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Zitiervorschlag

Meine, deine, unsere Kita – Deklarative Sprechakte, Projektmethode und der Erwerb von Institutionenverständnis

Eine Artikelreihe zum Thema "Soziale Wirklichkeit und Spracherwerb"

Sascha Dümig

 

Einleitung

„Das Rad, das am lautesten quietscht, bekommt das meiste Fett“ - dieses Sprichwort kann hervorragend auf den derzeitigen Umgang mit dem Thema Spracherwerb angewendet werden. Hier steht meist der Aspekt der Sprachförderung und die Erweiterung der Sprachkompetenz im Vordergrund. Betonungen der Notwendigkeit von Sprachkompetenz erscheinen in diesem Kontext auffällig uninspiriert und instrumentell. Als repräsentatives Beispiel hierfür sollen die folgenden Formulierungen aus dem Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan (S. 66) stehen. Hier ist Sprachkompetenz „eine grundlegende Voraussetzung für die emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern und eine Schlüsselqualifikation für schulischen und späteren beruflichen Erfolg.“ Der starke Fokus auf ein solch instrumentelles Kompetenz-Nutzen-Kalkül hat meines Erachtens im pädagogischen Bereich zunehmend dazu geführt, Sprache als bloßes Instrument gesellschaftlicher Anpassungsfähigkeit wahrzunehmen. Obige Formel des Hessischen Bildungs- und Erziehungsplans „Gute Sprache = Schulischer und beruflicher Erfolg / Schlechte Sprache = Schulischer und beruflicher Misserfolg“ führt unvermeidlich zu einer skalierend-bewertenden Haltung in Bezug auf Sprache und reduziert sie auf ein bloßes Durchgangstor zum gesellschaftlichen Erfolg.

Es gilt im Gegensatz zu einer solch reduktiven Anschauung einen ambitionierteren Impetus in Hinblick auf Sprache zu wählen. Arthur Schopenhauer war der erste Philosoph, der einen wirklich kognitiven Begriff von Sprache entworfen hat (vgl. Dümig 2016), aber gleichzeitig auch die gesellschaftliche Dimension des Sprachgebrauchs betont hat. Für ihn war Sprache das wichtigste Werkzeug der Vernunft, „durch dessen Hilfe allein das deutliche Denken und dann dessen Mitteilung und durch diese die wichtigsten Leistungen der Vernunft im Menschen möglich sind, nämlich das übereinstimmende Handeln mehrerer Individuen, das planvolle Zusammenwirken vieler Tausende, die Zivilisation, der Staat […]“ (mod. nach Schopenhauer 1986: S. 257) Kurzum, nach Schopenhauer wäre die gesamte soziale Wirklichkeit ohne Sprache nicht möglich. Diese weitreichende Idee der Institutionenerzeugung durch Sprache, die hier als Leitlinie eines wirklich sinnreichen Sprachbegriffs gelten soll, wurde von ihm leider nicht ausgebaut. Im 20. Jahrhundert hat diese aber vor allem der Philosoph John Searle in einer umfassenden Theorie entfaltet (z.B. Searle 1997), deren Potenzial für die Pädagogik bisher meines Erachtens kaum ausgelotet wurde (vgl. aber Dümig 2021).

Searles Sprechakttheorie und gesellschaftliche Wirklichkeit

Searle baut seine Theorie wesentlich auf den Annahmen Austins auf. Dessen Buch „How to do Things with words“ (1986). beinhaltet die wesentliche Einsicht, dass uns Sprache nicht nur dazu dient, Dinge zu beschreiben, sondern auch dazu, Handlungen auszuführen (sog. Sprechakte). Nach Searle können wir andere über etwas informieren (Assertiva wie z.B. feststellen), jemanden zu einer Handlung bewegen (Direktiva wie z.B. vorschlagen), uns selbst zu einer Handlung verpflichten (Kommissiva wie z.B. versprechen), unsere eigene Innenwelt zum Thema machen (Expressiva wie z.B. entschuldigen) oder neue Zustände herstellen (Deklarativa wie z.B. ernennen) (vgl. Searle 2004).

