Sascha Dümig
Einleitung
Nach und nach werden den Bürgern der BRD die Auswirkungen von jahrzehntelanger fehlgeleiteter Politik sichtbar und mehr und mehr auch im Alltag konkret fühlbar. Während allerdings grundlegende Kritik an der energiepolitischen Ausrichtung der letzten Jahrzehnte oder dem Management der Deutschen Bahn öffentlich transparent ist, so bezieht sich die Kritik im Bereich der Bildung meist oberflächlich auf den Zustand deutscher Schulen und auf den messbaren Personalstand in den pädagogischen Einrichtungen. Tiefer schürfen möchte man wohl nicht, vielleicht um einer simplen Wahrheit von Bildung zu entgehen – weil man genau weiß, dass sie nicht nur eine wirtschaftliche Ressource, sondern rückwirkend, spiegelnd, identitätsstiftend ist. „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“ (Nietzsche), so könnte man es fassen, wenn man den Blick auf die Bildung in Deutschland wirklich wagt. Man könnte es auch etwas pointierter auf den Punkt bringen, um was für ein wirkliches Skandalon es sich eigentlich handelt: Seit nunmehr mindestens zwei Jahrzehnten stopft sich eine Bildungsindustrie, und mit ihr die sogenannten Bildungsexperten an deutschen Universitäten und Hochschulen, mit den immer gleichen Plattitüden die Taschen mit staatlichen Fördergeldern voll und eine Standortbestimmung offenbart nur eines – nichts, aber auch wirklich nichts, ist in der Bildung besser geworden:
- Lesen, Schreiben und Rechnen gelingen immer schlechter: z.B. erreicht jeder vierte Schüler der vierten Klasse nicht das Mindestniveau beim Textverständnis (vgl. IGLU Studie 2021), jeder dritte Viertklässler kann nicht richtig schreiben (vgl. IQB-Bericht 2021),
- Das Sozialverhalten der Kinder und Jugendlichen entwickelt neue Tiefpunkte: 60% aller Kinder in Deutschland sind von Hänseleien, Ausgrenzungen und körperlicher Gewalt an der Schule betroffen (vgl. Bertelsmann-Studie 2019), die Gewalt gegen Lehrkräfte steigt massiv an (forsa-Studie 2022)
- Deutsch als Zielsprache wird immer weniger adäquat erworben (nach Daten der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) sind ca. 58 % mehr Fälle von Sprachstörungen als 2011 zu verzeichnen (Anm. Dümig: was wohl nicht zuletzt an der totgeschwiegenen Praxis liegen könnte, dass Kinder mit Migrationshintergrund und nicht gelungenem Deutscherwerb mit einer Sprachentwicklungsstörung diagnostiziert werden und entsprechend eine logopädische Behandlung bekommen) nach Zaretzky et al. (2023) sind 57% der hessischen Kinder zur Schuleingangsuntersuchung sprachpädagogisch förderbedürftig und/oder klinisch abklärungsbedürftig).
Solche Studienergebnisse laufen regelmäßig durch die Presse, aber niemand fragt, wie es in Anbetracht allein eines Anstiegs der Investitionen im Elementarbereich von 1995 bis 2014 von 8,6 Mrd. Euro pro Jahr auf 20,8 Mrd. Euro (Statistisches Bundesamt: Bildungsfinanzbericht 2015) sein kann, dass die Kinder und Jugendlichen, die unter dieser „Bildungsoffensive“ groß geworden sind, dermaßen weit von einem wirklichen Bildungserfolg entfernt sein können. Es liegt schlicht nahe, dass nicht einfach mehr Geld benötigt wird, wie es die Parteien tretmühlenartig im Wahlkampf plakatieren, sondern dass eine grundlegende Strategie gescheitert ist. Für den elementarpädagogischen Bereich, um den es hier wesentlich gehen soll, ist diese Strategie in Form von Bildungsplänen für jeden sichtbar manifestiert. Die ersten Bildungspläne in ihren unterschiedlichen Ausformungen (für einen Überblick s. Textor 2008) wurden, oberflächlich betrachtet, als politische Reaktion auf die schlechten Ergebnisse in PISA-, IGLU- und OECD-Studien entwickelt, wobei die ersten Pläne im Jahr 2004 vorlagen, vor gut 20 Jahren also. Man sollte also meinen, dass hinreichend Zeit vorhanden gewesen wäre, um zu einer gravierenden Verbesserung des Bildungswesens beizutragen. Wer verstehen möchte, was verkehrt gelaufen ist und immer noch schiefläuft, der kommt m. E. nicht umhin den grundsätzlichen Antritt der Bildungspläne historisch einzuordnen und die sozial- und bildungswissenschaftliche Analyse auch auf die ansonsten von außen analysierenden Sozial- und Bildungsinstitutionen selbst anzuwenden.
