Martin R. Textor
Kindertageseinrichtung - eine Institution, wo Kinder den Tag verbringen. Kindertagesstätte - ein Ort, an dem Kinder während des Tages sind. Begriffe ohne jegliche pädagogische Bedeutung. Ganz anders der Begriff "Schule" - eine Institution, in der Kinder beschult oder geschult werden. Da wird sofort der Bildungsauftrag deutlich. Und erst dieses sinnlose Kürzel "Kita" oder gar "KITA". Kein Lehrer käme auf die Idee, Realschule mit "RESC" oder Gymnasium mit "Gysi" abzukürzen.
Ganz anders bei Kindergarten - ein Garten, in dem Kinder "gehegt" werden. Da steckt Frühpädagogik in bestem Sinne drin. Wie schon in kleinsten Pflänzchen ein Wachstumsdrang zu beobachten ist, so wollen Kleinkinder von sich aus Kompetenzen ausbilden und Kenntnisse erwerben: Sie bilden sich weitgehend selbst bzw. in ko-konstruktiven Interaktionen mit anderen Personen. Je jünger Kleinkinder sind, umso weniger lassen sie sich belehren oder gar unterrichten. Deshalb sind auch Förderangebote so wenig effektiv (außer unter kontrollierten Bedingungen wie bei ihrer Entwicklung und Erprobung), ist eine Verschulung des Kindergartens zum Scheitern verurteilt - was Fachleute spätestens seit Ende der 1970er Jahre wissen sollten (wofür sie sich aber heute ein wenig mit der Geschichte der Pädagogik befassen müssten, was viele leider nicht tun: So werden immer wieder dieselben "Räder" erfunden). Das (Frei-) Spiel ist die kindgemäße Form des Lernens - und das ist sogar seit Jahrhunderten bekannt.
Wie Pflänzchen, für die der Boden gelockert werden muss, benötigen Kleinkinder im Kindergarten eine vorbereitete Umgebung voller Lernanreize. Gelegentlich sind auch Bildungsangebote sinnvoll, wenn sich Kinder nicht auf andere Weise bestimmte Kompetenzen oder Kenntnisse aneignen können. Vermutlich sind sie etwas häufiger angezeigt als Düngergaben - Balkonpflanzen sollten immerhin einmal pro Woche gedüngt werden. Wie Pflänzchen, deren Wachstum immer wieder kontrolliert und z.B. durch Wässern gefördert wird, benötigen Kleinkinder Erzieher/innen, die sich als Lern- oder Bildungsbegleiter/innen verstehen, also die Entwicklung und das Lernen der Kinder beobachten und bei Bedarf immer wieder neue Impulse geben.
Das Vorherrschen von (Frei-) Spiel, Selbstbildung und ko-konstruktivem Lernen bedeutet also keinesfalls, dass sich Erzieher/innen zurückziehen und sich z.B. nur auf das Erstellen von Portfolios oder Lerngeschichten konzentrieren dürfen. Nein, Entwicklungs- und Bildungsbegleitung sind bei weitem anspruchsvoller als Lehren und Unterrichten! So sollte auf die Aktivitäten und Mimik von Babys und Kleinstkindern mit verbalen Äußerungen, Blickkontakt oder Zulächeln reagiert werden, und eigene Handlungen wie z.B. das Füttern und Wickeln sollten an den Reaktionen des Kindes orientiert und sprachlich begleitet werden. Während dies Erzieher/innen und Eltern (weitgehend) bewusst ist, lassen die individuelle Begleitung, die intensive Zuwendung und das häufige "Sprachbad" bei (älteren) Kleinkindern oft zu wünschen übrig. Aber auch hier müssen Entwicklung und Lernen kontinuierlich begleitet und stimuliert werden - eine weit verbreitete falsche Haltung ist, dass sich z.B. Dreijährige durch Nachahmung von älteren Kleinkindern Kompetenzen, Sprache und Kenntnisse ausreichend aneignen würden. Erzieher/innen sind jedoch bei weitem bessere Modelle und Vorbilder! Wenn sie mit einem Drei- oder Vierjährigen sprechen, kann er sich einen größeren Wortschatz und bessere grammatikalische Strukturen aneignen wie wenn er nur mit Fünfjährigen kommuniziert. Wenn Erwachsene auf Fragen eines Kleinkindes empathisch reagieren, werden sie diese viel besser beantworten können als ein etwas älteres Kind, werden sie z.B. stärker das Beobachten und (Nach-) Denken anregen und mehr Kenntnisse vermitteln (sinnvollerweise nur in dem Maße, wie das jeweilige Kind Interesse zeigt und aufnahmefähig ist). Wenn sie sich an einem Rollenspiel beteiligen, können sie dieses viel komplexer gestalten, als wenn Kleinkinder alleine spielen, also neue Rollen, Ideen und Begriffe einführen.
Lern- und Bildungsbegleitung bedeuten also, dass Erzieher/innen die Selbstbildung, ko-konstruktive Interaktionen zwischen Kleinkindern und deren Entwicklung genau beobachten und aktiv werden, wenn dies sinnvoll erscheint. Dabei werden sie sich immer nur einem oder einigen wenigen Kindern widmen können. Das bedeutet, dass ein einzelnes Kind vielleicht nur einmal oder wenige Male pro Woche zum Zuge kommt, da die Kindergartengruppen zu groß sind. So besteht keine Gefahr, dass Frei- und Rollenspiel, Selbstbildung und ko-konstruktives Lernen von der Erzieher/innen dominiert und "pädagogisch besetzt" wird - den Kleinkindern bleiben genügend Freiräume. Auch im Garten wird ja nicht jedes Pflänzchen täglich kontrolliert und gehegt!
Übrigens: In einem Garten entwickeln sich Pflanzen vom Samenkorn bis zur Reife. Es gibt also keinen Grund, den Begriff "Kindergarten" auf die Drei- bis Sechsjährigen zu verengen. Er ist auch ein Ort für Babys, Ein- und Zweijährige! In der frühpädagogischen Einrichtung "Kindergarten" werden sie gehegt und gepflegt - der Begriff "Kinderkrippe" erinnert hingegen an "Futterkrippe", wo man nur etwas zu (fr)essen bekommt...