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Zitiervorschlag

Psychoanalytisch orientierte Selbstreflexion für pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen

Helmwart Hierdeis

 

Die Begriffe Selbstreflexion, Selbstwahrnehmung, Selbstbeobachtung, Selbsterkenntnis, Selbstanalyse, Introspektion etc. stammen aus unterschiedlichen theoretischen Kontexten. Ihnen allen liegt die Erfahrung zugrunde, dass es dem Menschen möglich ist, sich selbst in den Blick zu nehmen und Wissen über sich selbst zu gewinnen (vgl. Hierdeis 2017, S. 205ff.). Das Denken und Handeln an den Kriterien zu messen, die der Mensch sich in der Auseinandersetzung mit der Kultur und ihren Repräsentanten (Eltern, Pädagogen …) erarbeitet hat, ist Ausdruck seiner Humanität und gehört zu seiner allgemeinen Lebenspraxis, auch wenn er sich dessen nicht immer bewusst ist. Der Impulsgeber zu dieser Selbstkonfrontation wird als Gewissen bezeichnet.

Selbstreflexion ist ein Spiegelungsprozess, sei es in einer sozialen Situation mit einem oder mehreren Anderen (Einzel- oder Gruppentherapie, Einzel- oder Gruppensupervision), sei es im Dialog mit dem inneren Gegenüber. So wurde sie bereits in der griechischen Antike verstanden. Das „Erkenne dich selbst!“ am Apollotempel von Delphi war eine Aufforderung an die Eintretenden, ihre Lebensführung an den Maßstäben der Götter zu überprüfen und sich nicht selbst zu überschätzen (vgl. Hierdeis 2017, S. 206).

Die Selbstreflexion erhält eine spezielle Ausrichtung bei Personen, die für andere Verantwortung übernehmen, und sie gewinnt noch einmal ein besonderes Gewicht dort, wo sie für andere verantwortlich sind, die noch nicht oder nur eingeschränkt Verantwortung für sich selbst übernehmen können. Eine solche Verantwortung tragen zum Beispiel Eltern und Fachkräfte, die in pädagogischen Einrichtungen Kinder und Heranwachsende pflegen, betreuen, erziehen und unterrichten. Dazu gehören die professionellen Pädagoginnen und Pädagogen in Kindertageseinrichtungen.

Die pädagogische Professionalisierung ruht auf drei Pfeilern: auf dem lebensgeschichtlich erworbenen Erfahrungswissen, auf dem Expertenwissen und auf dem selbstreflexiven Wissen (vgl. Müller, Krebs, Finger-Trescher 2002, S. 14). Das Erfahrungswissen ist Ursprung der Berufsmotivation und steht dem theoretischen Wissen ergänzend und kritisch gegenüber. Inhalte und Umfang des Expertenwissens sind in den Aus- und Weiterbildungscurricula festgelegt. Seine überprüfte Kenntnis berechtigt (neben der praktischen Befähigung) zur Berufsausübung. Selbstreflexives Wissen ist Wissen über die eigene Identität und Psychodynamik und daher empirisch nicht überprüfbar. Wohl aber kann die Fähigkeit zur Selbstreflexion in der Ausbildung angebahnt und im Berufsleben vertieft und ausdifferenziert werden. Was aber soll Gegenstand der Selbstreflexion werden:

- die Trennung von eigenen und fremden Anteilen an der Entstehung von Konflikten im pädagogischen Feld?

- die Nähe-Distanz-Bedürfnisse in den professionellen Beziehungen (also nicht nur zu Kindern, sondern auch zu Kolleginnen und Kollegen)?

- der Umgang mit Anerkennung und Kritik?

- der Zusammenhang zwischen Theorien und professionellem Handeln?

- die mögliche Differenz zwischen der aktuellen und der ursprünglichen Berufsmotivation?

- das augenblickliche Verständnis des pädagogischen Handlungsfeldes?

- mögliche Anzeichen beruflicher Deformierung?

- die Position im Team?

- Konkurrenz und Mobbing unter den Fachkräften?

- die Mitwisserschaft am Fehlverhalten anderer und der Umgang damit?

- das eigene Fehlverhalten?

- die institutionellen und gesellschaftlich-organisatorischen Störfaktoren im pädagogischen Geschehen und die dafür verantwortlichen Personen?

- Identifikationsbedürfnisse?

- das persönliche Berufsethos? etc. (vgl. Hierdeis 2016)

Jede dieser Fragen an das „pädagogische Gewissen“ kann selbstreflexive Prozesse auslösen. Die psychoanalytisch orientierte Selbstreflexion bleibt dabei nicht beim bloßen Nachdenken über sich und andere stehen. Ihr geht es ganz allgemein um die Aufhellung psychischer Prozesse und ihrer Dynamiken und speziell um die Gründe für Lust-Unlust-Empfindungen und für Widerstände, die daran hindern, Verdrängtes oder Schambesetztes dem Bewusstsein zugänglich zu machen und ihm eine Sprache zu geben. Der Fokus liegt auf der Selbstaufklärung über den persönlichen, sozialen und institutionellen, meist unbewussten Subtext des Handelns, also darüber, inwieweit Gedanken, Gefühle, Phantasien, Erfahrungen und Erwartungen das Verständnis der Beziehungen im pädagogischen Handlungsfeld beeinflussen und bestimmte soziale Handlungen und Interaktionsweisen hervorrufen (vgl. Dauber 2006, S. 13).

