Der Kindergarten sucht eine Heimat - Plädoyer für die Abschaffung von § 22 SGB VIII

In: Zentralblatt für Jugendrecht 2003, 90 (8/9), S. 310-313

Martin R. Textor

Was ist der Kindergarten - eine Jugendhilfe-, eine Betreuungs- oder eine Bildungseinrichtung? Dieser Frage soll in diesem Artikel nachgegangen werden.

Der Kindergarten als Jugendhilfeeinrichtung

Auf Bundesebene ist die Kindertagesbetreuung nur im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert (§§ 22, 24, 26 SGB VIII). Sie steht hier zwischen Maßnahmen der Prävention, Hilfen in Problemsituationen, Angeboten für Familien - die zerbrochen sind oder eine angemessene Erziehung ihrer Kinder nicht sicherstellen können - und den Hilfen zur Erziehung für verhaltensauffällige bzw. erziehungsschwierige Kinder und deren Eltern. Diese Gesetzesgrundlage ordnet den Kindergarten dem Jugendhilfebereich zu. Aus dem Kontext, in dem § 22 SGB VIII steht, kann geschlossen werden, dass der Kindergarten primär als familienunterstützendes und -ergänzendes Präventions- und Hilfeangebot für Familien verstanden wird - als Ort für Kinder, die von ihren Eltern nicht in ausreichendem Maße betreut oder gefördert werden können.

Diese Perspektive war in der Vergangenheit sicherlich berechtigt. So wurden Anfang des 19. Jahrhunderts die ersten Bewahranstalten für vernachlässigte Kinder aus den untersten sozialen Schichten gegründet, die von ihren Müttern nicht betreut werden konnten, da diese sechs Tage in der Woche von früh morgens bis spät abends arbeiten mussten. Auch die Mitte des 19. Jahrhunderts von Friedrich Fröbel gegründeten Kindergärten waren für Kinder gedacht, die zu Hause nicht die richtige Erziehung erfahren - hier allerdings für Kinder aus dem Bürgertum. Fröbel verband mit dieser Einrichtung eine mütterbildende Funktion: Junge Frauen und Mütter sollten durch den Kindergarten lernen, wie man Kleinkinder altersgemäß beschäftigt und ihre Entwicklung fördert.

Geht man von der Sichtweise "Kinderbewahranstalt" bzw. "Fröbelscher Kindergarten" aus, war es sicherlich berechtigt, dass 1991 mit der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) der Kindergarten dem Jugendhilfebereich zuordnet wurde. Im bis dahin geltenden Jugendwohlfahrtsgesetz war die Kindertagesbetreuung nicht geregelt; bis Ende 1990 gab es kein Bundesgesetz, in dem auf den Kindergarten Bezug genommen wurde.

Die "klassische" Jugendhilfe hat auf der einen Seite die Integration der Kindertagesbetreuung in ihren Bereich begrüßt, konnte sie doch neben der Jugendarbeit nun noch einen zweiten Bereich von Dienstleistungen für "normale" Kinder und Jugendliche "verbuchen". Sie ging davon aus, dass sie von nun an weniger als "Eingriffs-" und "Kontrollinstanz" bzw. als ein "Reparatursystem" betrachtet würde, sondern mehr als ein mit Familie und Schule vergleichbarer Sozialisationsbereich.

Auf der anderen Seite ist der Kindergarten nie richtig in den "klassischen" Jugendhilfebereich integriert worden. Dies wird bei Veranstaltungen wie den Deutschen Jugendhilfetagen deutlich, bei denen die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen überhaupt nicht oder nur am Rande thematisiert wird - und das, obwohl Kindertagesstätten den weitaus größten Teil der Jugendhilfeeinrichtungen ausmachen und Erzieher/innen mit Abstand die meisten Beschäftigten im Jugendhilfebereich stellen. So ist es nicht verwunderlich, dass man Erzieher/innen kaum auf Jugendhilfetagen oder vergleichbaren Veranstaltungen antrifft.

Renommierte Institutionen wie z.B. die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe, der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge oder das Institut für soziale Arbeit haben sich bisher eher am Rande mit dem Kindergarten befasst. In einzelnen Bundesländern sind die Sozialministerien (z.B. Berlin, Brandenburg, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland) oder die Landesjugendämter (z.B. Bayern) nicht für Kindergärten zuständig. Auch unterscheidet sich die Trägerstruktur bei Kindergärten von derjenigen anderer Jugendhilfeeinrichtungen, bilden viele Träger eigene Landes- und Bundesverbände außerhalb des Jugendhilfesektors. Schließlich organisieren sich Erzieher/innen und Träger in von Lehrer/innen dominierten Gewerkschaften/ Berufsverbänden (GEW, KEG, BLLV u.ä.). All dies spricht für die mangelnde Integration der Kindertagesbetreuung in den Jugendhilfebereich.

