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Zitiervorschlag

Die emotionale Entwicklung fördern – eine schwierige Aufgabe

Martin R. Textor

 

In den letzten Jahren sind die Anforderungen an die frühkindliche Bildung stark gestiegen. In den Orientierungsplänen der Bundesländer wurden viele unterschiedliche Bildungsbereiche ausgewiesen, die Erzieher/innen im Rahmen ihrer pädagogischen Tätigkeit abdecken sollen. Mitbedingt durch den Druck der Eltern haben viele Fachkräfte daraufhin ihre Arbeitsschwerpunkte auf eher „schulische Fächer“ verlagert, also auf Sprache, Literacy, Naturwissenschaften, Mathematik, Technik, Medienbildung usw. Hinzu kommen die Förderung kognitiver Aktivitäten, z.B. durch das Philosophieren mit Kindern, und von (kirchlichen) Trägern gewünschte Inhalte wie Religion und Ethik. Mancherorts kann sogar eine „Verschulung“ von Kindertageseinrichtungen beobachtet werden – bis hin zu „Stundenplänen“.

Für „klassische“ Aufgaben wie die sozial-emotionale Erziehung von Kleinkindern bleibt hingegen immer weniger Zeit. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass es hier schwieriger ist, Fortschritte zu erzielen, zu dokumentieren und Eltern oder anderen Personen zu vermitteln. Selbst die Ergebnisse von Förderprogrammen wie „Papilio”, „Faustlos” oder „Freunde” sind weniger „fassbar“ als ein Zugewinn von Wissen oder sprachlicher Kompetenz. Die abnehmende Bedeutung der sozial-emotionalen Erziehung – in Verbindung mit sich verschlechternden Rahmenbedingungen wie größeren Gruppen oder ungünstiger Personalausstattung – mag dazu beitragen, dass die Zahl der Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten steigt und diese immer stärker ausgeprägt sind.

In diesem Artikel wird die Förderung der emotionalen Intelligenz beschrieben, also der Fähigkeit,

  • die eigenen Gefühle wahrnehmen, benennen, regulieren und richtig ausdrücken zu können,
  • die Gefühlszustände anderer Menschen wahrzunehmen und zu verstehen sowie auf sie angemessen zu reagieren.

Im Grunde geht es um den effektiven Umgang mit eigenen und fremden Gefühlen, damit sie Denkprozesse und Entscheidungen sowie zwischenmenschliche Beziehung befördern oder zumindest nicht beeinträchtigen. Hier wird der Zusammenhang zwischen emotionaler Intelligenz sowie kognitiven und sozialen Kompetenzen deutlich: Nur wenn man „cool“ bleibt, sich also von seinen Emotionen und der „automatischen“ Reaktion auf die Gefühle anderer distanzieren kann, ist man in der Lage, rational zu denken, verschiedene Handlungsoptionen abzuwägen, das eigene Verhalten in Gruppensituationen richtig zu steuern, das Entstehen von Konflikten zu verhindern oder diese zu lösen. Offensichtlich ist hier auch der Zusammenhang zur Kommunikation: Gefühle werden sowohl verbal als auch nonverbal (durch Körperhaltung, Gestik, Gesichtsausdruck, Stimmlage...) ausgedrückt; zwischenmenschliche Beziehungen realisieren sich in Interaktionen; eine effektive Kommunikation ist Voraussetzung für den Aufbau guter Beziehungen; Konflikte sollten sinnvollerweise im Gespräch geklärt werden.

Das bedeutet, dass auch die emotionale Erziehung überwiegend kommunikativ erfolgt, also durch mehr oder minder bewusste Aussagen und Reaktionen einer Fachkraft, durch die sie das Gefühlsleben und das daraus resultierende Verhalten eines Kindes zu beeinflussen sucht. Dazu gehört beispielsweise

