×

Zitiervorschlag

Gehirnentwicklung im Kleinkindalter - Konsequenzen für die frühkindliche Bildung

Martin R. Textor

 

In den letzten Jahren hat die Hirnforschung große Fortschritte gemacht und eine Unmenge neuer Erkenntnisse über das Gehirn, seine Struktur und die in ihm ablaufenden Prozesse gesammelt. Auch gelingt es ihr, die Gehirnentwicklung immer besser zu verstehen.

Diese Forschungsergebnisse sind auch für Erzieher/innen von großer Bedeutung, da sie ihnen helfen, Lern- und Bildungsprozesse besser zu verstehen und effektiver zu gestalten. So sollen in diesem Artikel relevante Erkenntnisse der Hirnforschung zusammengefasst und Implikationen für die frühkindliche Bildung herausgearbeitet werden.

Das Gehirn

Das Gehirn hat ein mittleres Gewicht von 1.245 g bei Frauen und von 1.375 g bei Männern. Den meisten Platz nimmt das Großhirn ein, das aus zwei Hälften (Hemisphären) besteht, die durch den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden sind. In der linken Hirnhälfte sind z.B. Sprache, Denkprozesse, Mathematik und Logik verankert, in der rechten Hemisphäre visuell-räumliche Wahrnehmung, Gefühle, Kreativität, Fantasie, Kunst und Musik. Männer mögen wohl mehr Gehirnmasse haben, nutzen aber verstärkt nur die linke Gehirnhälfte - Frauen setzen hingegen beide Hemisphären gleichmäßiger ein.

Das Großhirn wird in mehrere Hirnlappen (Lobi) unterteilt:

  1. Der Stirnlappen umfasst etwa 25% der Gehirnmasse. Er ist zuständig für die Kontrolle der Motorik inklusive des Sprechens. Auch findet hier die grammatikalische Verarbeitung der Sprache statt (Broca Areal). Der Stirnlappen "enthält" das Bewusstsein; in ihm werden Gedanken, Gefühle und Stimmungen wahrgenommen. Ferner laufen im Stirnlappen kognitive Prozesse wie Konzentrieren, Denken, Planen, Urteilen und Entscheiden ab; hier befindet sich das Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis. Außerdem ist der Stirnlappen Sitz des Willens und der Persönlichkeit. Von hier aus wird das eigene (Sozial-) Verhalten anhand moralischer Grundsätze und Gewissensentscheidungen oder aufgrund von Empathie und anderen Gefühlen reguliert; Selbstbeherrschung wird ermöglicht.
  2. Der Scheitellappen ist zuständig für selektive Aufmerksamkeit, die Integration sensorischer Informationen, die räumliche Orientierung und die visuelle Steuerung von Bewegungen. Hier haben räumliches Denken, Geometrie, Rechnen und Lesen ihren Platz. Im Scheitellappen befindet sich auch das Langzeitgedächtnis für Erinnerungen.
  3. Der Hinterhauptlappen ist zuständig für das Sehen (primäres Sehzentrum) und für das Wiedererkennen von Gesehenem (sekundäres Sehzentrum).
  4. Der Schläfenlappen ist verantwortlich für das Hören und das Wortverständnis, aber auch für Musik und andere auditive Informationen. Hier ist das Sprach- bzw. lexikalische Wissen zu finden (Wernicke-Zentrum). Außerdem befindet sich im Schläfenlappen das mittelfristige Gedächtnis (Hippocampus), in dem auch Nonverbales wie Gesichter oder Melodien abgespeichert wird.
  5. Der Insellappen, der kleinste Abschnitt des Großhirns, ist für das Riechen und Schmecken zuständig. Hier werden Körperempfindungen wie Hunger, Durst, Schmerz oder Blasendruck wahrgenommen, aber auch andere Gefühle. Zudem befindet sich der Gleichgewichtssinn im Insellappen.

Prinzipiell werden in den Hirnlappen primäre und sekundäre Assoziationsareale unterschieden. Von den primären Arealen gehen direkte Nervenverbindungen zu den Sinnesorganen. Die sekundären Assoziationsareale sind über Parallelfasern untereinander verknüpft und speichern das unbewusst oder bewusst erlernte Wissen. An einem Gedächtnisprozess sind zumeist mehrere Gehirnareale beteiligt.

Der nach dem Großhirn zweitgrößte Bereich des Gehirns ist das Kleinhirn, das ebenfalls aus zwei Hemisphären besteht. Es steuert unbewusst die Muskulatur und hält den Körper im Gleichgewicht. Ferner bekommt es über die Brücke willkürliche Bewegungsimpulse aus dem Großhirn und koordiniert die jeweiligen Bewegungen. Außerdem hat das Kleinhirn die Aufgabe, automatisierte Bewegungsabläufe wie z.B. Tanzschritte zu speichern.

Das Zwischenhirn umfasst unter anderem den Thalamus und den Hypothalamus. Der Thalamus empfängt zunächst die Wahrnehmungen der Sinnesorgane sowie Empfindungen aus dem Körper. Es erfolgt dann eine primitive Informationsverarbeitung, wobei der Thalamus als Filter fungiert und z.B. anhand von Situationen wie Schlaf oder Nahrungszunahme entscheidet, welche Informationen an das Großhirn weitergeleitet werden sollen. Deshalb wird er oft als "Tor zum Bewusstsein" bezeichnet. Zugleich wird das Großhirn vor Überlastung geschützt. Der Hypothalamus ist das wichtigste Steuerzentrum des vegetativen Nervensystems. Er kontrolliert lebenswichtige Funktionen wie Körpertemperatur, Blutdruck, Nahrungs- und Wasseraufnahme, Schlaf und Geschlechtstrieb. Der Hypothalamus steht in direktem Kontakt mit der Hypophyse und ist ein Bindeglied zwischen dem Hormon- und dem Nervensystem.

Der Hirnstamm bzw. das Stammhirn ist der entwicklungsgeschichtlich älteste Bereich unseres Gehirns. Der Hirnstamm umfasst das Mittelhirn, die bereits erwähnte Brücke und das verlängerte Rückenmark (Nachhirn). Das Mittelhirn ist eine Umschaltstelle, die Nervenerregungen über das Zwischenhirn an das Großhirn weiterleitet oder auf motorische Nervenzellen umlenkt. Ferner steuert es die meisten Gesichts- und Augenmuskeln. Die Brücke ist ebenfalls eine Umschaltstation, insbesondere für Erregungen, die zwischen den beiden Hälften des Großhirns bzw. des Kleinhirns verlaufen. Das verlängerte Mark steuert grundlegende und überlebenswichtige Funktionen wie Herzfrequenz, Atmung und Blutkreislauf. Außerdem werden hier Reflexe wie Saugen, Schlucken, Niesen, Husten und Erbrechen kontrolliert.