Während die ersten vier Sprechakte in der Aufzählung auf gegebene Tatsachen unserer Außen- und Innenwelt bezogen sind, weisen Deklarativa eine gravierende Besonderheit auf: Wir können mit ihrer Hilfe die Welt verändern und neue Tatsachen schaffen. Die deklarativen Sprechakte „Hiermit ernenne ich euch zu Mann und Frau“ oder „Ich taufe dich auf den Namen Frida“ erschaffen soziale Tatsachen, das Verheiratetsein oder das Tragen eines Namens, die zuvor nicht gegeben waren. Damit solche Veränderungen durch Deklarativa vollzogen werden können, müssen ihnen bestimmte regelhafte Zuweisungen zugrunde liegen. Solche Regeln, die eben nicht nur bestimmen, wie wir uns zu verhalten haben, sondern die festlegen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Verhalten eine bestimmte Funktion erhält, werden von Searle konstitutive Regeln genannt. Sie haben immer die Form „X gilt als Y in K“, wobei X ein jeweiliges Objekt, eine Tatsache etc. ist, Y die neue zugewiesene Funktion und K der Kontext, in dem diese Zuweisung gelten soll.

Hierzu ein einfaches Beispiel: Nehmen wir an, Lehrer Müller wird an der Kuckuckseischule zum stellvertretenden Direktor befördert. Direktor Meier ernennt ihn offiziell zu demselben. Vereinfacht bedeutet dies nach unserer Formel: Lehrer Müller (X) gilt als stellvertretender Direktor (Y) in der Kuckuckseischule (K).

Da es keine natürliche Funktion stellvertetender Direktor gibt und auch das Schulwesen erst sozial erzeugt werden musste, gibt es sie eben erst durch die entsprechenden konstitutiven Regeln. Man kann auch sagen: Die Regeln sind wesentlich für die auszuführenden Tätigkeiten. Searle bringt hier das Beispiel aus dem Fußball, was sich natürlich entsprechend auch auf Regelungen im Schulwesen übertragen lässt: „Im Fußball gilt es als Tor, wenn der Ball, während das Spiel läuft, in vollem Umfang die Torlinie überquert. Mehr Tore als der Gegner zu schießen gilt als Gewinnen.“ (Searle 2004: S. 148). Hätten wir die Regeln sprachlich nicht solchermaßen definiert, gäbe es kein Fußballspiel. Wichtig ist hierbei nun, dass die entstandenen Regeln nicht mehr vom Einzelnen abhängen, sondern eine Form von unabhängiger Existenz erlangen können. Sie sind also nicht einfach eine individuelle Konstruktion, sondern bilden quasi einen objektiven Tatbestand, den ich nicht einfach willkürlich umdeuten kann.

Deklarativa liegen also als Bedeutungskern immer konstitutive Regeln zugrunde, die aber auch von anderen anerkannt werden müssen. Je nach Anerkennungsgrad und Häufigkeit solcher Regelanwendungen bilden sich hieraus Institutionen. Da z.B. die Ehe, Geld, aber auch das Finanzamt oder Weihnachten im Weitesten als Instutionen gelten können, ist eine Definition von „Institutionen“ nicht einfach. Jaeggi definiert sie wie folgt:

„Institutionen sind durch soziale Praktiken konstituierte Einrichtungen mit Gewohnheitscharakter, die mehr oder weniger komplexe Systeme dauerhafter wechselseitiger Verhaltenserwartungen darstellen, mehr oder weniger stabile Statuspositionen etabilieren und sich durch öffentliche Wirksamkeit und Anerkennung auszeichnen.“ (Jaeggi 2009: S. 532-533)