Wer selbstreflexiv geschult ist, kann sich darüber selbst aufklären. Dabei ist es hilfreich, sich die Situation bzw. den Konflikt oder das sich aufdrängende und beunruhigende Thema zusammen mit dem eigenen Agieren, den eigenen Gefühlen und Handlungsmotiven möglichst differenziert zu vergegenwärtigen. Pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen könnten auf diese Weise etwa folgenden Fragen nachgehen: Was genau zieht mich an bestimmten Kindern an? Was an ihnen befremdet mich? Welche Kinder lassen mich gleichgültig? Mit welchen Kindern habe ich häufiger Konflikte? Warum stört mich „Ungehorsam“? Wann bin ich geneigt, Widerstände zu ignorieren oder zu brechen? Um wessen Aufmerksamkeit, Anerkennung, Liebe werbe ich? Bei welchen Kindern habe ich das Gefühl, die bessere Mutter/der bessere Vater zu sein? In welchen Situationen bin ich davon überzeugt, nur ich allein könne einem Kind helfen? etc.

So unverzichtbar die Konfrontation mit sich selbst ist und so sehr sie sich als Dauerreflexion des beruflichen Alltags bewähren kann – sie liefert nur einen begrenzten Erkenntnisgewinn. Das liegt daran, dass der Blick auf das Eigene bei allem Bemühen um Genauigkeit und Objektivität beschränkt bleibt, die Wahrnehmung der anderen Person möglicherweise einseitig ist und die Erinnerung an sie verzerrt sein kann. Das gilt insbesondere in Fällen von belastenden Konflikten bei gleichzeitigem Handlungsdruck. Außerdem kann allein geübte Selbstreflexion verunsichern, verletzlich machen und zur Herrschaft der „Innenansicht“ führen. Nicht zuletzt besteht die Gefahr der Handlungsunfähigkeit, wenn der Blick nach innen erstarrt und problematische Szenen gleichsam einfrieren.

Um die mögliche Eindimensionalität der Selbstreflexion zu vermeiden und zusätzliche Reflexionsperspektiven zu gewinnen, ist es sinnvoll, nach anderen Formen der Spiegelung zu suchen.

Die Einzelsupervision bietet die Chance, die eigene Sicht durch eine Sicht von außen zu ergänzen und gegebenenfalls zu korrigieren. In der Interaktion der pädagogischen Fachkraft mit der Supervisorin/dem Supervisor spiegelt sich außerdem ihre Beziehung zu den Personen, bei denen sie das Gefühl hat, sie nicht zu verstehen, ihnen nicht gerecht zu werden, von denen sie sich bedrängt, bedroht, gehasst, nicht anerkannt etc. fühlt. Sigmund Freud hat vor mehr als hundert Jahren beobachtet, dass seine Patientinnen und Patienten Gefühle auf ihn übertrugen, die eigentlich den Auslösern ihres Hasses oder ihrer Sehnsucht galten. Die von ihm so bezeichnete „Übertragung“ gilt seitdem in der psychoanalytischen Therapie als Kern der Beobachtung und ihre Analyse als der Schlüssel schlechthin zum Problem der hilfesuchenden Person (Freud 1905e, S. 279ff.). Deren Übertragung auf die supervidierende Person kann etwas von der Dynamik zwischen der Fachkraft und dem eigentlichen „Objekt“ (Kind, Eltern, Kollegin …) sichtbar machen, was ihr bisher nicht bewusst war oder was sie nicht ausdrücken konnte.

Besonders produktiv wird die Selbstreflexion in Prozessen gegenseitiger Spiegelung in der Teamsupervision. Der ungarische Arzt und Psychoanalytiker Michael Balint (1896 – 1970) hat vor dem Hintergrund der Übertragungstheorie Freuds und von Beziehungserfahrungen in seiner medizinischen und therapeutischen Praxis das Modell einer reflektierenden Gruppe entwickelt, in der unter der Moderation einer qualifizierten Person (in seinem Fall ein Arzt/Analytiker) Ärzte über belastende Beziehungen zu bestimmten Kranken berichten konnten. Sie sollten dabei besonders auf ihre Gefühle achten, die der Patient während der Erzählung ihres Kollegen bei ihnen auslöste. Das würde bei ihnen, so Balints Annahme, Vermutungen über die Art der Belastungen sowohl beim Arzt als auch beim Patienten in Gang setzen, die dann gemeinsam diskutiert werden sollten. Die Praxis zeigte, dass sich durch die von den Kollegen vorgetragenen Phantasien, Annahmen und Einschätzungen in der Gruppe eine Konfliktdynamik entwickelte, aus der sich herauslesen ließ, worin der referierte Konflikt eigentlich bestand (vgl. Schüssler 2018, S. 271ff.) – eine Reflexionshilfe für den behandelnden Arzt. Was in den 50er Jahren mit Ärzten begann, hat sich seit den 70er Jahren auch in der Pädagogik als berufsbegleitende psychoanalytisch orientierte Reflexionshilfe bewährt. „Balint-Gruppen“ gelten als Orte des kollektiven Eingeständnisses beruflicher Unvollkommenheit in Beziehungsfragen und bieten Alternativen hinsichtlich der Wahrnehmung und Konfliktbearbeitung. Sie verstärken damit ihre Wirksamkeit für pädagogische Fachkräfte aller Berufsfelder (vgl. Leber, 1985, S. 161).