Der Kindergarten wird heute von mehr als 90 Prozent aller Kinder besucht und ist damit längst nicht mehr nur eine "Hilfeeinrichtung" für vernachlässigte oder schlecht erzogene Kinder. In der Öffentlichkeit wird er eindeutig als eine Regeleinrichtung für Kinder analog zur Schule gesehen - nicht als typische Jugendhilfeeinrichtung wie Heim, Pflegefamilie, Erziehungsberatungsstelle oder Jugendamt. Als Angebot für alle Kinder, das auch von nahezu allen Kindern bzw. deren Eltern genutzt wird, passt der Kindergarten nicht zu den anderen Jugendhilfeangeboten.

Der Kindergarten als Betreuungseinrichtung

Die Zuordnung des Kindergartens zum Jugendhilfebereich hat in den letzten 10 Jahren dazu geführt, dass dieser von Eltern, Politik und Öffentlichkeit (wieder) vorwiegend als eine Betreuungseinrichtung betrachtet wurde - obwohl in § 22 Abs. 2 SGB VIII von Bildung, Erziehung und Betreuung gesprochen wird. Dieser Perspektive entspricht, dass beispielsweise weniger öffentliche Mittel für den Kindergarten als für die Grundschule bereit gestellt werden, dass Eltern im Gegensatz zur Schule Teilnehmerbeiträge (Elternbeitrag - häufig sogar einkommensabhängig) entrichten müssen, dass das Personal nur über eine Qualifikation weit unter der von Lehrer/innen verfügt und die in Deutschland ausgebildeten Erzieher/innen in Europa das "Schlusslicht" bilden, dass die Betreuungszeiten ausgeweitet wurden, dass ohne Erweiterung des Personalschlüssels kaum noch Zeit für die Vorbereitung von "Bildungsangeboten" bleibt etc. Noch immer wird in manchen Kreisen die Auffassung vertreten, dass der Kindergarten nur Spielerei sei, Bildung und ernsthaftes Lernen erst in der Schule beginne.

Zur Definition von Kindergärten als reine Betreuungseinrichtungen haben in den letzten Jahren Wirtschaft und viele Politikbereiche ihren Beitrag geleistet:

  • Der Auftrag seitens der Arbeitsmarktpolitik an Kindertageseinrichtungen ist, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sicherzustellen, und zwar durch die Aufnahme von mehr Unter-Dreijährigen und Über-Sechsjährigen sowie durch Flexibilisierung und Ausweitung der Öffnungszeiten auf bis zu 10 Stunden. In der Koalitionsvereinbarung und der ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder nach der Bundestagswahl von 2002 kann nachgelesen werden, dass mehr Krippen- und Hortplätze geschaffen werden sollen und die Betreuungsdauer eine ganztägige Beschäftigung der Eltern ermöglichen soll, aber auch unübliche Arbeitszeiten (wie z.B. bei Halbtagsstellen am Nachmittag, Wochenendtätigkeit)
  • Der Auftrag der Wirtschaft an Kindertageseinrichtungen ist ein ähnlicher: Durch die Ausweitung der Tagesbetreuungsangebote soll erreicht werden, dass die Unternehmen Geld sparen. Wenn beispielsweise (hoch-) qualifizierte Frauen dem Betrieb nach der Geburt eines Kindes nicht für viele Jahre verloren gehen, sondern nach einer kurzen "Babypause" an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können, dann sind ihre unter großen betrieblichen Kosten erworbenen Qualifikationen noch up to date. Hinzu kommt, dass aufgrund der in den letzten zwei, drei Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangenen Geburtenzahlen immer weniger junge Arbeitnehmer/innen auf den Arbeitsmarkt kommen und es somit für Arbeitgeber zunehmend schwieriger wird, ausscheidende, Elternzeit nehmende oder aus familiären Gründen auf Teilzeit gehende Arbeitskräfte zu ersetzen - eine Entwicklung, die sich in den nächsten Jahren noch verschärfen wird.
  • Die Aufträge der Finanz- und der Sozialpolitik sind zwei Seiten derselben Münze: Die Finanzpolitik will mehr Geld einnehmen, die Sozialpolitik muss Geld sparen. Bleiben nämlich dank Kindertageseinrichtungen mehr (junge) Mütter (voll-) erwerbstätig, so erhöhen sie die Steuereinnahmen. Auch zahlen sie weiterhin Beiträge in die Sozialversicherungen ein. Für die Sozialpolitik werden negative Folgekosten vermieden, wenn Mütter dank guter Kinderbetreuungsangebote berufstätig bleiben - beispielsweise werden dann viele Alleinerziehende nicht sozialhilfebedürftig.
  • Sogar die Gleichstellungspolitik mischt mit: Erst die vollständige Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch entsprechende Kinderbetreuungsangebote ermöglicht die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Arbeitswelt.
  • Seitens der Bevölkerungspolitik wird von Kindertageseinrichtungen erwartet, dass sie etwas zur Erhöhung der Geburtenfreudigkeit beitragen. Es wird davon ausgegangen, dass sich mehr Frauen bzw. Paare für ein Kind oder für weitere Kinder entscheiden werden, wenn sie diese vom ersten bis zum 10. Lebensjahr gut betreut wissen.
  • Ein Auftrag seitens der Kirchen an Kindertageseinrichtungen ist, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu senken. Indem Fremdbetreuung von kurz nach der Geburt an sichergestellt wird, soll unerwünscht schwangeren Frauen - die ansonsten abtreiben würden - das Ja zum Kind erleichtert werden, weil sie es gleich in gute Hände abgeben können (Zur Erinnerung: Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wurde im Jahr 1996 eingeführt, um die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu reduzieren).