Die neuronale Struktur

Das Gehirn besteht aus rund 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die über 100 Billionen Synapsen (Kontaktstellen) mit anderen Neuronen kommunizieren. Somit ist eine Nervenzelle im Durchschnitt mit 1.000 anderen Neuronen verbunden. Dazu hat jede Nervenzelle ein Axon, das zwischen Bruchteilen eines Millimeters und mehr als einem Meter lang sein kann, und Dendriten, die sie mit vielen anderen Neuronen verbinden. Die Länge aller Nervenbahnen des Gehirns eines erwachsenen Menschen beträgt etwa 5,8 Millionen Kilometer, was dem 145-fachen Erdumfang entspricht.

Während ein Neuron seinen Input über die Dendriten erhält, leitet es nach Verarbeitung desselben seinen Output über das Axon weiter. Innerhalb der Nervenzelle geschieht dies durch elektrische Signale. Zwischen den Neuronen erfolgt die Kommunikation hingegen durch den Austausch von Neurotransmittern, d.h. von komplexen Aminosäuren wie Serotonin, Endorphin, Dopamin, Adrenalin usw. Diese werden am Ende eines Axons - also an einer seiner vielen Synapsen - freigesetzt, überqueren den synaptischen Spalt und werden dann von den Rezeptoren der Synapse eines Dendrits aufgenommen und wieder in einen elektrischen Impuls umgewandelt. Sobald der Neurotransmitter seine Aufgabe erledigt hat, sorgen Enzyme im synaptischen Spalt für die Trennung von Transmitter und Rezeptor. Eher selten werden zwischen den Synapsen auch Ionen ausgetauscht, also elektrisch positiv bzw. negativ geladene Atome oder Moleküle. Die meisten elektrischen Signale laufen somit innerhalb der Neuronen ab. Dazu produziert das Gehirn jederzeit rund 20 Watt an Elektrizität.

Neuronen machen aber nur die Hälfte der Masse des Gehirns aus. Die andere Hälfte umfasst die sehr viel kleineren Gliazellen - ihre Zahl ist etwa 10-mal höher als die der Nervenzellen. Gliazellen bilden ein Stützgerüst für die Neuronen und sind am Stoff- und Flüssigkeitstransport im Gehirn beteiligt. Sie umhüllen die Axone segmentweise mit einer Myelinschicht, wobei kleine Bereiche, sogenannte Ranviersche Schnürringe, zwischen jeweils zwei Segmenten unbedeckt bleiben. Diese Myelinschicht sorgt für die elektrische Isolation der Nervenzellen. Nach neuesten Erkenntnissen sind Gliazellen auch an der Informationsverarbeitung, am Lernen und an höheren Denkprozessen beteiligt. Sie kommunizieren mit den Nervenzellen, reagieren aber genauso auf deren elektrische Aktivität. Ferner beeinflussen sie die Signalübertragung an den Synapsen.

Was passiert im Gehirn?

In jedem Augenblick strömt eine Unmenge an Eindrücken und Wahrnehmungen aus dem Körper und über die Sinne zum Gehirn. Die Impulse werden in viele kleine Einzelteile zerlegt, die in spezialisierten Teilregionen des Gehirns verarbeitet werden - den bereits erwähnten primären Assoziationsarealen. Die von dort ausgehenden "Botschaften" werden in größeren Bereichen des Gehirns interpretiert und miteinander verknüpft, also in den sekundären Assoziationsarealen. An dieser Weiterverarbeitung sind vielfach auch Gedächtnisprozesse beteiligt: Erkennen ist vor allem Wiedererkennen von Gleichem und Ähnlichem. Ferner werden mit Hilfe des Gedächtnisses unvollständige Eindrücke ergänzt. Schließlich müssen Körper und/oder Geist reagieren, Veränderungen vornehmen, Handlungen planen und durchführen.

Insbesondere an hoch komplexen Abläufen sind somit viele Bereiche des Gehirns beteiligt. Wer z.B. eine Rechenaufgabe löst, muss die Zahlen oder den Text wahrnehmen und verstehen, muss sich an ähnliche Aufgaben und erprobte Lösungswege erinnern, muss nachdenken, ausprobieren und schließlich Arm und Hand beim Niederschreiben der Antwort lenken.

Natürlich können nicht alle Eindrücke und Wahrnehmungen, Lernerfahrungen und Informationen im Gehirn gespeichert werden. Vielmehr wird ausgewählt: Das Gehirn ignoriert bereits Bekanntes, unterscheidet Wichtiges von Unwichtigem, bildet Kategorien, Muster und Hierarchien, ordnet Ereignisse in sinnvollen Sequenzen, stellt Beziehungen zu anderen Daten her, fügt neu Gelerntes in bereits abgespeichertes Wissen ein. Eindrücke und Informationen werden leichter behalten, wenn sie mit Emotionen verknüpft sind, wenn sie neuartig, ungewöhnlich und besonders interessant wirken, wenn sie leicht in die vorhandenen Gedächtnisinhalte integriert werden können und wenn ein Lebens- bzw. Alltagsbezug gegeben ist. Sind Informationen, Lernprozesse, Erinnerungen emotional bedeutsam, reizvoll und spannend, werden Botenstoffe wie Dopamin und Acetylcholin ausgeschüttet, verstärken die Aufmerksamkeit und intensivieren die Gedächtnisleistung. In all diesen Fällen wird die dem Gehirn inhärente "Faulheit" - das Bestreben, aufgrund des generell hohen Bedarfs (s.u.) Energie zu sparen - überwunden.

Emotional bedeutsames Wissen wird (bei Rechtshändern) in der rechten Gehirnhälfte, neutrales Fakten- und Weltwissen in der linken Hemisphäre gespeichert. Schlafen und Träumen helfen, Gedächtnisinhalte zu festigen - so wiederholt und verarbeitet das Gehirn in den REM-Phasen äußerst aktiv Eindrücke des Tages. Babys, Ein- und Zweijährige müssen auch während des Tages einmal oder öfters schlafen, da sie - vielleicht auch wegen der intensiven Aktivität in ihrem Gehirn (s.u.) - leicht ermüden. Sogar jeder fünfte Fünfjährige benötigt eigentlich noch ein "Nickerchen" um die Mittagszeit herum, ansonsten reagiert er am Nachmittag oft schläfrig, weinerlich oder gereizt. Auch seine kognitive Leistung lässt dann nach.

Im Gehirn schlagen sich Denken und Lernen auf verschiedene Weise nieder: Bei jeder Interaktion zwischen (Klein-) Kind und Umwelt reagieren zunächst Tausende von Gehirnzellen. Bestehende Verbindungen zwischen ihnen werden intensiviert, neue ausgebildet. Treten nun wiederholt ähnliche Eindrücke, Wahrnehmungen und Erfahrungen auf, schleifen sich bestimmte Bahnen ein. Das heißt, ähnliche Signale folgen immer häufiger demselben Weg, der durch bestimmte, bei wiederholter Stimulierung stärker werdende chemische Signale in den Synapsen zwischen den Neuronen markiert wird. Haben diese Signale eine von Gehirnregion zu Gehirnregion unterschiedlich große Stärke erreicht, wird diese Bahn auf Dauer (bis in das Erwachsenenalter hinein) beibehalten.

