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Zitiervorschlag

Kinder im Kita-Alter und ihr Weg zur harmonischen Mehrsprachigkeit

Eine Artikelreihe von HaBilNet, dem Netzwerk für Harmonische Mehrsprachigkeit

Diese Reihe befasst sich mit aktuellen Entwicklungen zum Thema der frühen Mehrsprachigkeit. Sie erfahren, wie eine harmonische mehrsprachige Entwicklung aussieht und auf welche Weise Forschungsergebnisse für die Anwendung in Kitas und Familien nutzbar gemacht werden.

 

Juni 2021

Mehrsprachige Literacy-Erziehung in der Kita

Mareen Pascall & Annick De Houwer

 

Die Bedeutung einer vielfältigen Literacy-Erziehung ist unumstritten. Sie ermöglicht positiv konnotierte Erfahrungen mit Schrift, Erzählkultur und Büchern, schafft die Voraussetzungen für Lesefreude und einen vertrauten Umgang mit Büchern und fördert Kompetenzen wie die sprachliche Abstraktionsfähigkeit und phonologische Bewusstheit (vgl. Wirts 2021, Näger 2017, S. 13). Dieser Beitrag erläutert, warum eine Literacy-Erziehung, die alle Familiensprachen der Kinder mit einbezieht, wichtig ist, und stellt dar, wie alle Kinder, auch die einsprachigen, von einer mehrsprachigen Literacy-Erziehung profitieren können.

Warum eine mehrsprachige Literacy-Erziehung?

Das frühe Sprechen lernen schafft eine enge Bindung von Sprache und Identität. Kommt ein Kind, dass bislang eine andere Sprache als Deutsch gesprochen hat und das bereits viel zu sagen gelernt hat und stolz darauf ist, in die Kita und findet plötzlich nichts mehr vor, woran es sprachlich anknüpfen kann, erlebt es dies als Sprach- und Machtlosigkeit. Dieses Erleben ist für die meisten Kinder verunsichernd: sie sind nicht in der Lage, zu zeigen, wie viel sie bereits gelernt haben, sie merken, dass ihre Sprache keine Rolle im Alltag spielt, sie „erleben sich als Sorgefälle, als die, die nicht ‚richtig‘ mit […] den anderen kommunizieren können“ (Putjata und Vishek 2018, S. 36). Wenn die Kinder Desinteresse an ihren Ausdrucksmöglichkeiten – also an ihrer Sprache – erfahren, können sie dies außerdem als Ablehnung ihrer Identität erleben. Ihre Sprache ist dann etwas, was „nicht hierher gehört“ und was versteckt werden muss. Dies kann negative Folgen für die Mehrsprachigkeit der Kinder und die familialen Beziehungen haben (vgl. De Houwer / Pascall 2021).

Das Einbeziehen mehrerer Sprachen in die Literacy-Aktivitäten der Kita hingegen fördert bei Kindern, die eine dieser Sprachen schon sprechen, jedoch erst am Anfang ihres Deutscherwerbs stehen, ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Und auch Kinder, die zuhause sowohl Deutsch als auch eine andere Sprache lernen, freuen sich, an Literacy-Aktivitäten in ihren beiden Sprachen teilnehmen zu können.

Natürlich können pädagogische Fachkräfte keine Sprachkenntnisse in allen Sprachen haben, die die Kinder von zuhause mitbringen. Dies ist auch nicht nötig; wichtiger ist eine wertschätzende, offene Grundhaltung gegenüber allen sprachlichen und kulturellen Hintergründen der Kinder und Eltern (vgl. Uhlig 2018). Wertschätzung kann dadurch signalisiert werden, dass die verschiedenen Sprachen mit Hilfe der mehrsprachigen Kinder und Eltern in die Alltags-, Raum- und Situationsgestaltung einbezogen werden. Dies können mehrsprachige Begrüßungsschilder im Eingangsbereich sein, Beschriftungen von Alltagsgegenständen in verschiedenen Sprachen, mehrsprachige Kinderbücher, Ausmalbilder mit verschiedenen Schriftzeichen und vieles mehr (s.u.). So werden nicht nur die Familiensprachen der Kinder hör- und sichtbar, sondern auch einsprachig-deutschen Kindern wird ermöglicht, Sprachenvielfalt zu entdecken.