Anfang 2003 stellte Bundesfamilienministerin Renate Schmidt stolz das von ihrem Ministerium in Auftrag gegebene Gutachten "Abschätzung der (Brutto-) Einnahmeneffekte öffentlicher Haushalte und der Sozialversicherungsträger bei einem Ausbau von Kindertageseinrichtungen" des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vor: Wenn die Erwerbswünsche von arbeitslosen Müttern und Müttern in der sogenannten Stillen Reserve realisiert werden können, deren jüngstes Kind zwischen zwei und zwölf Jahre alt ist, könnten im Bereich der Einkommensteuer zwischen 1,1 und 6 Mrd. EUR, im Bereich der Sozialversicherungen zwischen 1,4 und 8,9 Mrd. EUR mehr eingenommen werden. Für die Kommunen wird von einem Einsparpotential von rund 1,5 Mrd. EUR für den Fall ausgegangen, dass alle allein Erziehenden mit Kindern unter 13 Jahren, die Sozialhilfe beziehen, eine Berufstätigkeit aufnehmen. Da im Bereich der Kindertagesbetreuung rund 430.000 neue Stellen geschaffen werden müssten, um allen Betreuungswünschen entsprechen zu können, kämen weitere zusätzliche Einkommensteuereinnahmen in Höhe von 1,3 Mrd. EUR und Beitragseinnahmen der Sozialversicherungsträger in Höhe von 4,4 Mrd. EUR zusammen. Deshalb will die Bundesregierung die Länder mit 4 Mrd. EUR beim Ausbau von Ganztagsschulen und mit 1,5 Mrd. EUR jährlich bei der Ausweitung des Betreuungsangebots für Kinder unter drei Jahren unterstützen.

In einer Zeit mit 4,5 Mio. Arbeitslosen ist es schon verwunderlich, dass sich die Bundesregierung Gedanken macht, wie sie Hunderttausende von Müttern, die sich zurzeit noch um ihre Kinder kümmern, dem Arbeitsmarkt zuführen können. Ganz deutlich wird aber, wie stark hier Kindertagesstätten als Betreuungseinrichtungen gesehen werden, die mindestens 10 Stunden auf haben sollten. Eine reine Betreuung kann mit weniger und weniger qualifizierten Personal sichergestellt werden, und so ist es nicht verwunderlich, dass die Standards in vielen Bundesländern verschlechtert wurden. Beispielsweise können in Nordrhein-Westfalen nun Kindergartengruppen 25 Kinder und Kindertagesstätten- und altersgemischte Gruppen 20 Kinder umfassen. Der überörtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe kann sogar eine Überschreitung der Gruppengröße um bis zu fünf Kinder befristet zulassen. Die so genannten "Ergänzungskräfte" (Zweitkräfte) benötigen keine formale Qualifikation mehr, sondern müssen nur in der Lage sein, die Gruppenleiter/innen in der pädagogischen Arbeit zu unterstützen.