Es liegt nahe, dass Kinder nur durch das allmähliche Einüben sprachlicher Vereinbarungen verstehen, was Institutionen sind. Die Datenlage zum Erwerb von Deklarativa ist aber m.W. erschreckend karg. Nach Zaefferer & Frenz (1979), die den Gebrauch verschiedener Sprechakttypen bei Kindern in der Altersgruppe von 4 bis ca. 7 Jahren untersuchten, tauchen die ersten Deklarativa im Alter von ca. 4 Jahren und 9 Monaten auf. Wie genau sie allerdings erworben werden, bleibt nach meiner Kenntnis in der Literatur offen. Eine Hypothese für deren Erwerb soll im Folgenden über zwei Stufen plausibel gemacht werden.

1. Stufe: Dezentrierung – Weit weg von sozialen Gruppen

Wir haben die relativ komplizierte Formel für Statuszuweisungen in konstitutiven Regeln kennengelernt: X gilt als Y in K. Damit aber abstrakt einem Gegenstand X eine Funktion Y in einem Kontext K zugewiesen werden kann, müssen Dinge als Symbole verstanden werden können. „X gilt als Y“ ist nichts anderes als eine symbolische Zuordnung. Ich muss also zuvor erworben haben, dass z.B. das Wort Auto nicht für ein spezifisches Auto steht, sondern eben ein Symbol für alle Autos ist. Insofern bildet der Erwerb von Symbolen quasi den wichtigen ersten Schritt, um die Zuweisung von abstrakten Funktionen durchzuführen. Wichtig hierfür ist das Konzept der Dezentrierung. Um dieses genauer zu beleuchten, ist ein kurzer Exkurs in die Sprachevolution und zum Anfang von Symbolbildungen sehr hilfreich.

Bickerton (2009) hat darauf hingewiesen, dass ein spezifischer Selektionsdruck auf den Menschen gewirkt haben muss, damit so etwas wie Sprache überhaupt entstehen konnte. Sein Fokus liegt darauf, dass unsere Vorfahren vor 2 Millionen Jahren im Gegensatz zu den Vorfahren der Schimpansen in der Savanne überleben mussten. Hier mussten sie ihre Suche nach Nahrung (vorwiegend Aas) über extrem große Gebiete betreiben und sich bei Sucherfolg informieren, um eine hinreichend große Gruppe zu bilden, die sich gegen andere Aasfresser behaupten konnte (eine Langstreckenkommunikation, die Bienen und Ameisen auch beherrschen).

Was also wahrscheinlich zu dem Erfolg unserer Vorfahren führte, war die Entkopplung tierischer Kommunikationssignale von spezifischen Situationen (wie Flucht, Paarung und soziale Interaktion) aufgrund der spezifischen Nische der konfrontativen Aassuche (engl.: confrontational scavenging). Die Loslösung eines Signals von der Situation führte dazu, dass unabhängig von Zeit und Ort kommuniziert werden konnte und die Geste, das Wort, die Mimik (die Art und Weise ist erst einmal nicht relevant) FÜR etwas stand, also ein Symbol für eine Situation oder einen Gegenstand wurde. Diese Dezentrierung (also die Loslösung vom Hier und Jetzt) hatte seinen Grund eben nicht in der sozialen Interaktion, sondern in der überlebenswichtigen Notwendigkeit Informationen weiterzugeben.

Diese Entwicklung kann man nun grob auf den frühen Spracherwerb übertragen. Nimmt man Protowörter, also Eigenkreationen von Kindern im Alter von ca. 8-12 Monaten, die nicht von Zielformen der jeweiligen Sprache abgeleitet sein können, wie z.B. [nanana] für Autofahren (vgl. Piske 2001), dann gibt es einen signifikanten Unterschied zu Zielwörtern, die zeitgleich oder später auftreten: Während Protowörter nicht bis kaum zur Interaktion verwendet werden, werden dagegen Zielwörter mit Zeigegesten vor allem zur sozialen Kommunikation genutzt (vgl. Dümig 2018). Nichtsdestotrotz bilden Protowörter erste Symbole mit der Eigenschaft Dezentrierung, auch wenn sie nicht kollektiv geteilt werden. Protowörter zeigen also, dass Sprache nicht in sozialer Kommunikation verwurzelt ist, sondern die Symbolfunktion zum Informationstransport primär ist, auch wenn Sprache natürlich im späteren Erwerb wesentlich zur sozialen Kommunikation gebraucht wird.