  • das bloße Sitzen neben einem Kind, verbunden mit einem interessierten oder wohlwollenden Gesichtsausdruck. Hierdurch signalisiert die Erzieherin, dass ihr das Kind und sein aktuelles Handeln wichtig sind, was nicht nur seine Konzentration fördert, sondern vor allem sein Selbstbild positiv beeinflusst.
  • das Gespräch über Persönliches – redet die Fachkraft offen über das, was sie erlebt und bewegt (natürlich in Grenzen!), so wird sich auch das Kind öffnen und über seine Erlebnisse und Gefühle sprechen: „Als ich vorgestern auf der Beerdigung von meiner Tante war, bin ich ganz traurig gewesen. In der Kirche habe ich sogar geweint. Auch heute fühle ich mich noch ganz bedrückt. Da habe ich daran gedacht, dass vor kurzem dein Kätzchen überfahren wurde...“
  • das Benennen der Gefühle anderer: „Und wie der König auf dem Bild lacht! Er freut sich so und ist ganz glücklich, weil der Prinz von seiner Reise gesund zurückgekehrt ist“.
  • das Erzählen aus aktuellen Anlässen heraus, wie man selbst positive oder negative Gefühle erlebt: „Habe ich gestern vielleicht einen Schrecken bekommen, als plötzlich ein großer Hund auf mich zu sprang! Ich bin richtig erstarrt, und mein Herz hat ganz schnell geschlagen. Und dabei wollte der Hund nur mit mir spielen!“ So erwirbt das Kind Wissen über die Bezeichnungen und Charakteristika bestimmter Emotionen – eine wichtige Voraussetzung dafür, diese bei sich selbst wahrzunehmen und zu benennen.
  • das Akzeptieren starker Gefühle eines Kindes, ohne direkt auf sie zu reagieren: „Wenn deine Wut verraucht ist, komme ich wieder zu dir, und dann können wir weiter spielen“.
  • das Zurückspiegeln von positiven und negativen (!) Emotionen auf akzeptierende Weise und das Aufzeigen von Wegen, wie diese richtig ausgedrückt werden können: „Ich sehe, dass du dich über Bernd ärgerst, weil er im Vorbeilaufen deinen Turm umgestoßen hat. Geh zu ihm und sag ihm, wie du dich fühlst. Wenn du willst, begleite ich dich“.
  • die richtige Benennung von Gefühlen: „Ich glaube, dass du dich nicht nur ärgerst, sondern so richtig wütend bist!“
  • das Feedback Geben: „Das hast du klar und deutlich ausgedrückt. Ich weiß jetzt, wie du dich fühlst!“ Oder: „Schön, wie ihr gerade euren Streit bewältigt habt! Zum ersten Mal seid ihr nicht aufeinander los gegangen“.
  • das Gespräch über den Umgang mit starken Emotionen, z.B. anhand von Bilderbüchern oder Märchen: „Was hat denn die Königin gegen Schneewittchen gehabt? ... Wie nennt man dieses Gefühl? ... Ward ihr schon einmal auf jemanden eifersüchtig?“
  • das Unterstützen beim Erlernen von Selbstbeherrschung: „Wenn ich mich über jemanden ganz schrecklich ärgere, schreie ich nicht gleich los, sondern zähle erst einmal bis zehn“. Können Kinder im Stuhlkreis selbst Regeln für ihr Zusammenleben aufstellen, ist nicht nur die wechselseitige Verhaltenskontrolle größer, sondern auch die Motivation zur Selbstkontrolle.
  • das Fördern von Empathie und Verständnis für andere: „Schau mal, Ulrike weint. Wollen wir zu ihr gehen und sie fragen, was passiert ist? Dann können wir sie gemeinsam trösten“.
  • das Anleiten zum Wechsel der Perspektive: „Jetzt hast du gerade die kleine Anna umgestoßen. Wie würdest du dich fühlen, wenn dich ein großes Schulkind schubsen würde?“
  • das Besprechen von Handlungsalternativen: „Jetzt streitet ihr euch schon die ganze Zeit um das Tretauto. Wie könntet ihr denn euren Konflikt lösen?“
  • das Ermutigen zu neuen Entwicklungsschritten: „Meinst du, du kannst schon ganz alleine den Frühstückstisch decken? Ich bin mir sicher, dass du das schaffst!“ Gelingt es nicht beim ersten oder zweiten Mal, darf dies das Kind nicht entmutigen: „Komm, wir machen es nochmal gemeinsam! Ich hab auch nicht an einem Tag Autofahren gelernt...“
  • das Bestätigen von erbrachten Leistungen und Erfolgen: „Toll, jetzt bist du zum ersten Mal bis oben auf das Klettergerüst geklettert! Da hast du ganz viel Mut gezeigt...“ Das Selbstvertrauen des Kindes wird noch zusätzlich gestärkt, wenn z.B. ein Foto von ihm hoch oben auf dem Klettergerüst für das Portfolio gemacht wird oder wenn es auf Vorschlag der Fachkraft ein Bild über dieses Ereignis malt, das dann im Gruppenraum aufgehängt wird.

Solche Interaktionen sind für die emotionale Entwicklung von großer Bedeutung, treten aber nur selten im Verlauf einer Woche auf aufgrund der Auslastung der Fachkräfte durch die Organisation des Kita-Alltags, bildende Aktivitäten, die Anleitung von Kindern und viele andere Aufgaben. Herunter gebrochen auf das einzelne Kind mag dieses eine derartige Interaktion nur ein- oder zweimal im Verlauf eines Monats erleben. Das ist viel zu wenig! Es gilt somit, im Verlauf des Kita-Tages Freiräume zu schaffen, in denen sich die Fachkräfte gezielt einzelnen Kindern zuwenden können.