Staatliche Aktivierungspolitik und das Kreisen um das Subjekt
Ab der Mitte der 1990er Jahre fand ein wesentlicher Wandel in der sozialpolitischen Ordnung der BRD statt. Bis dahin wurde ein konservatives Wohlfahrtsstaatsmodell (vgl. Esping-Andersen 1999) realisiert, in dem der Staat vor allem eine marktgenerierte Status-Hierarchie stützt und sichert. So gibt es hier eine starke Verbindung von Lohnarbeit mit sozialen Ansprüchen in dem Sinne, dass nur wer arbeitet und in Versicherungen einzahlt, auch soziale Gegenleistungen erwarten darf. Ein Eingriff des konservativen Wohlfahrtsstaates erfolgt nur dann, wenn Bürger nicht mehr eigenverantwortlich für sich sorgen können, was wenig Umverteilung zur Folge hat (vgl. Lippl 2008). Insgesamt ist Sicherheit der dominante Wertebezug in diesem Wohlfahrtsstaatsmodell.
Im o.g. Zeitraum fand nun eine (neo-)liberale Umformung des Sozialstaates statt (ein liberaler Wohlfahrtsstaat limitiert Sozialleistungen für Niedriglohngruppen, ermuntert zur Privatisierung von Wohlfahrt und der freie Markt wird betont (Oschmiansky & Berthold 2020)). Grund für diese Transformation war, dass die konservativ-wohlfahrtsstaatliche Regulationsweise zunehmend „in Konflikt mit den Profitinteressen des Kapitals“ (Bettinger 2021: S. 51) geriet, d.h. als Wettbewerbsnachteil auf dem internationalen Markt angesehen wurde. Nach Bettinger beinhaltet die neoliberale Logik, dass der Staat nicht mehr Leistungen, wie z.B. Statussicherheit, für die Bürger garantiert und Teilhabe und Teilnahme ermöglicht,
„[...] sondern Menschen zur Arbeit zu aktivieren, zu mehr Leistung anzuspornen, sie zur Bildung von Humankapital anzutreiben und sie so fit und konkurrenzfähig für den Wettbewerb auf den Märkten (Bildung, Arbeit, Konsum, Gesundheit u. a.) zu machen. In diesem Zusammenhang ist die Konstituierung eines Aktivierenden Staates auf der Grundlage neoliberaler Ideologie bzw. unter Bezugnahme auf in neoliberalen Diskursen produzierten Wissensformen und Deutungsschemata zu begreifen, dem es um die Implementierung einer neuen politischen Rationalität und Terminologie, um einen neuen Regierungsmodus (Führung durch Selbstführung) geht.“ (ebd.: 53)
Der Umformungsprozess von einem „versorgenden“ zu einem „aktivierenden“ Sozialstaat wurde spätestens mit der rot-grünen Koalition unter Kanzler Schröder wesentlich etabliert (vgl. Lessenich 2012). Es wurden allerdings nicht nur staatliche Institutionen neu ausgerichtet, sondern auch nicht-staatliche Akteure (z. B. Wohlfahrtsverbände, Sozialpartner) quasi als „Erfüllungshelfer“ in staatlich geprägte Strukturen eingebunden.“ (Moisl 2010: S. 8) Insgesamt hatte die Etablierung der neoliberalen Aktivierungslogik eine zunehmende Subjektivierung, eine Konzentration auf das vereinzelte Marktsubjekt, zur Folge. Lessenich spricht von einer „Subjektivierung des Sozialen im Zeichen der „Aktivierung““:
„An die Stelle „passiven“ Leistungsbezugs soll hier aktive Leistungserbringung treten, aus Versorgungsempfängern sollen Leistungsanbieter werden – ein Jeder und eine Jede nach seinen/ihren Fähigkeiten. Das institutionelle Angebot von gesellschaftlichen Beteiligungschancen und die institutionalisierte Erwartung ihrer individuellen Wahrnehmung, die Möglichkeit und die Verpflichtung zur (Markt‐)Teilnahme liegen hier nah beieinander.“ (ebd.: S. 47)
Die Konzentration auf den Einzelnen, auf das Subjekt und sein Angebot an die Gesellschaft (wie z.B. seine Kompetenzen), entstand also mit einer neuen politischen Ausrichtung auf den kapitalistischen Markt. Gewinn und Verlust auf diesem Markt liegt nach dieser Ausrichtung aber hauptsächlich in der Verantwortung des Subjekts, weshalb es zunehmend um sich selbst zu kreisen und sich zu optimieren hat. Dies beinhaltet natürlich seine Qualitäten gemäß der aktuellen Nachfrage bei anderen Subjekten angemessen verkaufen zu können.