Die zuvor benutzten Verbindungen - und die an ihnen beteiligten Neuronen - verlieren an Bedeutung; viele der kaum oder überhaupt nicht benutzten Nervenzellen werden abgebaut (neuraler Darwinismus). Die entlang der sich einschleifenden Bahnen liegenden Neuronen werden hingegen immer größer, d.h., sie bilden weitere Dendriten aus, die zudem länger werden und zu mehr Nervenzellen führen. Aufgrund dieser Prozesse reagieren Neuronen immer schneller, effizienter und besser.

Zugleich wird das Gehirn auf eine bestimmte Weise organisiert - je nachdem, für welche Arten von Lernprozessen Neuronen und Nervenbahnen besonders oft aktiviert werden. Die Veränderungen in seiner Struktur können sogar stark ausgeprägt sein, wenn bestimmte Lernerfahrungen sehr häufig gemacht werden: Beispielsweise ist bei Taxifahrern die Gehirnregion für das Ortsgedächtnis größer, wird bei tauben Menschen ein Bereich im Gehirn für die Gebärdensprache abgegrenzt. Bei kleineren Kindern ist die Gehirnstruktur noch so prägbar, dass sogar der Verlust einer Hemisphäre ausgeglichen werden kann.

Entwicklung des Gehirns

In der dritten Woche nach der Empfängnis faltet sich die dünne Zellschicht des Ektoderms einwärts zu einem flüssigkeitsgefüllten Zylinder, dem so genannten Neuralrohr, und verschließt diesen etwas später. Aus dem Neuralrohr entstehen das Gehirn und das Rückenmark. In ihm wandern die in einem rasanten Tempo entstehenden Nervenzellen zu ihrem jeweiligen Bestimmungsort, wobei sie sich an radial ausgerichteten Gliazellen orientieren. An ihrem Bestimmungsort stellen sie sich dann in Reihen und Schichten auf. So entstehen in der 4. bis 6. Lebenswoche Verdickungen, die drei Hirnbläschen, aus denen sich die Gehirnabschnitte entwickeln. Zugleich verteilen sich Neuronen längs des Neuralrohrs, verästeln sich im übrigen Embryo und bilden so langsam das zentrale Nervensystem aus. In der 10. Woche sieht das Gehirn ähnlich wie eine zusammengekrümmte Eidechse aus; das Rückenmark ist bereits gut ausgebildet.

In den kommenden Lebenswochen werden weiterhin neue Neuronen - etwa 250.000 pro Minute - in der Mitte des Gehirns produziert und wandern von dort zu ihrem Bestimmungsort. Eine Unmenge von Nervenzellen wird aber auch wieder abgebaut. Bis zur 15. Lebenswoche bilden sich Klein- und Mittelhirn sowie der Balken aus. Die beiden Großhirnhälften wachsen rasant (vor allem nach hinten), verdicken sich nach außen und bilden die ersten Furchen aus. Haben die meisten Nervenzellen ihre endgültige Position erreicht, sind alle wichtigen Gehirnstrukturen ausgebildet. Erst dann bilden die Neuronen Axone und Dendriten aus, wobei an der Entstehung der Synapsen Gliazellen beteiligt sind. Eine weitere wichtige Entwicklung im frühkindlichen Gehirnwachstum ist die Ausbildung der Myelinscheide, welche die Axone isoliert. Dieser Prozess setzt im Gehirn erst kurz vor der Geburt ein und reicht bis in das zweite Lebensjahr.

Schon im Mutterleib nimmt das Gehirn Informationen auf und verarbeitet diese. Beispielsweise reagiert der Fötus ab der 19. Woche auf Schmerz; ein Schmerzbewusstsein tritt rudimentär aber erst nach der 28. Woche auf. Der Fötus kann ab der 26. Woche hören, ab der 29. Woche schmecken und ab der 32. Woche sehen; dann können auch Schlafphasen inklusive REM-Schlaf beobachtet werden. Um diese Zeit herum bildet sich eine Art Kurzzeitgedächtnis aus, in dem z.B. wiederkehrende, zunächst erschreckende Töne abgespeichert werden. Dann scheint es auch schon ein rudimentäres Bewusstsein zu geben. Ab der 35. Woche nimmt der Fötus die Stimme und Sprache seiner Eltern wahr - dies könnte das spätere Erlernen der Muttersprache beeinflussen.

Bei der Geburt enthält das Gehirn eines Säuglings rund 100 Milliarden Neuronen, die gleiche Anzahl wie beim Erwachsenen. Die Nervenzellen des Neugeborenen sind aber noch nicht voll ausgebildet und wenig vernetzt. Ein Neuron hat durchschnittlich nur 2.500 Synapsen; bei Kleinkindern sind es hingegen bis zu 15.000 Synapsen. Auch bewegen sich Nervenimpulse viel langsamer: Die neurale Geschwindigkeit nimmt zwischen Geburt und Adoleszenz um das 16fache zu - (Klein-) Kinder verfügen noch über zu viele mögliche Leitungsbahnen, was Erregungen länger "fließen" lässt. Somit ist das Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt immer noch recht unreif; lediglich ein Grundgerüst wurde angelegt. In der Regel ist die rechte Hemisphäre etwas weiter entwickelt als die linke. Nur der Hirnstamm - die Region, die Vitalfunktionen wie Herzschlag und Atmung kontrolliert - ist bereits komplett verschaltet.

Kommt ein Baby zur Welt, kann es sehen, hören und auf Berührungen reagieren. Zunächst überwiegen Reflexe wie z.B. das Saugen und Schlucken. Auch wird der ganze Körper genutzt, um Bedürfnisse wie Hunger oder Gefühle wie Angst zum Ausdruck zu bringen. Von nun an verläuft die Gehirnentwicklung in starker Abhängigkeit von der natürlichen, sozialen und kulturellen Umwelt, wie sie zunächst über die Sinne wahrgenommen und einige Zeit später motorisch erkundet wird.

Bedingt durch die Unmenge der Wahrnehmungen und Erfahrungen nimmt die Zahl der Synapsen in den ersten drei Lebensjahren rasant zu. Mit zwei Jahren entspricht die Menge der Synapsen derjenigen von Erwachsenen; mit drei Jahren hat ein Kind mit 200 Billionen Synapsen bereits doppelt so viele. Außerdem enthalten die Gehirne von (Klein-) Kindern größere Mengen von Neurotransmittern.