Für die emotionale Entwicklung eines Kleinkindes sind aber nicht nur Interaktionen mit der Fachkraft von Bedeutung, sondern auch Charakteristika der Erzieherin-Kind-Beziehung:

  • Fühlt sich das Kind bei der Fachkraft wohl und geborgen, so hat es eine Bezugsperson, an die es sich vertrauensvoll mit den kleinen Problemen des Alltags wenden kann – der schmerzenden Hand nach einem Sturz, der Trauer über eine zerbrechende Freundschaft, der Wut über ein ihm geschehenes Unrecht, der Angst vor einem größeren Spielkameraden, der Müdigkeit und Unlust nach einem langen Tag in der Kindertageseinrichtung.
  • Fühlt sich das Kind von der Fachkraft als Person geschätzt und respektvoll behandelt, kann es ein positives Selbstbild und Selbstwertgefühle aufbauen.
  • Fühlt das Kind, dass die Erzieherin viel von ihm hält und ihm viel zutraut, so wird es Selbstvertrauen entwickeln.
  • Fühlt sich das Kind in der Nähe der Fachkraft sicher und von ihr beschützt, so wird es eher auf andere Kinder zugehen und selbsttätig die Lernchancen seiner Umgebung nutzen.

Je mehr Kinder sich eine Fachkraft teilen müssen, umso schwieriger wird es für diese, mit allen Kindern enge Beziehungen einzugehen und deren Bindungsbedürfnisse zu befriedigen. Damit wächst die Gefahr, dass zumindest einige Kinder zu kurz kommen: Die Basis für eine positive emotionale Entwicklung trägt nicht genügend; die Kinder befinden sich auf „dünnem Eis“ und können jederzeit „einbrechen“, sich also z.B. bei starken Gefühlszuständen alleine und verlassen fühlen. Die Symptome können dann von untröstlichem Weinen über autistische Verhaltensweisen bis hin zum aggressiven Ausagieren reichen.

Für die emotionale Entwicklung der Kinder ist schließlich noch das Vorbild der Fachkraft von Bedeutung:

  • wie offen und ehrlich sie ist,
  • ob sie klar und eindeutig kommuniziert, genau und treffend formuliert und in ganzen Sätzen spricht,
  • ob ihre Aussage, Körperhaltung, Gestik, Mimik und Stimmlage übereinstimmen, also kongruent sind,
  • wie sie Emotionen verbal und nonverbal ausdrückt,
  • wie sie selbst mit starken Gefühlen umgeht,
  • inwieweit sie in Stresssituationen oder bei Konflikten ruhig bleibt,
  • ob sie höflich und konzentriert ist,
  • ob sie anderen beim Gespräch in die Augen schaut,
  • wie sensibel und empathisch sie ist,
  • ob sie aktiv zuhört und bei Unklarheiten nachfragt,
  • inwieweit sie andere wirklich versteht und ihnen Rückmeldung gibt.

Die emotionale Erziehung wird somit durch die Persönlichkeit der Fachkraft, ihre Professionalität, ihre Beziehung zu den Kindern und ihre pädagogische Arbeit geprägt. Deshalb spielen Selbstbeobachtung und -reflexion eine große Rolle: Erzieher/innen sollten immer wieder analysieren, wie sie von den Kindern erlebt werden und was ihr Handeln bei ihnen bewirkt:

  • Wie authentisch bin ich? Komme ich als Person, mit meiner Persönlichkeit herüber? Oder werde ich nur noch als Betreuerin wahrgenommen?
  • Kann ich die Bindungsbedürfnisse von Kleinkindern (annähernd) befriedigen? Freue ich mich über ihre Zuneigung – wenn sie mich anlächeln, mit offenen Armen auf mich zulaufen, auf meinen Schoß krabbeln, mit mir schmusen?
  • Wie reagiere ich emotional auf einzelne Kinder? Wo stehen meine Gefühle im Weg, wo befördern sie meine Beziehung zu dem Kind?
  • Suche ich das Gespräch mit jedem Kind? Bin ich bereit, mich auf jedes einzelne Kind einzulassen, auf seine Bedürfnisse und Gefühle? Nehme ich wirklich Anteil an seinen Erlebnissen und Lernerfahrungen? Oder reagiere ich nur noch routinemäßig auf die Kinder?
  • Kann ich mich auf den Moment einlassen, auf die Interaktion mit dem jeweiligen Kind? Oder bin ich mit meinen Gedanken schon ganz woanders?
  • Gebe ich dem Kind Zeit, seine Gedanken und Gefühle zu äußern? Oder bin ich ungeduldig, glaube ich schon im Voraus zu wissen, worum es geht?
  • Kann ich in der Interaktion eine Art „Tanz“ sehen, bei dem manchmal ich, manchmal das Kind führt?
  • Habe ich Freude an Kindern? Oder gehen sie mir eher auf die Nerven?
  • Sehe ich in meiner Arbeit noch meine Berufung? Oder ist sie nur ein Job?

Eine gute emotionale Erziehung setzt letztlich eine gute Selbsterziehung der Fachkraft voraus. Dabei kann eine Einzelsupervision hilfreich sein – oder das Feedback einer Kollegin (auch von außerhalb des Teams), die einen beobachtet und Rückmeldung gibt. Aber man kann auch einen Kassettenrecorder oder eine Videokamera laufen lassen und anhand der Ton- bzw. Videoaufnahmen das eigene Verhalten und die Interaktionen mit Kindern analysieren...

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.

Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de