Zu dieser umfassenden sozialen Umformung der Gesellschaft, die hier nur schlaglichtartig illustriert werden kann (für ausführliche Ausführungen siehe Lessenich 2012), gehören selbstredend auch „engagierte Bürgerinnen und Bürger, die bereit und in der Lage sind, kooperativ mit anderen und/oder dem Staat ihre Lebensumstände zu verbessern und das Gemeinwesen zu gestalten und dabei Verantwortung zu übernehmen." (Groner-Weber 2000) Im Zuge dieser Aktivierungspolitik, so hier die Annahme, entstanden 2004 folgerichtig die Bildungspläne der Länder und mit ihnen die zunehmende „Neue Steuerung“ des elementarpädagogischen Bereichs durch den Staat bzw. Land und Kommunen (vgl. Ulshöfer 2016). In Letzterer wird nicht (nur) über Zuweisungen von Haushaltsmittel, sondern (zusätzlich) über den gewünschten Output, d.h., die Produktqualität gesteuert:
„Somit werden zur Messung pädagogischer Qualität, die Evaluationsprozesse durch die gesetzlichen Bildungsstandards geleitet. Über Beobachtungen wird der „Ist-Zustand“ erhoben und anschließend, z.B. über die Ergebnisse kindlicher Aktivitäten (z.B. Zeichnungen, Fotos, Lesetagebücher...)“ (H-BEP: S. 116) dokumentiert. Darauf aufbauend kann ein zu erreichender „Soll-Zustand“ formuliert werden, der die benötigten Mittel beschreibt und mit den Möglichkeiten des Kindes in Einklang bringt.“ (ebd.: S. 212)
Die Umsetzung des frühkindlichen Bildungsverständnisses der Bildungspläne, der gesetzliche Bildungsstandard, ist also gemäß der Neuen Steuerung der Maßstab für Qualität, mit denen letztlich auch der Weg zu den neuen „engagierten“ Bürgern und Bürgerinnen geebnet werden sollte und immer noch soll. Zentral für eine solche Steuerung ist das Bild vom Kind, das von den Fachkräften als gesetzlicher Bildungsstandard zu übernehmen ist.