Mehrsprachige Literacy-Erziehung zum Gewinn für alle Kinder gestalten

Mit dem Einbezug verschiedener Sprachen in den Kita-Alltag wird den Kindern vermittelt, dass man mit Deutsch nicht „überlegen“ oder „besser“ sei, sondern dass auch andere Sprachen etwas wert, interessant und schön sind. Ein enormes Lernpotential liegt darin, verschiedene Sprachen zu vergleichen: beispielsweise indem die Kinder in Beschriftungen in verschiedenen Sprachen gleiche Buchstaben entdecken, den Klang einzelner Laute erforschen, Reime in verschiedenen Sprachen sprechen und dabei Silben entdecken oder Tierlaute in verschiedenen Sprachen kennenlernen. Putjata und Vishek (2018, S. 37) zufolge tragen „[s]olche Literacy-Aktivitäten […] dazu bei, dass sich bei Kindern allmählich und ungezwungen das Verständnis für die Begriffe ‚Sprache‘, ‚Wort‘, ‚Buchstabe‘ und ‚Laut‘ bildet“. Die Autorinnen führen weiterhin aus:

„Diese Kompetenz nennt die Sprachforschung Language Awareness, Sprachbewusstheit. Später trainieren die Jugendlichen sie mühevoll im Deutschunterricht oder in Englisch und Französisch zusammen mit der oft erwähnten ‚interkulturellen Kompetenz‘, die in der echten, real existierenden Vielfalt der Kita auf natürliche Weise Platz hätte. […] Wir schicken unsere Kinder […] in die USA und […] nach Frankreich, um diese Fertigkeit stolz im Bewerbungsgespräch vorlegen zu können. Und dabei bieten die kleinen Momente des Kita-Alltags Raum, den Blick für die Normalität der Verschiedenheiten jetzt schon zu öffnen.“ (Putjata und Vishek 2018, S. 37)

Gestaltungsmöglichkeiten in der Kita

Um ein „literarisierendes Klima“ (vgl. Näger 2017, S. 108) zu schaffen, bieten sich gemeinsame Projekte und Rituale, eine lesefreundliche Gestaltung der Räumlichkeiten sowie eine entsprechende Auswahl von Büchern und anderen Materialien an.

Cook (2018) beschreibt ein Ritual im Rahmen des Morgenkreises, das sich bei Kindern großer Beliebtheit erfreue: sie wünschen sich jeweils vier Sprachen, in denen anschließend „Guten Morgen“ oder „Hallo“ zu einer bekannten Kinderliedmelodie gesungen wird. Die Worte in den jeweiligen Sprachen lernen sie mit der Zeit auswendig. Ebenfalls in den Morgenkreis können beispielsweise die Wochentage oder die Zahlen eingebracht werden.

Beispiele für die Gestaltung der Räumlichkeiten sind Wandbilder oder Plakate mit verschiedenen Alphabeten oder wechselnde Beschriftungen von Gegenständen, die zusammen mit den Eltern und Kindern erstellt werden (Näheres in Cook 2018).

Bilderbücher und andere Materialien sollten Identifikationsmöglichkeiten durch die Abbildung kultureller Vielfalt schaffen, beispielsweise durch Bücher und Bilder, die Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, unterschiedliche Familienkonstellationen und Menschen in vielfältigen Lebenswelten zeigen. Diese Vielfalt braucht nicht thematisiert zu werden, sondern sollte als selbstverständlicher Teil des Alltags für sich stehen.

Bewährte Praxis in vielen Kitas ist eine gemütliche Leseecke mit einer Minibibliothek, die den Kindern frei zur Verfügung steht. Wenn die Bücher verliehen werden können, beispielsweise von Freitag zu Montag, schafft dies eine Möglichkeit, auch Kindern aus buchfernen Familien an Bücher heranzuführen (Näheres in Kuyumcu und Kuyumcu 2004). 