Das Gehirn eines Dreijährigen ist mehr als doppelt so aktiv wie das eines Erwachsenen und hat somit auch einen fast doppelt so hohen Glukoseverbrauch. Bis zu 50% des täglichen Kalorienbedarfs wird für das Gehirn benötigt; bei Erwachsenen sind es nur rund 18%. Ferner verbraucht das Gehirn 20 bis 25% des vom Körper aufgenommenen Sauerstoffs.

Verbunden mit dem rasanten Wachstum von Synapsen ist eine rasche Gewichtszunahme des Gehirns: von 300 g bei der Geburt über 750 g am Ende des 1. Lebensjahrs bis 1.300 g im 5. Lebensjahr. In der Pubertät wird schließlich das Endgewicht erreicht. Die im dritten Lebensjahr erreichte Anzahl von Synapsen bleibt bis zum Ende des ersten Lebensjahrzehnts relativ konstant. Bis zum Jugendalter wird dann rund die Hälfte der Synapsen wieder abgebaut, bis die für Erwachsene typische Anzahl von 100 Billionen erreicht wird.

Die Ausbildung von doppelt so vielen Synapsen wie letztlich benötigt ist ein Zeichen für die große Plastizität des Gehirns - und die enorme Lern- und Anpassungsfähigkeit des Säuglings bzw. Kleinkinds. Das Neugeborene fängt geistig praktisch bei null an: Abgesehen von ein paar angeborenen Verhaltensweisen ist es weitgehend auf Wahrnehmung und Reaktion beschränkt. Die Regionen des Gehirns, die später für komplexe Funktionen wie Sprechen oder Denken zuständig sind, liegen weitgehend brach. Aber das ist genau die große Chance des Menschen: Der Neugeborene ist praktisch für ganz unterschiedliche Kulturen und Milieus offen - für einen Indianerstamm bestehend aus Jägern und Sammlern in den Tiefen der Dschungel Brasiliens, für eine Bauern- und Hirtengemeinschaft in Westafrika wie auch für eine hoch technisierte Wissensgesellschaft in Westeuropa oder Ostasien. Die Überproduktion von Synapsen in den ersten wenigen Lebensjahren ermöglicht das schnelle Erlernen ganz unterschiedlicher Verhaltensweisen, Sprachen, Lebensstile usw.

Ein großer Teil der weiteren Gehirnentwicklung bei Kindern besteht dann darin, die für ihre Lebenswelt nicht relevanten Synapsen abzubauen und die benötigten Bahnen zwischen Neuronen zu intensivieren. So bestimmt letztlich die Umwelt - das in ihr Erfahrene, Gelernte, Erlebte, Aufgenommene - zu einem großen Teil die Struktur des Gehirns. Aber auch das Verhalten des Kindes spielt eine Rolle - ob es z.B. viel liest oder lange vor Bildschirmen sitzt, ob es gerne malt oder bastelt, ob es eine Sportart oder ein Musikinstrument lernt. 

Die skizzierte Entwicklung setzt sich dann bis zum Tode des Menschen fort: Unbenötigte Synapsen werden eliminiert, häufig benutzte verstärkt. Zugleich werden aber immer wieder neue Synapsen gebildet, insbesondere im Rahmen von Gedächtnisprozessen. Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass bis in das hohe Alter hinein auch neue Neuronen entstehen.

Die Überproduktion und Selektion von Synapsen erfolgen in verschiedenen Regionen des Gehirns mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität; sie erreichen ihren Höhepunkt zu jeweils anderen Zeiten. Beispielsweise wird im Hinterhauptlappen, der für die visuelle Wahrnehmung zuständig ist, die höchste Dichte von Synapsen schon in den ersten Lebensmonaten erreicht. Hingegen ist das Wachstum im Stirnlappen (Denken, Planen, Urteilsvermögen, Aufmerksamkeit) zwischen dem 3. und 6. Lebensjahr am größten.

In diesem Zusammenhang wird oft von Entwicklungsfenstern oder kritischen Phasen gesprochen, in denen das Gehirn für bestimmte Lernerfahrungen besonders empfänglich sei, da dann die relevanten Synapsen ausgewählt und miteinander verknüpft - also die entsprechenden Regionen des Gehirns strukturiert - würden. Werden diese Entwicklungsfenster verpasst, könnte ein Kind im jeweiligen Bereich kaum noch dieselbe Leistungsfähigkeit erreichen wie andere.

Beispielsweise dauert die sensible Phase für den Spracherwerb bis zum 6. oder 7. Lebensjahr. Das Baby kann schon alle Laute jeder Sprache dieser Welt unterscheiden, das Kleinkind alle Phoneme korrekt nachsprechen. Innerhalb weniger Lebensjahre werden die Synapsen eliminiert, die diese Leistung ermöglichen, aber nicht benötigt werden, da sich das Kind in der Regel ja nur eine Sprache mit einer sehr begrenzten Zahl von Phonemen aneignet. Deshalb kann ab dem Schulalter, insbesondere ab der Pubertät, eine neue Sprache nicht mehr perfekt erlernt werden.

Dieses Beispiel verdeutlicht aber auch, dass das Konzept der kritischen Phasen nicht überbetont werden darf: Sonst wird im jeweiligen Bereich die Lernfähigkeit des Menschen unterschätzt - das Schulkind oder der Erwachsene kann eben doch eine zweite, dritte oder vierte Sprache lernen, wenn auch zumeist nur mit einem (leichten) Akzent. Allerdings fällt das Erlernen bestimmter Kompetenzen (neben der Sprache z.B. auch der räumlichen Wahrnehmung oder des Musikverständnisses) während der jeweiligen sensiblen Phase leichter.

Wichtige Stufen der weiteren Gehirnentwicklung sind beispielsweise:

  1. Im Alter von ein bis zwei Jahren kommt es zu einer sprunghaften Zunahme der Verbindungen zwischen beiden Hirnhälften. Der dadurch verbesserte Informationsaustausch liefert die Basis für die Sprachexplosion und die Koordination der rechten und linken Körperseite.
  2. Erst ab dem Alter von drei, vier Jahren kann auf das Gedächtnis zurückgegriffen werden. Erfahrungen und Erlebnisse aus den ersten Lebensjahren können noch nicht so in das Langzeitgedächtnis abgespeichert werden, dass sie auch wieder aufgerufen werden können. So gibt es keine Erinnerungen an die ersten drei Lebensjahre (infantile Amnesie) und nur wenige an das 4., 5. und 6. Lebensjahr.
  3. Etwa ab vier Jahren verbessert sich die Kommunikation zwischen linker und rechter Hirnhälfte. Dies ermöglicht die Integration der analytischen und der intuitiven Seite des Kindes. Es wirkt klüger, kann nun zwischen Schein und Wirklichkeit unterscheiden, erkennt die Andersartigkeit der Gedanken und Beweggründe anderer Menschen und kann sich in Rollen hineinversetzen.
  4. Mit sechs Jahren beginnt eine neue Phase intellektueller Reife: Da sich das Kind zunehmend selbst beherrschen, die eigenen Gefühle kontrollieren und die Bedürfnisbefriedigung herausschieben kann, kann es sich besser konzentrieren und zielgerichtet lernen. Die zunehmende Reife des Stirnlappens erleichtert logisches Denken, Urteilsfähigkeit, Rechnen und "vernünftiges" Verhalten.
  5. Bei sechs- bis zwölfjährigen Kindern vermehrt sich die graue Gehirnsubstanz auch stark in den hinteren Hirnregionen: Die sprachlichen Fähigkeiten und das räumliche Vorstellungsvermögen werden besser.