Das politisch intendierte Bild vom Kind
In der Einleitung wurde darauf verwiesen, dass die Bildungspläne als eine Reaktion auf diverse Bildungsstudien und -ergebnisse entstanden. Nach den Ausführungen des letzten Kapitels sollte deutlich geworden sein, dass viel tieferliegende wirtschafts- und sozialpolitische Umformungsprozesse wesentlich waren. Für die neue Aktivierungspolitik benötigt man Bürger, die in ihrem Subjekt-Sein aufgehen und sich ihre subjektiven Leistungen, Fähigkeiten und Kompetenzen in einer kooperativen Art und Weise gegenseitig anbieten. Das soziale Miteinander als eigene Kategorie verschwindet in einer solchen Vorstellung, vielmehr tritt mit der Subjektivierung die anbietende Aushandlung, der Markt von vielen Einzelnen in den Vordergrund. Jeder, der halbwegs Kenntnis der aktuellen Erziehungsliteratur und der Bildungspläne hat, wird an diesem Punkt merken, dass hier eine starke Übereinstimmung des aktivierungspolitischen Antritts besteht. So betont z.B. der Hessische Bildungsplan sehr ausdrücklich, ja fast unverhohlen:
„Wirtschafts- und Arbeitswelt sind einem permanenten Wandel unterworfen, aus denen veränderte Anforderungen an den Einzelnen und an das Bildungssystem resultieren. Anspruchsvoller gewordene Aufgaben verlangen ein hohes Maß an Konzentrationsfähigkeit, logisch-analytischem Denken, Problemlöse- und Orientierungsfähigkeiten in komplexen Zusammenhängen. Eine veränderte dezentrale Arbeitsorganisation bedarf der Teamarbeit und Kommunikationsfähigkeit über rein fachbezogene Angelegenheiten hinaus. Es werden zunehmend Eigeninitiative, Lernbereitschaft, Verantwortungsübernahme, Kreativität und Innovationsfreude erwartet. Gefragt sind nicht nur Wissenserwerb, sondern darüber hinaus Lern- und andere Metakompetenzen.“ (Hessisches Ministerium für Soziales und Integration/Hessisches Kultusministerium 2016: S. 17).
Sind die Übereinstimmungen im Antritt schon frappant, so findet die aktivierungspolitische Subjektivierung in der pädagogischen Subjektorientierung, insbesondere im Ansatz der Ko-Konstruktion ihren pädagogischen Zwilling (die meisten Bildungspläne gehen von einer Form des Konstruktivismus aus, machen diese aber unterschiedlich stark. Im Beschluss Gemeinsamer Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen (KMK 2022) wird Ko-Konstruktion als ein gängiger Ansatz und eine etablierte Lernmethode vorgestellt. Alle Bildungspläne betonen ausdrücklich die Fokussierung des Subjekts und seiner Kompetenzen). Nicht mehr geht es um Gemeinsamkeiten einer geteilten Welterkenntnis, sondern darum, wie isolierte Subjekte sich gegenseitig ihre subjektiven Wahrnehmungen und Interpretationen übermitteln und diese auf einem Markt kooperativ aushandeln können. Kriterien wie richtig oder falsch, wahr oder unwahr, verlieren unter dieser Anschauung vollständig ihren Sinn und es bleibt nur der Meinungskonsens einer Menge von Individuen. Es bleibt zu ahnen, dass wer sich mehr „engagiert“ als andere, auch die „richtige“ Bedeutung finden wird. Man muss sich Sätze, wie die von Prof. Fthenakis, in der heutigen Zeit wirklich auf der Zunge zergehen lassen:
„Fachkräfte können mit Kindern Wissen ko-konstruieren, indem sie die Erforschung von Bedeutung stärker betonen als den Erwerb von Fakten. Für den Erwerb von Fakten müssen Kinder beobachten, zuhören und sich etwas merken. Die Erforschung von Bedeutung dagegen heißt, Bedeutungen zu entdecken, auszudrücken und mit anderen zu teilen, ebenso wie die Ideen anderer anzuerkennen.“ (Fthenakis 2015)
Fthenakis negiert nicht den Erwerb von Fakten, aber in seinem Ansatz der Ko-Konstruktion wird suggeriert, dass Faktenlernen, wenn überhaupt, rein individuell geschieht, während das auf Erklärung gerichtete Lernen, das Lernen der Bedeutung von Dingen, immer auf dem Weg der Aushandlung geschehe. Gerade im sozialen Lernen werden somit Fakten und Realität ausgeklammert und das richtige Argument und die richtige Wahrnehmung von Realität haben im sozialen Miteinander keine Geltung mehr. Abb. 1 stellt vereinfacht den Ansatz der Ko-Konstruktion dar, in dem die Welt eine Konstruktion des Individuums ist und Erklärungen über die Welt nur Aushandlungsergebnisse dieser Konstruktionen. Es wird hier deutlich, wie sehr der Ko-Konstruktivismus einen Subjektivismus darstellt und gerade deshalb im Rahmen der oben dargestellten Aktivierungspolitik die „richtige“, d.h. passendste Erziehungsideologie darstellt.
Abbildung 1: Schematische Darstellung von Ko-Konstruktion.