Mehrsprachige Bilderbücher bieten unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten, insbesondere, wenn neben den Fachkräften auch Familienmitglieder oder ehrenamtliche „Vorlesepaten“ mit einbezogen werden (s.u.). Die Kinder können mit einer neuen Geschichte zunächst in der stärkeren oder vertrauteren Sprache bekannt gemacht werden. Später können sie die bereits bekannte Geschichte in der unbekannten oder unvertrauteren Sprache hören. Alternativ kann eine Geschichte auch simultan vorgelesen werden. Oder das Buch steht den Kindern frei zum Bilder Betrachten und darüber Fabulieren zur Verfügung – gleich, in welcher oder welchen Sprache(n). Wenn es Audioversionen zum Buch gibt, eröffnen sich weitere Verwendungsmöglichkeiten: Z. B. können die Fachkräfte das Buch in der oder den ihnen bekannten Sprache(n) behandeln und einzelne Kinder können sich später die Geschichte selbst in ihrer Familiensprache anhören und dabei das Buch betrachten.

Kostenfreie bzw. auf Spendenbasis herunterladbare zweisprachige Bilderbücher, zum Teil mit Audioversionen, finden sich auf der Seite des Lübecker Vereins Bücherpiraten e.V. Die südafrikanische Organisation Saide stellt Bilderbücher vor allem in afrikanischen Sprachen kostenfrei zur Verfügung. Weitere Hinweise auf mehrsprachige Kinderliteratur und zur mehrsprachigen Gestaltung von Vorleseangeboten finden sich auf der Seite des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften.

Beispiele mehrsprachiger Literacy-Projekte

Näger (2017, S. 111–113) beschreibt ein attraktives Leseangebot, das leicht auch mehrsprachig gestaltet werden kann: die Rucksackbibliothek. Ein Rucksack stellt eine kleine reisende Bibliothek dar mit beispielsweise vier interessanten und aktuellen Büchern für ein bestimmtes Alter. Der jeweilige Rucksack wird als Ganzes von der Kita an die Familien ausgeliehen. Ziel ist, die Lust auf Bücher und gemeinsame Vorleseerlebnisse zu wecken sowie Eltern und Kinder zu sprachlicher Kommunikation anzuregen. Die Rucksackbibliothek ist ein besonders niederschwelliges Angebot, das Kinder, die viel und gerne lesen, genauso anspricht wie Kinder, die in buchfernen Haushalten aufwachsen und deren Eltern nur schwer oder gar keinen Zugang zu öffentlichen Bibliotheken finden.

Viele öffentliche Bibliotheken bieten interkulturelle Veranstaltungen an, beispielsweise mehrsprachige Lesungen für Kindergartengruppen. Der Besuch an den „Ort, wo die Bücher wohnen“, kann ein besonders spannendes und geheimnisvolles Erlebnis für Kinder darstellen.

Eine weitere Möglichkeit des Erlebens verschiedener Klänge, Schriften und Kulturen besteht, wenn Eltern oder Großeltern als „Vorlesepaten“ in die Kita eingeladen werden, nach Möglichkeit zu einem festen wöchentlichen oder zweiwöchentlichen Termin. Das Buch kann gemeinsam betrachtet werden, einsprachig oder parallel zweisprachig vorgelesen werden oder im dialogischen Lesen (vgl. Kraus 2005) erschlossen werden. Die Teilnahme ist allen ein- und mehrsprachigen Kindern freigestellt, die teilnehmen möchten.  

In den zwei bundesweiten Sprach- und Familienbildungsprogrammen Griffbereit und Rucksack KiTa wird die Mehrsprachigkeit der Kinder als Chance und Potenzial aufgefasst. Bei den meist wöchentlich stattfindenden Treffen werden eigens für das Programm entwickelte Materialien genutzt, die den Eltern alters- und entwicklungsgerechte Anregungen zu Sing-, Spiel- und Sprachaktivitäten mit ihren Kindern bieten – auf Deutsch sowie in ihrer Familiensprache. Die Materialien stehen aktuell in 27 Sprachen zur Verfügung.