Ab dem 10. Lebensjahr gewinnt dann das Prinzip des Use it or loose it (Benutze es oder verliere es) eine überragende Bedeutung: Das Gehirn wird optimiert, d.h. diejenigen Synapsen, die häufig gebraucht werden, bleiben erhalten; die anderen werden eliminiert. Die Struktur des Gehirns spiegelt zunehmend die vorherrschenden Aktivitäten und Beschäftigungen des jeweiligen Menschen wider. Bald sind auch Persönlichkeit und Charakter weitgehend ausgeprägt.

Während in den ersten zehn Lebensjahren das Lernen leicht und sehr schnell vonstatten geht - vor allem wenn es in die jeweiligen sensiblen Phasen fällt -, verlangt es in den folgenden Jahren mehr Anstrengung. Es gibt immer weniger überzählige, unbenutzte Synapsen; die Bahnen, in denen der Jugendliche oder Erwachsene denkt, sind in der Kindheit bereits grob festgelegt worden. Gänzlich neue Verbindungen zwischen Neuronen werden eher selten hergestellt. Das Gehirn hat eine bestimmte Struktur ausgebildet, von deren Art abhängt, in welchen Bereichen das Lernen leichter oder schwerer fällt. Ist z.B. ein Kind bilingual aufgewachsen, eignet es sich schneller eine dritte oder vierte Sprache an; hat es bereits im Kleinkindalter musiziert, wird es eher im Musikunterricht brillieren.

Je vielfältiger und breiter die in der Kindheit ausgeprägte Struktur des Gehirns ist, umso mehr Bereiche gibt es, in denen der Jugendliche oder Erwachsene Fortschritte machen kann. Deshalb können Wissenschaftler schon bei Acht- bis Zehnjährigen die weitere schulische Laufbahn relativ verlässlich voraussagen, nachdem sie sich einen Eindruck von deren Leistungsfähigkeit und sozialen Anpassung sowie von der Qualität der Familienerziehung und vorschulischen Betreuung verschafft haben.

Erfolgreiches Lernen in späteren Lebensabschnitten setzt ferner voraus, dass man das Lernen gelernt hat. Dies ist dann der Fall, wenn Kinder erfahren haben, wie man Lernen plant und selbst überwacht, wie man sich Wissen aneignet und überprüft, welche Lernstrategien erfolgversprechend sind, wo die eigenen Stärken und Schwächen liegen, wie man das Gelernte durchdenkt und erinnert. Sie wissen somit, dass Lernen Sich-Anstrengen bedeutet, und haben Lern- und Leistungsmotivation entwickelt.

Allerdings wird in einer zunehmenden Zahl von Fällen nicht mehr das volle Potenzial im kognitiven Bereich erreicht: Während in den Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende die Intelligenz der Menschen - gemessen mit immer den gleichen Intelligenztests - in der westlichen Welt zunahm (Flynn-Effekt), fällt seitdem der IQ wieder (umgekehrter Flynn-Effekt). Dies hat vermutlich verschiedene Ursachen: eine zunehmende Zahl von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS, Autismus, Konzentrationsstörungen und anderen Lernschwierigkeiten; die geringere Geburtenrate von Menschen mit einem höheren IQ, das Verschwinden anspruchsvoller Bücher aus den Kinderzimmern, die zunehmende Ablenkung durch digitale Geräte, die Nutzung des Internets anstatt von Druckerzeugnissen für Recherchen, endokrine Disruptoren (Chemikalien, die die Hormonproduktion in der Schilddrüse negativ beeinflussen) - und sogar Jodmangel (Bleuel/ Heinen/ Stelzer 2019).

Individuelle Unterschiede

Die vorangegangenen Abschnitte haben schon deutlich gemacht, wie stark die Gehirnentwicklung durch das Lernen geprägt wird - sie ist ein Prozess, der von Erbe und Umwelt gleichermaßen bestimmt wird. Rund 60% aller menschlichen Gene wirken auf die Gehirnentwicklung ein. Der IQ ist aber nur zu etwa 50% genetisch bedingt, der Schulerfolg sogar nur zu 20% (Eliot 2001). Das verdeutlicht den großen Einfluss insbesondere der familialen Umwelt.

Die Umgebung wirkt schon vor der Geburt auf die Gehirnentwicklung ein, insbesondere über den Körper der Mutter: Negative Einflussfaktoren während der Schwangerschaft sind beispielsweise Stress, Fehlernährung, Rauchen, Alkohol-, Medikamenten- bzw. Drogenmissbrauch oder der Umgang mit giftigen Substanzen am Arbeitsplatz. Nach der Geburt wird die Gehirnentwicklung z.B. durch längere Krankenhausaufenthalte oder Heimunterbringung gehemmt, da dann die Säuglinge bzw. Kleinkinder zu wenig Stimulierung erfahren. Dasselbe gilt für den Fall, dass die Mutter depressiv ist oder die Eltern ihr Kind vernachlässigen. Einen negativen Effekt können ferner frühkindliche Traumata oder Misshandlungen haben, aber auch Armut und die Zugehörigkeit zu Randgruppen.

Eine positive Wirkung wird hingegen beispielsweise dem Stillen zugesprochen, da hier das Gehirn besonders gut mit Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen versorgt wird. So schnitten gestillte Kinder beim IQ-Test mit acht Jahren um durchschnittlich acht Punkte besser ab - der Vorsprung war umso größer, je länger sie gestillt worden waren (Eliot 2001). Aber auch in der (Klein-) Kindheit sind eine gesunde, vitamin- und mineralstoffreiche Ernährung und ausreichend Schlaf für die Gehirnentwicklung förderlich.

Von besonderer Bedeutung ist eine sichere Eltern-Kind-Bindung. Die Stimulierung und damit das Lernen sind viel intensiver, wenn Mutter und Vater sich engagiert um den Säugling bzw. das Kleinkind kümmern, es liebkosen und trösten, seine Signale verstehen und sofort darauf reagieren, warm, sensibel und empathisch sind. Zugleich erlebt das Kind weniger Stress (bei dem das für die Gehirnentwicklung schädliche Cortisol ausgeschüttet wird), wird es resilienter und lernt besser, die eigenen Affekte und Emotionen zu kontrollieren.