Die Folgen der hier skizzierten Erziehungsideologie sind umfassend und inzwischen zeigen sich gravierende Wirkungen in unserer Gesellschaft an. Die Meinungsfreiheit ist in massiver Gefahr (vgl. vor allem den Roland Rechtsreport 2022 des IfD Allensbach, nach dem nur 45% der westdeutschen Bevölkerung angab, dass man in der Öffentlichkeit seine Meinung frei äußern könne), nicht, weil keine Meinung mehr geäußert werden könnte, sondern Meinungen nur noch nach Anzahl der Anhänger als richtig wahrgenommen werden, ganz so, wie es die Ko-Konstruktion als richtige Methode veranschlagt. Es gilt also soziale Masse über realitätsbezogenes Argument, so könnte man es formelhaft fassen und viele der eingangs erwähnten Problematiken scheinen mir ein Ableger dieser subjektzentrierten Erziehungsideologie zu sein. Wenn nur noch der Meinungs-Mainstream meiner gesellschaftlichen Bezugsgruppe maßgeblich ist und keine argumentativ begründeten Normen, dann richtet sich der moralische Kompass des Subjekts folgerichtig hiernach aus.
Digitale soziale Netzwerke dienen dieser Grundausrichtung als Brandbeschleuniger, da kein Subjekt Schwierigkeiten hat, etliche Meinungsgleiche zu versammeln und sich mit anderen Meinungsgleichen zu bekriegen. So gerät die Gesellschaft immer mehr in den Strudel einer destruktiven Diversität von Gruppierungen, denen ihre subjektiven Etikettierungen nur zur Abgrenzung und Abwertungen von anderen dient. Selbstredend lösen sich im Rahmen dieser subjektzentrierten Erziehungsideologie die Anerkennung von Autorität, Institution, Gemeinschaft, Normen und Andersdenkenden komplett in ihrem Sinn auf. D.h., wenn alle in meiner Bezugsgruppe schlecht rechnen und schreiben, dann ist es auch für mich ok, wenn alle in meiner Bezugsgruppe aggressiv sind, ist es auch für mich ok und wenn alle in meiner Bezugsgruppe kein Deutsch sprechen, dann ist es auch für mich ok. Für die Gemeinschaft im Ganzen, dem vernünftigen Einzelnen und den Staat sollte dies allerdings nicht in Ordnung sein und deshalb muss dringend erkannt werden, dass wir mit der Erziehungsideologie der Bildungspläne der gesellschaftlichen Destruktion in die Hände spielen und in der BRD eine grundlegende Neuausrichtung in der Elementarpädagogik wie im sozialen Bereich insgesamt brauchen.
Plädoyer für eine sozial-objektivistische Wende
Den Fachkräften im Erziehungs- und Bildungsbereich werden die Kosten der oben dargestellten Erziehungsideologie unmittelbar weitergegeben. Diese müssen nach den Bildungsplänen in Hinblick auf die Meinungskollektive bedürfnis- und kultursensitiv sein und sich zu den Dienstleistern von Einstellungen machen, die sie intuitiv und reflexiv als falsch bis gefährlich erachten. Was genau sind richtige und falsche Bedürfnisse? Wie genau soll ich gegenüber Kulturen und Familien sensitiv sein, in denen die Unterdrückung von Frauen, die Abwertung von Homosexualität und das Schlagen von Kindern legitim ist? Die Idee, dass ich durch die inhaltsleere, forderungs- und argumentationsfreie Anerkennung von Anderen helfe und gar bilde, offenbart sich gerade auch auf weltpolitischer Bühne als eine zutiefst naive und destruktive und unterstützt, wie deutlich geworden sein sollte, nur diejenigen, die kalkuliert darauf setzen, wie man sich mit Hilfe von Masse, Macht und Netzwerken durchsetzt.