Fazit

Es gibt viele Möglichkeiten, Kita-Kinder von früh an mit Aktivitäten vertraut zu machen, die die Sprachbewusstheit, die Freude an Schrift und die Entwicklung des Lesens und Schreibens unterstützen. Dabei wird empfohlen, diese Aktivitäten nicht nur auf Deutsch, sondern in allen Sprachen, die die Kinder von zuhause mitbringen, spielerisch zu gestalten. Dies fördert das Wohlbefinden der Kinder und stärkt die Bewusstheit über verschiedene Sprachen und Kulturen, so dass alle Kinder von einer mehrsprachigen Literacy-Erziehung profitieren.

Literaturverzeichnis

Cook, Kieron: Mehrsprachigkeit in der Praxis. In: Kinder- und Elternzentrum "Kolibri" e.V. (Hg.): Vielfalt in Kita: Von Herausforderungen zur Chance. Alltag mit mehrsprachigen Kindern und Eltern erfolgreich gestalten. Ein Modellprojekt zur Förderung der pädagogischen Selbstwirksamkeit, 2018, S. 39–42.

Kraus, Karoline: Dialogisches Lesen - neue Wege der Sprachförderung in Kindergarten und Familie. Online verfügbar unter https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/sprache-fremdsprachen-literacy-kommunikation/1892, 2005.

Kuyumcu, Şafak; Kuyumcu, Reyhan: Entwicklung von Literalität in Kooperation mit Migranteneltern. Hg. v. Martin R. Textor und Antje Bostelmann. Das Kita-Handbuch. Online verfügbar unter https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/kinder-mit-migrationshintergrund/1384, 2004.

Näger, Sylvia: Literacy. Kinder entdecken Buch-, Erzähl- und Schriftkultur. Überarbeitete Neuausgabe, (6. Gesamtauflage), 2017. Freiburg, Basel, Wien: Herder.

Putjata, Galina; Vishek, Svetlana: Happylingual – Mehrsprachige Entwicklung verstehen und im Alltag unterstützen. In: Kinder- und Elternzentrum "Kolibri" e.V. (Hg.): Vielfalt in Kita: Von Herausforderungen zur Chance. Alltag mit mehrsprachigen Kindern und Eltern erfolgreich gestalten. Ein Modellprojekt zur Förderung der pädagogischen Selbstwirksamkeit, 2018, S. 35–38.

Uhlig, Susanne: Berichte und methodische Anregungen aus dem Projekt „Vielfalt in Kita“. In: Kinder- und Elternzentrum "Kolibri" e.V. (Hg.): Vielfalt in Kita: Von Herausforderungen zur Chance. Alltag mit mehrsprachigen Kindern und Eltern erfolgreich gestalten. Ein Modellprojekt zur Förderung der pädagogischen Selbstwirksamkeit, 2018, S. 22–34.

Wirts, Claudia: Literacy-Erziehung im Kindergarten. Im Interview mit Claudia Wirts. Online verfügbar unter https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/sprache-fremdsprachen-literacy-kommunikation/literacy-erziehung-im-kindergarten, 2021.

Verwendete Direktlinks:

HaBilNet Internetseite: www.habilnet.org/de

Bücherpiraten e.V.: https://www.bilingual-picturebooks.org

Saide: https://africanstorybook.org

Verband binationaler Familien und Partnerschaften: https://mehrsprachigvorlesen.verband-binationaler.de

Griffbereit und Rucksack KiTa: https://www.griffbereit-rucksack.de

Autorinnen

Prof. Dr. Annick De Houwer ist Direktorin des Netzwerks für Harmonische Mehrsprachigkeit HaBilNet. Bis Ende März 2021 war sie Professorin für Spracherwerb und Mehrsprachigkeit an der Universität Erfurt. Seit vier Jahrzehnten forscht Annick De Houwer zum Thema frühe Mehrsprachigkeit. Ihre Schriften werden weltweit an Hochschulen als Lernmaterial genutzt. In Vorträgen zur harmonischen mehrsprachigen Sprachentwicklung spricht sie sowohl zu akademischen als auch nicht-akademischen Zuhörerschaften. 2020 wurde sie für die Position als Präsidentin der International Association of Child Language nominiert.

Mareen Pascall ist Deutsch-als-Fremd/Zweitsprache-Lehrerin und Slawistin mit Schwerpunkt polnische Sprache, Kultur und Geschichte. Sie arbeitet freiberuflich als DaF-Lehrerin und für das Netzwerk HaBilNet.