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Zitiervorschlag

Kinder im Kita-Alter und ihr Weg zur harmonischen Mehrsprachigkeit

Eine Artikelreihe von HaBilNet, dem Netzwerk für Harmonische Mehrsprachigkeit

Diese Reihe befasst sich mit aktuellen Entwicklungen zum Thema der frühen Mehrsprachigkeit. Sie erfahren, wie eine harmonische mehrsprachige Entwicklung aussieht und auf welche Weise Forschungsergebnisse für die Anwendung in Kitas und Familien nutzbar gemacht werden.

August 2021

 „Sie sollten mit Ihrem Kind zu Hause Deutsch sprechen“: ein guter Rat an nicht-deutschsprachige Eltern?

Annick De Houwer & Mareen Pascall

 

Einleitung: Der Rat an Eltern, zu Hause ausschließlich Deutsch zu verwenden

„Sie sollten mit Ihrem Kind zu Hause Deutsch sprechen, das wäre für seine sprachliche Entwicklung das Beste“. Vielleicht haben auch Sie Eltern, die zu Hause eine andere Sprache als Deutsch sprechen, diesen Rat gegeben? Oder Sie haben diesen Rat vonseiten eines Kinderarztes / einer Kinderärztin gehört?

Der Artikel beginnt mit einer Beschreibung dessen, was passieren kann, wenn Eltern aufhören, ihre bisher verwendete Sprache mit ihren Kindern zu sprechen. Anschließend wird erörtert, aus welchen gutgemeinten Gründen Kita-Fachkräfte möglicherweise Eltern diesen Rat geben, dass jedoch die Familiensprache und die Schulsprache sich nicht einander ausschließen. Der Beitrag schließt mit dem Fazit, dass der Erwerb mehrerer Sprachen gut gelingen kann, wenn den Kindern genügend Möglichkeiten gegeben werden, beide Sprachen adäquat zu entwickeln.

Wenn Eltern aufhören, mit ihren Kindern „ihre“ Sprache zu sprechen

Stellen Sie sich vor, jemand sagt Ihnen, Sie sollten mit Ihrem Kind aufhören, Deutsch zu sprechen, nachdem Sie aus einem deutschsprachigen Land weggezogen sind. Sie würden sich vermutlich entmutigt, verunsichert und vielleicht sogar wütend fühlen. Und wie sollen Sie mit Ihrem Kind in einer neuen Sprache sprechen, die Sie selbst noch lernen müssen? Oder, wenn Sie die neue Sprache zu einem gewissen Grad bereits gelernt haben, wie können Sie sicherstellen, dass Sie mit Ihrem Kind so sprechen, wie es einem kleinen Kind entspricht, und wie singen Sie Lieder und bringen spontan Wortspiele oder Reime (vgl. Blank-Matheu 2005) mit ein? Ist Ihre Aussprache zudem authentisch und natürlich genug, um einem kleinen Kind ein gutes Beispiel zu geben? Kennen Sie die Wörter, die mit der Erziehung eines kleinen Kindes einhergehen?

All diese Fragen stellen sich auch nicht-deutschsprachigen Eltern, die im deutschsprachigem Raum leben und denen die Empfehlung gegeben wird, nur Deutsch mit ihren Kindern zu reden. Kleine Kinder brauchen jedoch vor allem quantitativ und qualitativ reichhaltige und vielfältige sprachliche Anregungen für ihren Spracherwerb. Wenn Eltern mit ihrem Kind in einer Sprache sprechen, die sie nur teilweise beherrschen, oder die sie zwar gut beherrschen, jedoch bisher nur mit Erwachsenen – beispielsweise geschäftlich – verwendet haben, bedeutet dies zunächst eine große Einschränkung in der Eltern-Kind-Kommunikation.