2. Stufe: Dekontextualisierung oder alternative Welten durch den Konjunktiv 2

Die Symbolfunktion von Wörtern und ihre Verkettung in Sätzen genügt, um umfangreiche Gespräche über die vorgefundene Realität zu führen. Dies können bereits Kinder im Alter von ca. 3;0 - 3;5 Jahren exzellent, da sie schon über die maßgeblichen grammatischen Strukturen ihrer Zielsprache verfügen (vgl. Tracy 2008). Kinder in diesem Alter fangen nun aber auch zunehmend an, gemeinsame Fiktionsspiele zu spielen. Diese beginnen meist mit einer Einigung über die Rollen und Verhaltensweisen, in der Formen wie „Du wärst jetzt die Mama und du das Kind. Du machst jetzt Essen und ich komme von der Arbeit, ok?“ genutzt werden. Sprachlich wird hier der Rahmen, ein Drehbuch oder Skript von den Kindern erzeugt, in dem dann die Spielhandlungen stattfinden (vgl. Auwärter 1983; Knobloch 1998). Natürlich kann es hier zu Veränderungen kommen, aber ein Bruch mit dem grundsätzlichen Skript (ein Kind schlüpft z.B. spontan in eine andere Rolle) wird von den Mitspielenden sofort geahndet.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass o.g. kindliche Konjunktivformen außerhalb der gemeinsamen Fiktionsspiele sehr selten bis kaum verwendet werden. Knobloch (1998) sieht deshalb den pragmatischen Kontext dieser Spielform als Einstiegshilfe für den zieladäquaten Gebrauch des Konjunktiv 2 an (auf dem Wege zu diesem dienen allerdings auch u.a. Konditionalkonstruktionen). Klos (2007: S. 18-19) macht den Aspekt der Dekontextualisierung im Fiktionsspiel für Kinder noch stärker, denn durch diese „verschaffen sie sich die für das kollektive Symbol- und Fiktionsspiel so wichtige Möglichkeit, Umdeutungen von Gegenständen, Handlungen, Personen etc. vorzunehmen.“ In den von Klos aufgezeichneten Spielsituationen kam es so u.a. zu Umdeutungen von „von Personen (/die Tochter ist schon groß und ich bin die Mutter/), Handlungen (/du kommst wieder du gehst in die Apotheke/) und Zeit (/wir hätten nicht Abend wir haben schon morgen/).“

Der Konjunktiv 2 markiert also eine Differenz zwischen dem, was der Fall ist und dem, was der Fall sein könnte (Knobloch 1998) und in diesem Sinne wird er zur Erzeugung neuer Gegebenheiten verwendet. Genau hier, im Erzeugungspotential des Konjunktiv 2, liegt meines Erachtens die Wurzel der Wortbedeutung von Deklarativa - es sind Vorübungen zu deklarativen Sprechakten. „Du wärst jetzt die Mama“ kann auch übersetzt werden mit „Hiermit ernenne ich dich (kurzzeitig) zur Mama dieses Spiels“, womit ein neuer Zustand, eine neue soziale Regelhaftigkeit durch den Sprechakt erzeugt wird. Es folgt hieraus meines Erachtens ein Schluss, der von Knobloch (1998) und Klos (2007) nur angedeutet wird, in seiner Radikalität aber nicht zu Ende gedacht wird: So wie soziale Institutionen nicht ohne Sprache existieren könnten, fände ohne das sprachliche Mittel des Konjunktivs, der als Marker das Reale von Irrealen scheidet, überhaupt kein Fiktionsspiel statt.

