Schulsystem liegen. So leiden viele Kinder und Jugendliche unter Konflikten mit Lehrern und Klassenkameraden, unter Schulstress, Über- oder Unterforderung, Schulversagen und Schulangst. Diese Probleme wirken sich auch auf das Familienleben aus und können die Eltern-Kind-Beziehung stark belasten, insbesondere wenn die Eltern ihre Kinder für Schulschwierigkeiten verantwortlich machen, sie nicht verstehen und ihnen nicht helfen. Sie können ferner dadurch verschärft werden, dass Eltern und Lehrer nicht miteinander reden, einander wechselseitig für die Probleme verantwortlich machen und gegeneinander arbeiten.

Vielfach wirkt sich auch negativ aus, dass das Bildungssystem Kinder und Jugendliche aus der Gesellschaft ausgrenzt und ihnen ein in vielerlei Hinsicht problematisches Bild von ihr vermittelt. Viele junge Menschen haben Angst vor der Welt der Erwachsenen, die sie als inhuman, fremd und abschreckend sowie durch atomare Vernichtung und Umweltverschmutzung als bedroht erleben. Dementsprechend nehmen sie eine kritische Haltung gegenüber dem Staat und seinen Institutionen ein. Oft leiden sie unter Konflikten zwischen ihren hohen Ansprüchen an sich selbst und ihren mangelnden Fähigkeiten, zwischen gesellschaftlich dominanten Werten und ihren individuellen Bedürfnissen, zwischen ihren Idealen und der Realität. Manche integrieren sich nicht in die Gesellschaft, rebellieren gegen sie und experimentieren mit neuen Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens. Andere fürchten den Eintritt in das Berufsleben und die Welt der Erwachsenen so sehr, dass sie ihn immer weiter aufschieben. Sie wollen sich dem Wettbewerb nicht stellen und keine Verpflichtungen übernehmen.

Aber auch manche Eltern erleben die Arbeitswelt als belastend und tragen Probleme aus ihr in die Familie hinein. Manchmal benutzen sie dann ihre Kinder als Sündenböcke und reagieren die im Beruf angesammelten Spannungen an ihnen ab. Viele Eltern kommen erschöpft, gestresst oder frustriert nach Hause und wollen daheim in erster Linie entspannen und sich regenerieren. So wollen sie von ihren Kindern nicht gestört werden, kümmern sich nur wenig um sie und reagieren oft überreizt und vorschnell. Auch erfolgsorientierte Eltern, die oft Überstunden machen oder Arbeit mit nach Hause nehmen, haben häufig nur wenig Zeit für ihre Kinder. Sie stellen zudem vielfach zu hohe Anforderungen an sie oder behandeln sie sogar wie Untergebene - wobei sie jedoch vor allem bei Jugendlichen auf Ablehnung, Widerstand oder offene Rebellion stoßen.

Literatur

Bundesregierung: Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland - Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung. Drucksache 7/4200. Bonn 1975

Institut für Demoskopie Allensbach: Die Situation der Frau in Baden-Württemberg. Eine Repräsentativuntersuchung unter Frauen, ihren Partnern und Kindern über die Situation der Frau im Spannungsfeld von Beruf und Familie. Stuttgart 1983

Richter, H. E.: Eltern, Kind und Neurose. Psychoanalyse der kindlichen Rolle. Reinbek 1969

Satir, V.: Conjoint family therapy: A guide to theory and technique. Revised edition. Palo Alto 1967

Satir, V.: Selbstwert und Kommunikation. Familientherapie für Berater und zur Selbsthilfe. München 1975

Stierlin, H.: "Rolle" und "Auftrag" in der Familientheorie und -therapie. Familiendynamik 1976, 1, S. 36-59

Stierlin, H.: Perspektiven der Familientheorie und -therapie. Medizin, Mensch, Gesellschaft 1977, 2, S. 188-193

Textor, M. R.: Erklärungsmodelle und Behandlungsansätze für Verhaltensstörungen und psychische Probleme. Die Notwendigkeit der Integration. Soziale Arbeit 1988, 37, S. 129-134, https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/kinder-mit-besonderen-beduerfnissen-integration-vernetzung/verhaltensauffaellige-kinder/33/

Textor, M. R.: Familien - Lebenslagen von "Problemkindern". In: Textor, M. R. (Hrsg.): Problemkinder? Auffällige Kinder in Kindergarten und Hort. Weinheim, Basel 1996, S. 12-21, https://www.ipzf.de/lebenslagen-problemkinder.html

Textor, M. R.: Schulische Lern- und Verhaltensstörungen. Die Einbeziehung der Familie in die Behandlung. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 1989, 3, S. 229-237, https://www.ipzf.de/stoerungen.html

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de



In: Klax International GmbH: Das Kita-Handbuch.

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