Die zentralen Fragen für pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen „Was mache ich mit dem Kind? Was macht das Kind mit mir?“ können heute in zahlreichen Varianten selbstreflexiver Gruppen bearbeitet werden. Für die Lehrerbildung hat Achim Würker ein Modell psychoanalytisch orientierter Selbstreflexion nach Alfred Lorenzer entwickelt, das auch auf andere pädagogische Berufsfelder übertragbar ist: An die Stelle von Berichten treten hier spontan verschriftlichte pädagogisch relevante Erzählungen aus dem Teilnehmerkreis. Die gemeinsame Analyse solcher Texte versucht den zugrundeliegenden unbewussten, oft vorsprachlichen Interaktionserfahrungen („Szenen“) näherzukommen – nach Siegfried Bernfeld dem „inneren Kind“ (Bernfeld 1981) –, deren Wirkung bis in die aktuellen Abwehrformen und Verhaltensdispositionen hineinreicht (Würker 2007).

Selbstreflexivität wird nicht durch Belehrung oder durch die Rezeption theoretischer Konzepte erworben. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer Professionalisierung, in der sich die (angehenden oder schon berufstätigen) pädagogischen Fachkräfte dem Wagnis der Selbstaufklärung aussetzen. Die Ziele einer solchen Selbstreflexion hat Aloys Leber so formuliert:

„1. die eigene unbewusste Problematik soweit erkennen und verarbeiten, dass der Zögling nicht zu ihrer (Schein-) Bewältigung herhalten muss, er die pädagogische Beziehung nicht zu seiner eigenen Befriedigung missbraucht […],

2. die eigene Problematik einschließlich der ‚Widerstände’ bzw. der ‚Abwehr’ angehen, um die Sperren gegen die Empathie aufzuheben, gefühlsmäßige Offenheit zu gewinnen und die Neigung, mit eigenen Phantasmen die Wahrnehmung von Interaktionsprozessen zu verzerren, unter (Selbst-)Kontrolle zu bringen,

3. die eigenen Traumata soweit überwunden haben, dass er affektiven Provokationen und emotionalen Anforderungen standhalten kann, weniger ‚blind’ agiert und über die eigene Betroffenheit nachzudenken vermag,

4. fähig werden, seine Gefühlsreaktionen auf die unbewussten Inszenierungen seiner Klienten so wahrzunehmen, dass er sie zu deren Verständnis nutzen kann…“ (Leber 1985, S. 160f.).

Literatur

Bernfeld, S. (1925/1981). Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Dauber, H. (2006). Selbstreflexion im Zentrum pädagogischer Praxis. In H. Dauber, R. Zwiebel (Hrsg.), Professionelle Selbstreflexion aus pädagogischer und psychoanalytischer Sicht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 11 – 39.

Freud, S. (1905e). Bruchstücke einer Hysterieanalyse. GW V (161 – 286). Frankfurt: Fischer.

Hierdeis, H. (2016). Psychoanalytische Pädagogik – Psychoanalyse in der Pädagogik. Stuttgart: Kohlhammer (= Psychoanalyse im 21. Jahrhundert. Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen).

Hierdeis, H. (2017). Selbstreflexion. In K. Ziemen (Hrsg.), Lexikon Inklusion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 205 – 207.

Leber, A. (1972). Psychoanalytische Reflexion – ein Weg zur Selbstbestimmung in Pädagogik und Sozialarbeit. In A. Leber, H. Reiser (Hrsg.), Sozialpädagogik, Psychoanalyse und Sozialkritik. Neuwied, Berlin: Luchterhand, 13 – 52.

Leber, A. (1985). Wie wird man psychoanalytischer Pädagoge. In G. Bittner, C. Ertle (Hrsg.), Pädagogik und Psychoanalyse. Beiträge zur Geschichte, Theorie und Praxis einer interdiszipliären Kooperation. Würzburg: Königshausen & Neumann, 151 – 165.

Schüssler, G. (2018). Balint-Gruppen und ihre Bedeutung in der Medizin. In H. Hierdeis, M. Scherer (Hrsg.), Psychoanalyse und medizin. Perspektiven, Differenzen, Kooperationen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 271 – 282.

Würker, A. (2007). Lehrerbildung und Szenisches Verstehen. Professionalisierung durch psychoanalytisch orientierte Selbstreflexion. Baltmannsweiler-Hohengehren: Schneider.