Wir brauchen eine inhaltlich fordernde und argumentationsbasierte Neuausrichtung unserer Bildung. Nicht im Sinne von Schulwissen, sondern im Sinne einer Realität, die uns allen Werte und Wissen anbietet und in der wir alle Suchende von Wahrheit in Hinblick auf diese uns einende Realität sind (vgl. Abb. 2). Realität erschöpft sich in einem solchen Verständnis eben nicht in physikalischen Gegebenheiten. Auch soziale Institutionen, Normen und Regeln sind objektive Tatsachen, die uns Grenzen setzen und Orientierung bieten (vgl. Dümig 2021a). Da sie aber von der Gesellschaft der Bürger und Bürgerinnen durch Sprache erzeugt und tradiert wurden, sind sie auch kritisier- und veränderbar. Entscheidend aber ist, dass wir ohne die Annahme einer Objektivität oder Tatsächlichkeit der physikalischen und der sozialen Welt uns gänzlich einer aufgeklärten Urteilsfähigkeit berauben. Um es auf den Punkt zu bringen: Physikalische und soziale Tatsachen haben Wirkungen und anhand dieser, und nur anhand dieser, können wir bestimmen, was besser und schlechter für das Leben jedes Einzelnen ist, was unser Leben fördert oder beeinträchtigt. Die Menschenrechte als soziale Institution (eine von uns geschaffene Tatsache) machen für die Menschheit insgesamt das Leben besser, sie sind für jeden Menschen als positiv zu erachten und deshalb universal durchzusetzen. Religiöser Fanatismus und Ausgrenzung Andersdenkender (auch eine geschaffene Tatsache) erzeugen hingegen Leid für viele Menschen und sind deshalb abzulehnen. Solche schlichten Maßstäbe werden durch einen ko-konstruktivistischen Relativismus komplett negiert, da nur der soziale Konsens einer hinreichenden Masse und nicht die Wirkung in einer objektiven Wirklichkeit betont wird. Argumentieren, kritisieren und diskutieren kann man eben nur, wenn die Meinung nicht der letztgültige Maßstab ist, sondern Wahrheitswerte, die uns in Form von Tatsachen gegeben sind.
Abbildung 2: Schematische Darstellung des Sozial-Objektivismus.
In diesem Sinne geht der Sozial-Objektivismus (Dümig i.Vorb.; für ein erstes Modell in diesem theoretischen Rahmen, das Institutionelle Sprungtuchmodell des Charaktererwerbs (ISC), siehe Dümig 2021b, Dümig 2022) von drei Prämissen aus:
1) Es existiert eine physikalische und soziale Wirklichkeit unabhängig von unseren subjektiven Vermögen (Wahrnehmung, Kognition, Emotion).
2) Die soziale Wirklichkeit ist von uns durch Sprache erzeugt und entfaltet in Institutionen reale Wirkungen. Weil sie von uns erzeugt wurde, ist sie durch uns auch kritisier- und veränderbar. Dies wird durch zunehmende Sprechhandlungsbewusstheit (Dümig 2021a) möglich.
3) Durch die Anerkennung der Wirkungen der physikalischen und sozialen Wirklichkeit ergibt sich eine grundlegende ethische Folgerung: Wirkungen, die das Leben der vielen Einzelnen fördern, sind gut, Wirkungen, die das Leben der vielen Einzelnen beeinträchtigen sind nicht gut.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Es sollte deutlich geworden sein, dass eine Passung zwischen einer staatlichen Aktivierungspolitik und sozialpädagogischen wie auch bildungspolitischen Ansätzen besteht. Die Bildungspläne zeigen diese Passung durch eine ausschließliche Subjektzentriertheit, die am Beispiel der Ko-Konstruktion offenbar geworden sein sollte. Als Teil einer gezielten politischen Agenda (die ich hier bewusst als Ideologie bezeichne) muss man die Bildungspläne und mit ihnen die Hauptverantwortlichen und Linientreuen endlich konkret mit den gesellschaftlichen Resultaten konfrontieren und breitenwirksam kritisieren. Es kann und darf nicht sein, dass vor allem die sogenannte akademische Exzellenz an Universitäten und Hochschulen über zwanzig Jahre lang Ideen (re-)produziert, die so offensichtlich an der praktischen Realität des Landes vorbeizielen, dass sie sich zunehmend destruktiv auswirken. So inhaltsleere wie narkotisierende Phrasen wie „Eltern sind die Experten ihrer Kinder“ oder „Das Kind als Konstrukteur seiner eigenen Entwicklung“ kann man sich