Auch dem Spielen kommt eine große Bedeutung zu, da es Vernetzungen im Gehirn, kognitive Fähigkeiten, Sprache, Kreativität und die sozial-emotionale Entwicklung fördert. Jedoch haben Kinder immer weniger Zeit zum (ungestörten) Spielen - sowohl in ihren Familien als auch in Kindertageseinrichtungen.

Sehr positiv wirkt sich aus, wenn Kinder in einer besonders anregungsreichen (familialen) Umwelt aufwachsen, in der sie viele unterschiedliche Lernerfahrungen machen. Werden ihre Neugier, ihr Forschungsdrang und ihr Verständnis von der Welt (auch durch das Beantworten ihrer vielen Fragen!) gefördert, können sie viel selbst ausprobieren und mit (Alltags-) Gegenständen experimentieren, werden sie mit immer neuen Herausforderungen konfrontiert, können sie Aufgaben selbständig lösen und ihr Wissen weitergeben (z.B. an jüngere Geschwister: Lernen durch Lehren) bzw. immer wieder einsetzen (Lernen durch Wiederholung) - dann entwickeln sie ein stärker strukturiertes Gehirn mit größeren Neuronen und mehr Synapsen. Je schwieriger und komplexer die Aufgaben sind, die ihnen in ihrer (Familien-) Umwelt gestellt werden, umso mehr Gehirnregionen werden aktiviert, umso mehr Verbindungen zwischen Neuronen werden ausgebildet.

Offensichtlich ist, dass es große Unterschiede zwischen Familien hinsichtlich des Grades der Stimulierung gibt, die Kinder erfahren - und das erklärt teilweise, wieso der Schulerfolg so stark von der familialen Umwelt abhängt (s.o.). Hinzu kommt, dass in Familien auch in unterschiedlichem Maße Eigenschaften wie Lern- und Leistungsmotivation, Ehrgeiz, Selbstdisziplin, Selbstvertrauen, Konzentrationsfähigkeit usw. oder schulisch relevante Interessen - z.B. am Lesen, am Beherrschen von Fremdsprachen, an mathematisch-naturwissenschaftlichen und technischen Themen - gefördert werden.

Natürlich wirkt sich auch die Qualität der Schule auf die Gehirnentwicklung aus. Es spielt sogar eine Rolle, ob man mit mehr älteren oder mehr jüngeren Kindern in einer Klasse zusammen ist - in ersterem Fall ist die kognitive Stimulierung größer. So schneidet z.B. ein junger Fünftklässler bei IQ-Tests im Durchschnitt um einen oder zwei Punkte schlechter ab als seine älteren Klassenkameraden, aber um rund fünf Punkte besser als gleich alte Viertklässler (Eliot 2001).

Interessant ist auch folgendes Forschungsergebnis: Im Durchschnitt erzielen Erstgeborene bei Intelligenz- und Schulleistungstests bessere Ergebnisse als ihre jüngeren Geschwister - Letztere schneiden umso schlechter ab, je weiter unten in der Geschwisterfolge sie sind (ein Viertgeborener also schlechter als ein Drittgeborener) und je kürzer der Geburtenabstand zum älteren Geschwisterteil ist (a.a.O.). Hier wirken zwei bereits beschriebene Einflussfaktoren zusammen: Zum einen erfahren Erstgeborene während der ersten Lebensjahre mehr Aufmerksamkeit und Stimulierung als ihre Geschwister, wird mit ihnen mehr interagiert. Zum anderen profitieren sie vom "Lernen durch Lehren": Ihr Wissen und ihre Fähigkeiten werden gefestigt, wenn sie ihren jüngeren Geschwistern etwas beibringen. Zugleich werden Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein gestärkt. Dies fördert ihre Entwicklung so stark, dass sie bei Tests sogar besser als Einzelkinder abschneiden, obwohl diese die ungeteilte Zuwendung ihrer Eltern genießen.

Individuelle Unterschiede gibt es auch zwischen den Geschlechtern: Mädchen greifen bei verbalen Tätigkeiten eher auf beide Gehirnhälften zurück. Sie fangen früher mit dem Sprechen an, sind sprachbegabter und schneiden dementsprechend besser ab bei verbal ausgerichteten Intelligenztests und bei Untersuchungen über das Lesen und Schreiben sowie hinsichtlich des assoziativen Gedächtnisses und der Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Jungen zeigen hingegen bessere Leistungen bei nicht verbalen IQ-Tests, im Rechnen, hinsichtlich des naturwissenschaftlichen und technischen Verständnisses und bei visuell-räumlichen Analysen (z.B. räumliches Rotieren, Erkennen verborgener geometrischer Figuren). Diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind jedoch relativ schwach ausgeprägt. Allerdings variiert bei Jungen die geistige Leistungsfähigkeit stärker: Einerseits erzielen sie häufiger Spitzenleistungen, andererseits sind sie öfters lernbehindert.

Ansonsten kann man auch bei Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen davon ausgehen, dass sie zum Teil genetisch bedingt sind und zum Teil durch geschlechtsspezifische Erziehung, Geschlechtsrollenleitbilder, Vorbilder (z.B. Filmstars oder Sportler) und Medien hervorgerufen werden. Außerdem scheint das Spielverhalten von Bedeutung zu sein: Beispielsweise beschäftigen sich Jungen mehr mit Bauklötzen, Fußballspiel, Konstruktionsmaterial und Computerspielen, was die visuell-räumliche Koordination und das technische Verständnis fördert. Puppen- und Rollenspiele, die von Mädchen bevorzugt werden, wirken sich hingegen auf die sprachliche und soziale Entwicklung positiv aus.

Konsequenzen für Kindertageseinrichtungen

Aus der rasanten Entwicklung und enormen Plastizität der Gehirne von Kleinkindern ergeben sich die große Bedeutung und die vielfältigen Chancen der frühkindlichen Erziehung und Bildung. Erzieher/innen können das riesige Potenzial in Kindern wecken, deren Begabungen entdecken, die kindliche Entwicklung allseitig fördern, den Erwerb von Kenntnissen sowie die Ausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten anleiten, bei negativen Einflüssen präventiv wirken sowie bei Entwicklungsverzögerungen und Behinderungen frühzeitig intervenieren. Diese Möglichkeiten bleiben aber vielfach ungenutzt. Dem Lebensalter, in dem die größte Lernkapazität und die besten Bildungschancen bestehen, wird seitens des Bildungssystems die wenigste Aufmerksamkeit geschenkt; die Erziehung der Kinder wird den am schlechtesten ausgebildeten Fachkräften überlassen; und selbst die Frage, ob Kindertageseinrichtungen überhaupt zum Bildungswesen gehören, ist nach wie vor strittig. Wie wir spätestens seit den Untersuchungen von Tietze (1998) wissen, sind die meisten Kindergärten von ihrer Qualität her mittelmäßig. Noch erschreckender ist aber sein Forschungsergebnis, dass Kinder in schlechten Kindergärten um ein Jahr in ihrer Entwicklung hinter denen in guten Einrichtungen zurückbleiben. Deutlicher kann die Notwendigkeit einer qualitativ hochwertigen frühkindlichen Erziehung und Bildung gar nicht gemacht werden.