Der Kindergarten als Bildungseinrichtung

Die katastrophalen Ergebnisse der PISA-Studie zum internationalen Vergleich von Bildungssystemen haben nun die Politiker/innen aufgerüttelt und - obwohl die Ergebnisse auf der Untersuchung von 15-jährigen Schülern beruhen - auf einmal wird über den Kindergarten als Bildungseinrichtung gesprochen. Hinzu kommt, dass neuere Studien aus dem Bereich der Hirnforschung die große Bedeutung der frühen Kindheit für die "Bildungslaufbahn" einer Person herausgestellt haben und dass diese Ergebnisse zunehmend von den Medien verbreitet sowie von Eltern und Politiker/innen rezipiert werden.

Damit befinden wir uns wieder auf dem Stand von 1970, als der Deutsche Bildungsrat in Übereinstimmung mit der damals vorherrschenden öffentlichen Meinung und den Äußerungen von Erziehungswissenschaftler/innen und Politiker/innen den Kindergarten als 1. Stufe des Bildungswesens definierte und differenziert Bildungs- und Erziehungsziele, Inhalte, Aufgaben, Ausstattung, Trägerstruktur etc. beschrieb. Leider fanden in den folgenden Jahrzehnten die entsprechenden Reformen von Ausbildung und Praxis nicht statt, sodass nur schließlich nur noch einige wenige Fachleute vom Kindergarten als Elementarbereich des Bildungssystems sprachen, während ansonsten Kindertagesstätten vom Jugendhilfebereich vereinnahmt und vorrangig als Betreuungseinrichtungen definiert wurden (s.o.).

Wohl sieht § 22 Abs. 2 SGB VIII die "Bildung" von Kindern als gleichberechtigte Aufgabe neben der "Betreuung" und "Erziehung" vor, jedoch wurden bis Ende 2002 kaum Maßnahmen zur Definition und Präzisierung dieses Bildungsauftrags getroffen. Im Gegensatz zur Schule blieb beim Kindergarten Bildung unverbindlich, wurden Ziele und Inhalte nicht konkretisiert. Vorherrschende Konzepte wie das des Situationsansatzes wurden von Erzieher/innen sehr individuell interpretiert und dadurch in der Praxis nicht angemessen umgesetzt.

Neben der PISA-Studie und einigen Veröffentlichungen über die schlechte Qualität von Kindergärten (z.B. Tietze 1998, siehe a. Elschenbroich 2002) wird von der Politik nun zunehmend zur Kenntnis genommen, dass in anderen OECD-Staaten die frühkindliche Bildung einen weitaus höheren Stellenwert als in der Bundesrepublik hat, dementsprechend in diesen Ländern Vorschuleinrichtungen überwiegend dem Bildungssystem zugeordnet werden, pro Kopf mehr öffentliche Mittel "investiert" werden, das Personal sehr viel höher als die Erzieher/innen in Deutschland qualifiziert ist und ähnlich wie Lehrer/innen bezahlt wird.

So wird seitens der Politik gefordert, dass Kindergärten sich verstärkt der Bildung von Kleinkindern widmen sollen - dass sie z.B. mehr Angebote in den Bereichen der mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Bildung machen, die Sprachförderung intensivieren, "Literacy" fördern, möglichst schon eine Fremdsprache vermitteln, Kinder an den Computer heranführen und die musikalische Früherziehung verstärken sollen, da Musik und Musizieren u.U. positive Auswirkungen auf die Hirnentwicklung zeitigen. Viele Bundesländern entwickeln derzeit Bildungspläne, in denen diese Aufgaben genauer definiert werden. Dadurch soll erreicht werden, dass Erzieher/innen mehr leisten und ihre Arbeit durch die Vorgabe bestimmter Richtlinien vergleichbar und damit überprüfbar wird.