Wir fänden eben keine ausdrückliche Rahmensetzung einer alternativen Welt, ein Möglichkeitssetting vor, sondern nur bloße Nachahmung. In Anbetracht einer solchen Sichtweise wurde in der Entwicklungspsychologie bisher das Pferd von hinten aufgesattelt. Bruner (1983) nahm zum Beispiel ein Spracherwerbs-Unterstützungssystem (engl.: language acquistion support system, kurz LASS) an. Nach dieser Annahme sollen Spiel- und Interaktionskontexte als wiederkehrende Rahmenformate den Spracherwerb erleichtern. Nach der hier vorliegenden Annahme scheint es aber vielmehr so, dass erst durch die Nutzung spezifischer sprachlicher Ressourcen (Konjunktivkonstruktionen) bestimmte Formen von Spielhandlungen (gemeinsame Fiktionsspiele) und mit ihnen neue Möglichkeiten des sozialen Handelns möglich sind. Insofern möchte ich betonen, dass man vielmehr ein Sprachliches Regelerwerbs-Unterstützungssystem (SPRUSY) annehmen muss, das durch sprachliche Rahmengebung komplexe Spielformen ermöglicht. Mit der Erzeugung von fiktiven Kontexten üben Kinder kontinuierlich die Bildung konstitutiver Regeln und damit ein Verständnis für die Verbindlichkeit, aber auch der Veränderlichkeit von sozialen Ordnungen und Vereinbarungen ein. Durch oben genannte Dekontextualisierung ermitteln Kinder das K in unserer Formel „X zählt als Y in K“. Während Vorschulkinder vor allem die sprachlichen Instruktionen für die gemeinsamen Fiktionen gebrauchen, handeln Schulkinder ab ca. 6 Jahren ohne diese im Bezugssystem der Fiktion (Knobloch 1998: S. 5). Dies bedeutet letztlich, dass Schulkinder sich eine definite Unterscheidung von Realität und Fiktion angeeignet haben, wozu interessanterweise auch die Anerkennung von schon vorhandenen institutionellen Vorgaben gehört. Hiermit geht dann auch der erste und vermehrte Gebrauch von deklarativen Sprechakten einher.

Institutionen Auf- und Abbau – Zeitlich begrenzte Deklarationen in der Projektmethode

Wir haben nun zwei Stufen auf dem Weg zum Institutionenverständnis kennengelernt. Im ersten Schritt müssen Kinder die Symbolfunktion von Sprache erwerben und über den Worterwerb einüben. Im zweiten Schritt nutzen Kinder ihre sprachlichen Ressourcen ab dem Alter von ca. 3 Jahren zur Dekontextualisierung, d.h. um soziale Funktionen und Rollen im gemeinsamen Fiktionsspiel situativ frei zuzuordnen. Dieses Zuordnen ist m.E. nicht an sich angeboren, sondern Teil einer Entwicklungsdynamik, die durch die angeborenen Funktionen der Sprache angestoßen wird und in die Deklarativa mündet. Während sich menschheitsgeschichtlich erste Funktionen der Sprache aus der Besetzung der Nische der konfrontativen Aassuche ergaben, wurde später Sprache selbst zu einer Nische. Wie der Biber seinen Damm baut und seine auf ihn rückwirkende Umwelt damit verändert, baut der Mensch mittels der Sprache seine soziale Ordnung, die ebenfalls wieder auf ihn zurückwirkt (vgl. dazu https://nicheconstruction.com/). Clark (2005: S. 265) geht sogar so weit, Sprache als Super-Nische zu bezeichnen, weil mit ihrer Hilfe eine unbegrenzte Anzahl neuer Umwelten und Erprobungsmöglichkeiten erzeugt werden können.