Wie können Erzieher/innen die Gehirnentwicklung bzw. das Lernen von Kleinkindern fördern?

  1. Kinder lernen am besten in einer Umgebung, in der sie sich sicher fühlen, wo sie eine enge Beziehung zu Erzieher/innen haben (Vertrauen, Zuneigung usw.), wo man sie weder lächerlich bzw. verlegen macht noch anklagt oder anschreit, wo sie entspannt sind und nur einem geringen bis mittleren Maß an Stress ausgesetzt sind (kein Ausschütten des das Lernen behindernden Cortisols, dafür aber von Endorphinen).
  2. Die kindliche Entwicklung sollte allseitig gefördert werden, indem Erzieher/innen Wissenserwerb, kognitive, soziale, emotionale und motorische Kompetenzen, Sprachfertigkeiten, ästhetisches Tun, Fantasie und Kreativität gleichermaßen berücksichtigen. Sie sollten viel Stimulierung bieten, indem sie Lerninhalte vielfältig präsentieren, möglichst immer mehrere Sinne gleichzeitig ansprechen und viele Methoden (z.B. Projektarbeit, Rollenspiel, Erzählen, Musizieren, Gärtnern) einsetzen.
  3. Eine optimale Lernumgebung konfrontiert Kinder mit lebensnahen Situationen (z.B. durch viele Ausflüge in die Natur, in den Ort, zu Geschäften) und gestattet vielfältige Aktivitäten mit Wahlmöglichkeiten (z.B. durch genügend Freispielzeit oder durch das Einrichten von verschiedenen "Lernzentren" im Gruppenraum und in anderen Räumlichkeiten).
  4. Das Lernen sollte bedeutsam und relevant für Kleinkinder sein: Erzieher/innen können sich an den Lebenswelten der Kinder orientieren, von deren Alltagswissen ausgehen und dieses auf neue Situationen übertragen, im Alltagsleben einsetzbare Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln und auch die Emotionen der Kinder ansprechen (mehr Konzentration und Aufmerksamkeit, bessere Gedächtnisleistung). Besonders gut können Kleinkinder im Freispiel ihren individuellen Interessen nachgehen.
  5. Je mehr neue Dinge (im Freispiel) untersucht werden können, je mehr selbständiges Forschen und Experimentieren möglich sind, je mehr Strategien beim Lösen von Problemen oder Bewältigen von Aufgaben ausprobiert werden können, je mehr neue Erfahrungen und Aha-Erlebnisse im Verlauf eines Tages gemacht werden, umso intensiver ist das Lernen.
  6. Gespräche mit Erzieher/innen und/oder anderen Kindern über Beobachtungen und Erfahrungen, über Gegenstände und Prozesse, Handlungsstrategien und Problemlösungsmethoden sind besonders wichtig, da Kleinkinder dabei neue Begriffe lernen, zum Nachdenken angeregt werden und gerade Gelerntes einsetzen können (besseres Abspeichern im Gedächtnis).
  7. Kinder brauchen auch Zeit zum Wiederholen, Memorieren und Üben: Zu viel Neues ist kontraproduktiv, wenn nicht genügend Gelegenheiten geboten werden, um gerade erworbenes Wissen einzusetzen und neu erworbene Fertigkeiten zu praktizieren. Auch für Kleinkinder gilt: Übung macht den Meister.
  8. Kinder lernen besser, wenn Neugier und Forschergeist gefördert werden, wenn sie eigenständig nach Problemlösungen oder Antworten auf Fragen suchen können (z.B. im Freispiel), wenn sie für die eigene Leistung selbst verantwortlich sind und wenn sie viel Anerkennung und Lob erfahren. Positiv wirkt sich aus, wenn Erzieher/innen Ziele und Leistungsanforderungen klar definieren, viel motivieren, eindeutige Kriterien für Erfolg und Misserfolg aufstellen, sofort Feedback geben und Fehler eher beiläufig korrigieren (bei zu viel Fokussierung können sich Fehler verfestigen). Motivation und Lernerfolg werden intensiviert, wenn Außenstehende wie Eltern oder andere Erwachsene die Leistung der Kinder bestätigen (z.B. bei Präsentationen vor den Eltern oder bei Ausstellungen).
  9. Die Individualität eines jeden Kindes sollte bei der Planung von Aktivitäten beachtet werden: Beispielsweise mögen extravertierte Kinder gerne im Stuhlkreis sprechen oder Besucher begrüßen, introvertierte Kinder haben oft Angst davor. Einige Kinder finden Sicherheit in Routinen, andere suchen immer wieder nach neuen Herausforderungen.
  10. Bewegungseinheiten zwischen Arbeitsphasen fördern Konzentration und Lernen, da sie zu einer besseren Durchblutung des Gehirns beitragen (mehr Sauerstoff und Glukose verfügbar).
  11. Babys und Kleinstkinder benötigen ein- bis zweimal am Tag ein "Nickerchen", und auch viele ältere Kleinkinder profitieren von einer kurzen Mittagsruhe.
  12. Computer - mit guter Software - intensivieren das Lernen, da sie durch Text, Bild und Ton mehrere Sinne ansprechen, ein häufiges Wiederholen ähnlicher Aufgaben ermöglichen (erleichtert das Memorieren) und den Entwicklungsstand jedes einzelnen Kindes berücksichtigen (Individualisierung). Malen und Komponieren am Computer fördern auch die Kreativität.
  13. Kinder, die in ihrer Familie eine am Wohnort wenig benutzte Sprache gelernt haben, sollten so früh wie möglich mit der Landessprache konfrontiert werden - und die anderen Kinder mit einer Fremdsprache. Sie lernen die zweite Sprache am besten im Kontext alltäglicher Interaktionen mit Erwachsenen (und Kindern), die diese beherrschen.
  14. Positive Beziehungen zwischen Gleichaltrigen, in denen es z.B. keine Gewalt oder Unterdrückung gibt, dafür aber viel Kooperationsbereitschaft beim Lösen von Problemen und Bewältigen von Aufgaben, fördern das Lernen.
  15. Die Familien müssen im Rahmen einer Bildungspartnerschaft (Textor 2006) mit den Erzieher/innen das Lernen und die Gehirnentwicklung ihrer Kinder ebenfalls stimulieren. Für sie gelten viele der zuvor genannten Punkte gleichermaßen. Außerdem sollten sie sicherstellen, dass ihre Kinder vitamin- und mineralstoffreich ernährt werden, genügend Schlaf bekommen und nicht allzu viel Zeit mit Fernsehen oder Computerspielen verbringen.