Diese Forderungen und Vorgaben werden aber wenig bezwecken - schließlich wurde ja in den letzten Jahren der Kindergarten als eine Betreuungseinrichtung definiert (s.o.). Dies führte zu einer Verlängerung von Öffnungszeiten, die in der Regel nur durch eine Verkürzung von Verfügungszeiten und/oder durch Schichtbetrieb erreicht werden konnte. Die Erzieher/innen müssen nun fast ihre gesamte Arbeitszeit in der Gruppe verbringen, haben unterschiedliche Zeiten des Arbeitsbeginns und -endes und sind häufiger alleine mit 25 und mehr Kindern. Bildende Aktivitäten können jedoch von den Fachkräften "nicht aus dem Ärmel geschüttelt" werden, sondern müssen geplant und vorbereitet werden. Dazu haben die Erzieher/innen aber kaum noch Verfügungszeit - und in diesen ein, zwei Stunden müssen auch Elterngespräche, Verwaltungsaufgaben, Teamsitzungen, Fallbesprechungen usw. durchgeführt sowie Maßnahmen für behinderte oder sonst wie hilfsbedürftige Kinder mit psychosozialen Diensten abgesprochen werden. Die Fachkraft muss somit bildende Aktivitäten entweder in ihrer Freizeit vorbereiten - was ihr nicht zuzumuten ist - oder sie muss die Gruppe immer wieder ihrer Mitarbeiterin überlassen und sich in ihr Büro zurückziehen, um sich vorzubereiten (oder die anderen vorgenannten Aufgaben zu erledigen). Und hier wird deutlich, wie kontraproduktiv die jetzige Situation ist - dass im Grunde das Gegenteil von dem Angezielten erreicht wird: Anstatt die Bildung von Kleinkindern zu verbessern, wird sie verschlechtert. Den Kindern wird die Erzieherin entzogen.

Erzieher/innen werden somit einen Bildungsauftrag nur erfüllen können, wenn neben ihrer Aus- und Fortbildung auch die Rahmenbedingungen verbessert werden: So müsste die Gruppengröße reduziert, die Verfügungszeit verlängert und ein Unterstützungssystem für Kindertagesstätten geschaffen werden. Natürlich wird dies Geld kosten, und so wäre zu überlegen, ob nicht ein kleiner Teil der von der neuen Bundesregierung für den Ausbau der Ganztagsbetreuung vorgesehenen Mittel (s.o.) hierfür ausgegeben werden sollte.

§ 22 SGB VIII abschaffen!

Die Jugendhilfe hat laut dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) keinen eigenständigen Bildungsauftrag. Deshalb muss hinterfragt werden, ob sie der richtige "Ort" für den Kindergarten ist. Die Elementarbildung muss als staatliche Pflichtaufgabe definiert und als vorrangig gegenüber der Betreuung betrachtet werden. Aus der PISA-Studie, der Hirnforschung und anderen Untersuchungen lässt sich folgern, dass Kinder in Staaten, die viel in die Elementarbildung investieren, bessere Schulleistungen erbringen. Deutschland als ein Land ohne Rohstoffe ist auf die Bildung ihrer Menschen angewiesen, um bei immer stärker werdender Konkurrenz auf dem Weltmarkt bestehen und die durch die Überalterung unserer Gesellschaft zunehmenden sozialen Lasten bewältigen zu können. Deshalb muss die Elementarbildung in Deutschland einen viel größeren Stellenwert bekommen (wobei zu ergänzen ist, dass auch Schulen, Universitäten und Lehrerbildung reformbedürftig sind).

Somit muss der Bildungsauftrag des Kindergartens klar definiert werden. Dieser muss dem Bildungssystem zugeordnet und finanziell mit der Schule gleichbehandelt werden, ohne dass dies zu einer "Verschulung" frühkindlicher Erziehung, zur Abschottung gegenüber der Familie und des Gemeinwesens oder zu einem Verlust der Orientierung an den konkreten Bedürfnissen von Kleinkindern führen darf. Die Erzieherausbildung muss dringend reformiert werden, der Einsatz von unausgebildeten Zweitkräften oder von Praktikanten auf Planstellen muss beendet werden, die Bezahlung ist der von Grundschullehrer/innen anzugleichen.

Dies bedeutet auch, dass überdacht werden sollte, ob die §§ 22, 24, 26 SGB VIII und damit Zuständigkeit des Bundes auf dem Gebiet der Elementarbildung gerechtfertigt sind. Meines Erachtens sollte beim Kindergarten wie bei der Schule die Kulturhoheit der Bundesländer gelten. Diese sollten die Zuständigkeit für die Kindertagesbetreuung bei den Kultusministerien bündeln, die zwecks Gleichstellung mit der Grundschule eigene Fachabteilungen für frühkindliche Bildungseinrichtungen schaffen sollten. Die Eigenständigkeit der Elementarpädagogik gegenüber der Schulpädagogik muss jedoch erhalten bleiben. Eine Verschulung des Kindergartens darf es nicht geben.

Literatur

Elschenbroich, D.: Weltwissen der Siebenjährigen. Wie Kinder die Welt entdecken können. München: A. Kunstmann 2001

Tietze, W. (Hrsg.): Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kindergärten. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand Verlag 1998

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