wahrlich nur leisten, wenn man die Daten der Kinder-und Jugendhilfe geflissentlich ignoriert und niemals auch nur einen Tag mit der Alltagspraxis einer Kita in einer Großstadt zu tun hatte. Während hier schon von Vorschulkindern massive Kultur- und Religionskämpfe ausagiert werden (mit Anfeindungen wie „du Christ“ oder „du Jude“), in Schulgebäuden systematisch auf den Boden gespuckt und zur Einschulung kaum Deutsch gesprochen wird, konzentriert man sich in der akademischen Parallelgesellschaft lieber manisch auf das subjektivistische Eiapopeia der Bildungspläne (nach Heinrich Heine: „Das Eiapopeia vom Himmel, Womit man einlullt, wenn es greint, Das Volk, den großen Lümmel.“). Wie aber schon Jean-Paul Sartre bemerkte, brauchen die arbeitenden Klassen keine Ideologie, sondern vielmehr dir praktische Wahrheit über die Gesellschaft (vgl. Sartre 1995). Diese praktische Wahrheit ist aktuell in Anbetracht eines aufstrebenden islamischen Antisemitismus und den Wahlerfolgen von Rechtspopulisten so notwendig wie nie in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
In diesem Sinne möchte ich hier ein weiteres, abschließendes Plädoyer anbringen: Beziehen wir doch endlich die Fachkräfte und ihre Erfahrungen vor Ort mehr in die Planungen und Konzeptionen mit ein! Die einfache Frage „Was benötigt ihr?“ würde mit großer Wahrscheinlichkeit mehr Probleme lösen, als eine zwanzigjährige, kostenintensive und augenscheinlich wirkungslose „Bildungsoffensive“ von oben.
Endnoten
[1] Der Titel ist angelehnt an das Buch von J. Hillman und M. Ventura (1993) „Hundert Jahre Psychotherapie – und der Welt geht’s immer schlechter“.
Literatur
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Dümig, S. (i. Vorb.). Sozial-Objektivismus – Grundlegungen für eine sozialwissenschaftliche Neuorientierung.
Esping-Andersen, G. (1999). Social Foundations of Postindustrial Economics. New York: Oxford University Press.
Groner-Weber, S. (2000). Der aktivierende Staat. Konzepte und Entwicklungsoptionen. In: Mezger, E. & West, K.-W. (Hrsg.). Aktivierender Sozialstaat und politisches Handeln. Marburg: Schüren, S. 167-172.
Hessisches Ministerium für Soziales und Integration/Hessisches Kultusministerium (Hrsg.) (2016). Bildung von Anfang an. Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder im Alter von 0 bis 10 Jahren in Hessen. 7. Auflage.
Hillman, J. & Ventura, M. (1993). Hundert Jahre Psychotherapie -und der Welt geht’s immer schlechter. Zürich/Düsseldorf: Walter Verlag.
Lessenich, S. (2012). „Aktivierender“ Sozialstaat: eine politisch‐soziologische Zwischenbilanz. In: Bispinck, R., Bosch, G., Hofemann, K. & Naegele, G. (Hg.). Sozialpolitik und Sozialstaat. Festschrift für Gerhard Bäcker. Wiesbaden: Springer VS, S. 41-53.
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Moisl, D. (2010). Aktivierender Sozialstaat und Herausforderungen für die Evaluationsforschung. Standpunkt : sozial
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Sartre, J.-P. (1995). Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Artikel, Reden 1950-1973. Reinbek: Rowohlt Verlag.
Ulshöfer, B. (2016). Neue Steuerung – Neue Professionalität? Eine Governance-Analyse zur Fachkraft im Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan. Weinheim Basel: Beltz Verlag.
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Bilnachweise:
Abbildung 1:
https://de.freepik.com/icon/weltweit_814587#fromView=keyword&term=Erde&page=1&position=8 (abgerufen: 15. November 2023, 12:40 UTC)
https://de.freepik.com/icon/gehirn_2491413#fromView=keyword&term=Gehirn&page=4&position=22 (abgerufen: 15. November 2023, 12:40 UTC)
Abbildung 2:
https://de.freepik.com/icon/gruppe_5003826#fromView=search&term=person&page=3&position=21 (abgerufen: 15. November 2023, 12:40 UTC)
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Autor
Dr. phil. Sascha Dümig arbeitet zurzeit als Dozent an den Ludwig Fresenius Schulen, Frankfurt am Main. Er ist staatlich anerkannter Erzieher, Germanist und Psychologischer Berater.