Letztlich sind eine gute Erziehung und Bildung von Kleinkindern nur realisierbar, wenn Erzieher/innen auf umfassende Kenntnisse aus den Bereichen Hirnforschung, Lern- und Entwicklungspsychologie zurückgreifen können - was derzeit nicht der Fall ist. Darüber hinaus benötigen sie aber auch bessere didaktische und methodische Kompetenzen: Einerseits brauchen sie ein Grundlagenwissen in all den Lernfeldern, die in der pädagogischen Arbeit mit Kleinkindern von Bedeutung sind: Natur, Kultur, Wirtschaft, Technik, Kunst, Wissenschaft usw. Andererseits müssen sie im Rahmen der Monats- und Jahresplanung für Kinder relevante Inhalte aussuchen (und kindgemäß präsentieren), ohne dass die Kinder mit einer Unmenge unzusammenhängender Informationen überschüttet werden. Vielmehr sollten diese durch exemplarisches Lernen Einblick in die verschiedenen Lernfelder erhalten und wichtige Strukturen erkennen.

Bransford, Brown und Cocking (1999) haben in ihrem Buch "How people learn", das in den USA eine große Bedeutung erlangte, vier Schwerpunkte unterschieden, die eine lernfördernde Umwelt in Kindergärten und Schulen kennzeichnen:

(1) Wissensvermittlung: Ein Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit ist das Lehren von nach bestimmten didaktischen Prinzipien (z.B. Lebensnähe, exemplarisches Lernen) ausgewählten Kenntnissen. Die Kinder sollten Wissen in verschiedenen Lernfeldern erwerben, wobei sie die vermittelten Informationen verstehen, durchdenken und in das bereits vorhandene Wissen integrieren sollen. Es geht dabei nicht um Spezialkenntnisse, sondern um das Gewinnen eines vertieften Überblicks über bestimmte Themenbereiche (Grundlagenwissen).

(2) Orientierung am Kind: Ausgangspunkt der pädagogischen Arbeit sollte das einzelne Kind sein: seine Kenntnisse, Fertigkeiten, Einstellungen, Werte usw. Die Erzieherin sollte (a) das Kind mit neuen Situationen, Problemen und Fragestellungen konfrontieren, (b) erfragen, was es darüber weiß, denkt und vermutet, (c) falsche Vorstellungen hinterfragen bzw. fehlerhafte Vermutungen durch die weitere Beschäftigung mit dem Objekt oder Thema offensichtlich werden lassen und auf diese Weise kognitive Konflikte erzeugen. So wird das Kind nicht nur fortwährend zum Nachdenken angeregt, sondern es muss auch immer wieder sein Wissen umstrukturieren.

(3) Kontinuierliche Beurteilung des Kindes: Damit ist keinesfalls eine Benotung der Leistungen eines Kindes durch die Erzieherin gemeint! Vielmehr geht es darum, dass die Entwicklung und das Lernen eines Kindes nur allseitig gefördert werden kann, wenn die Erzieherin genau seinen Entwicklungs- und Wissensstand kennt. Und da sich diese bei Kleinkindern sehr schnell ändern, verlangt das fortwährende Beobachtung. Da sich falsche Vorstellungen, Fehlinformationen, Denkfehler usw. (s.o.) in der Regel erst in Interaktionen zeigen, muss die Erzieherin auch viel mit den Kindern diskutieren - im Sinne eines themenorientierten, sachlichen Gesprächs - und dabei die Aussagen der Kinder hinsichtlich der dahinter liegenden Dankprozesse analysieren. Die Beobachtungen der Erzieherin müssen dann wieder in die pädagogische Arbeit einfließen: durch Feedback, das Aufzeigen von Fehlern, das Herausstellen von Lernerfolgen (Lob) usw., aber auch durch das Stellen neuer entwicklungsgemäßer Fragen und Aufgaben. So passt die Erzieherin ihre Angebote immer besser dem jeweiligen Entwicklungsstand ihrer Kinder an - die aber auch lernen sollten, selbst ihre Fortschritte zu beurteilen.

(4) Orientierung an der Gruppe: Wichtig ist, dass die Erzieherin Gruppenprozesse steuert. So sollten sich alle Kinder geborgen und wohl fühlen, vor allem aber das gemeinsame Lernen, Experimentieren, Diskutieren und Erforschen wertschätzen. Kooperationsbereitschaft und Leistungsmotivation sollten die Atmosphäre in der Gruppe kennzeichnen. Die Kinder müssen auch die Gewissheit haben, dass sie Fehler machen oder mangelnde Fertigkeiten eingestehen können, ohne von den anderen ausgelacht oder verspottet zu werden.

Bei den von Bransford, Brown und Cocking (1999) unterschiedenen vier Schwerpunkten - die sich natürlich überschneiden und wechselseitig beeinflussen - steht das kognitive Lernen der Kinder im Vordergrund. Ähnliches gilt natürlich auch für andere Entwicklungsbereiche, deren Bedeutung in diesem Artikel immer wieder betont wurde.

Anmerkung

Dieser im Jahr 2002 unter dem Titel "Gehirnentwicklung und Lernen im Kleinkindalter - Konsequenzen für die Erziehung im Kindergarten" erschienene Artikel wurde 2010 überarbeitet und erweitert. Weitere Ergänzungen folgten im Jahr 2019.

Literatur

Bleuel, N./Heinen, N./Stelzer, T.: Intelligenzquotient: Wir waren mal schlauer (27.03.2019). https://www.zeit.de/2019/14/intelligenzquotient-hirnforschung-messwerte-bildung-gene-konzentration (abgerufen am 29.03.2019)

Bransford, J.D./Brown, A.L./Cocking, R.R. (Hrsg.): How people learn. Brain, mind, experience, and school. Washington: National Academy Press 1999

Eliot, L.: Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren. Berlin: Berlin Verlag 2001

Elschenbroich, D.: Was gibt es Neues auf der Welt? Vom Mythos der ersten drei Lebensjahre. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.03.2000

Newberger, J.J.: New brain development research - a wonderful window of opportunity to build public support for early childhood education! Young Children 1997, 52 (4), S. 4-9

Rushton, S.P.: Applying brain research to create developmentally appropriate learning environments. Young Children 2001, 56 (5), S. 76-82

Shore, R.: Rethinking the brain. New insights into early development. New York: Families and Work Institute 1997

Textor, M.R. (Hrsg.): Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit Eltern. Gemeinsam Verantwortung übernehmen. Freiburg, Basel, Wien: Herder 2006

Tietze, W. (Hrsg.): Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kindergärten. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag 1998

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de