Auch im individuellen Gebrauch verändern wir mit Sprache die Bedingungen äußerer und innerer sozialer Umwelt und werden durch diese wiederum geformt. Pädagogisch ist deshalb etwas unglaublich wichtig, was ich als Sprechhandlungsbewusstheit bezeichne. Sprechhandlungsbewusstheit ist dadurch charakterisiert, dass uns die Doppelnatur von Deklarativa deutlich von Augen steht und wir deshalb mit dieser selbstbestimmt umgehen können. Mit Doppelnatur meine ich das faktische Paradoxon, dass deklarative Sprechakte über Konsens objektive Verbindlichkeiten erzeugen können, dass sie als von Sprechern Erzeugtes aber immer hinterfragbar und auch immer veränderbar sind. Es sollte anhand dieser Beschreibung deutlich sein, dass Sprechhandlungsbewusstheit ein wesentlicher Aspekt von demokratischer Mündigkeit ist, in dem Sinne, als dass sie Menschen dazu befähigt, Sinn und Unsinn von institutionellen Regeln zu hinterfragen und nach einer Prüfung zuzustimmen oder abzulehnen. „Das ist einfach so!“- oder „Anything goes“- Erziehungsklimata sind mit der Zielsetzung von Sprechhandlungsbewusstheit nicht vereinbar. Für Erzieher/innen ergibt sich hieraus unmittelbar eine Forderung, die meines Wissens in den bisherigen Beschreibungen von pädagogischer Haltung nicht vorkommt: Rechenschaftsfähigkeit. Hiermit meine ich das Vermögen von Erzieher/innen, bei grundsätzlicher Möglichkeit der Kinder, Regeln zu hinterfragen, eben diese Regeln vernünftig und altersangemessen zu begründen.

Um nun Sprechhandlungsbewusstheit und mit ihr ein Institutionenverständnis direkt bei Kindern anzubahnen sind m.E. folgende Aspekte wichtig.

  • Selbsterprobung: Kinder müssen selbst Regeln erzeugen und Funktion vergeben dürfen, um die Effekte ihrer sprachlichen Festlegungen erleben zu können.
  • Sichtbarkeit von Effekten: Regeln und Funktionen, die vergeben wurden, müssen einen realen Effekt haben. Wurde einem Kind z.B. durch Wahl die Funktion/Rolle „Sprecher der Gruppe“ zugeordnet, dann muss er und die Anderen diese Funktion auch respektieren.
  • Zeitliche Begrenzung: Diese Erprobung von Effekten darf in ihrer Komplexität nicht überfordern. Der Rahmen muss deshalb für die Kinder überschaubar sein und es muss gefühlt deutlich werden, dass Zuweisungen und Regelungen limitiert gültig und wieder veränderbar sind.

Projekte erfüllen genau diese Kriterien und bieten somit einen ersten adäquaten Rahmen für Kinder in der Kita, im Hort oder in der ESB. Durch die zeitliche Begrenzung von Projekten kommt ein wichtiges Kriterium zum Zuge, was Kindern auch in anderen Domänen das Lernen erleichtert, nämlich Kontrastierung. Kinder erleben überschaubar, welche Effekte neue Entscheidungen haben und können Funktionen von den Kindern trennen, dies nach dem Motto „Klaus hat als Gruppensprecher eine gute Entscheidung getroffen, Martin hat als Gruppensprecher nur schlecht entschieden.“ Das Zuweisen von Funktionen bekommt so einen lebendigen Gehalt (was kann man mit der Funktion machen und wie kann man die Funktion gut oder schlecht ausfüllen). Zudem können Projekte dem Verständnis der Kinder variabel angepasst werden. Sind Kinder mit Ernennungsprozeduren vertraut, können sie mehr Befugnisse durch weitere Deklarativa erhalten: Sie können z.B. Gegenstände taufen, Tage zu besonderen Tagen erklären, Gehilfen einstellen oder sie wieder kündigen. In all diesen Aktionen werden Effekte sichtbar, Verantwortung für diese bewusst, aber durch die zeitliche Begrenzung Erfahrungen und Konflikte moderierbar und reflektierbar. Wir erhalten so im Rahmen der Projektmethode eine lebendige Demokratieerziehung nach Maßgabe eines ambitionierten Sprachbegriffs:

Sprache ermöglicht die Gestaltung unserer gesamten gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Erzeugung von Verbindlichkeit und Erneuerung und ist deshalb unser wichtigstes soziales Organ.

Literatur

Austin, J. L. (1986). Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Stuttgart: Reclam Verlag.

Auwärter, Manfred (1983): Kontextualisierungsprozesse für Äußerungen bei Kindern unterschiedlicher Entwicklungsstufen. In: Boueke, Dietrich & Klein, Wolfgang (Hrsg.): Untersuchungen zur Dialogfähigkeit von Kindern. Narr Verlag, S. 75-95.

Bickerton, D. (2009). Adam's Tongue: How Humans Made Language, How Language Made Humans. Hill & Wang.

Bruner, J. S. (1983). Child’s talk: Learning to use language. Norton.

Clark, A. (2005). Word, Niche and Super-Niche: How Language Makes Minds Matter More. Theoria 54, S. 255-268.

Dümig (2016). Lebendiges Wort? Schopenhauers und Goethes Anschauungen von Sprache im Vergleich. In: Schubbe D. & Fauth, S. R. (Hrsg.): Schopenhauer und Goethe. Biographische und Philosophische Perspektiven. Felix Meiner-Verlag, S. 150-183.

Dümig (2018). Dreidimensionale Phonologie und der Erwerb von Protowörtern. Dissertation. Universität Frankfurt am Main.

Dümig (2021). Worte schaffen Tatsachen - So gelingt die Zusammenarbeit im Team. kindergarten heute. Ausgabe 5. S. 34-37.

Hessisches Ministerium für Soziales und Integration/Hessisches Kultusministerium (Hrsg.) (2016). Bildung von Anfang an. Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder im Alter von 0 bis 10 Jahren in Hessen. 7. Auflage.

Jaeggi, R. (2009). Was ist eine gute Institution? In: Forst, R., Hartmann, M., Jaeggi, R. & Saar, M. (Hrsg.): Sozialphilosophie und Kritik. Suhrkamp, S. 528-544.

Klos, V. (2007). Die Bedeutung des kollektiven Symbol- und Fiktionsspiels für den Erstspracherwerb. SPASS, Heft 16.

Knobloch.C. (1998). Wie man „den Konjunktiv“ erwirbt. SPASS, Heft 2.

Schopenhauer, A. (1986). Theorie des gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens. Philosophische Vorlesungen Teil 1. Spierling, Volker (Hg.). München.

Piske, T. (2001). Artikulatorische Muster im frühen Laut- und Lexikonerwerb. Gunter Narr.

Searle, J. (1997). Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen. Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Searle, J. (2004). Geist, Sprache und Gesellschaft. Philosophie in der wirklichen Welt. Suhrkamp Verlag.

Tracy, R. (2008). Wie Kinder Sprachen lernen. Und wie wir sie dabei unterstützen können. Francke Verlag.

Zaefferer, D. & Frenz, U. (1979). Sprechakte bei Kindern. Eine empirische Untersuchung zur sprachlichen Handlungsfähigkeit im Vorschulalter. Linguistik und Didaktik 38, S. 91-132.

Internetquellen

https://nicheconstruction.com/ (abgerufen: 26. Juli 2021, 17:30 UTC)

Autor

Dr. phil. Sascha Dümig arbeitet zurzeit als Dozent an den Ludwig Fresenius Schulen, Frankfurt am Main. Er ist staatlich anerkannter Erzieher, Germanist und Psychologischer Berater.