Darüber hinaus ist eine bestimmte Sprache nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern immer auch Ausdrucksmittel kultureller Identität. Sprache hat stets emotionale Bedeutung, das zeigen die emotionalen Debatten, die bereits über einzelne Phänomene wie Anglizismen, das Gendern, ja selbst die bloße Verwendung von Dativ oder Genitiv geführt werden. Sollen Eltern mit ihrem Kind nun gar insgesamt eine Sprache verwenden, mit der sie (noch) keine emotionale Bindung haben, und die sie vorher nie im häuslichen Umfeld verwendet haben, so bewirkt dies eine unerwünschte Distanz vom eigenem Kind. Solch eine Distanz ist keine gute Voraussetzung für die sprachliche wie auch allgemeine Entwicklung des Kindes.

Das Wichtigste für die Entwicklung des Kindes ist eine geborgene und sichere Eltern-Kindbindung. Diese lässt sich nur erfüllen, wenn die Eltern in der ihnen vertrautesten und emotional nächsten Sprache mit ihren Kindern in Verbindung sind.

Schließlich ist die Mehrsprachigkeit in vielen Familien keine Frage einer freien Entscheidung – Eltern können und sollten nicht versuchen müssen, in einer Fremdsprache mit ihren Kindern zu kommunizieren und ihre Elternrolle zu erfüllen. Die Kinder wiederum sollten auch mit Familienmitgliedern, die möglicherweise weiterhin im Herkunftsland leben und über keine Deutschkenntnisse verfügen, in Kontakt sein können. Dies geht nur über eine Bewahrung aktiver Fertigkeiten in der Familiensprache. Die Mehrsprachigkeit dieser Familien ist also als etwas Gegebenes zu betrachten.

Dementsprechend legt auch die UN-Konvention für Kinderrechte (von Deutschland 1992 ratifiziert) in Artikel 29 fest: Die Vertragsstaaten stimmen darin überein, dass die Bildung des Kindes darauf gerichtet sein muss, […] dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen kulturellen Werten, den nationalen Werten des Landes, in dem es lebt, und gegebenenfalls des Landes, aus dem es stammt, sowie vor anderen Kulturen als der eigenen zu vermitteln. Die Empfehlung, zu Hause mit den Kindern statt in der bisher verwendeten Sprache nur Deutsch zu sprechen, würde somit gegen die UN-Konvention für Kinderrechte verstoßen.

Mögliche Gründe für den Rat, nur Deutsch zu sprechen

Häufig wird angenommen, dass die Verwendung einer anderen Sprache in der Familie dem Erlernen der deutschen Sprache im Wege steht. Diese Annahme mag damit zu tun haben, dass Laien meinen, das kindliche Gehirn könne nur eine bestimmte Menge Informationen aufnehmen. Wie weiter unten erläutert wird, stellt eine Erstsprache jedoch keine Gefahr für das Erlernen einer zweiten Sprache dar.

Aus der Annahme, dass die Verwendung einer anderen Sprache in der Familie dem Erlernen der deutschen Sprache im Wege steht, wird oft abgeleitet, dass Kinder zugewanderter Eltern aufgrund ihrer nicht-deutschen Familiensprache größere Schwierigkeiten haben, sich zu integrieren, und später geringere Schulleistungen aufweisen würden. Mit dem gutgemeinten Rat, zu Hause mehr Deutsch zu verwenden, wird häufig die Hoffnung verbunden, dass die Kinder bessere Schulleistungen erbringen würden. Studien, die Mehrsprachigkeit und Schulleistungen unter Ausschluss aller anderen Faktoren (etwa Bildungsgrad und sozio-ökonomischer Status der Eltern) betrachten, sind jedoch nicht durchgeführt worden. Es gibt somit keinerlei Evidenz für diese Annahme.

Hinterfragt werden kann auch, warum bei Kindern mit Familiensprachen wie Englisch oder Französisch seltener angenommen wird, dies nähme etwas von der Schulsprache Deutsch weg, als dies bei Kindern mit Familiensprachen wie bspw. Polnisch, Arabisch oder Türkisch vermutet wird. Hier besteht wahrscheinlich eher ein Zusammenhang mit dem Prestige verschiedener Sprachen als mit der Mehrsprachigkeit an sich.

Die Familiensprache nimmt nichts von der Schulsprache weg

Kinder, die von Geburt an sowohl eine Familiensprache als auch die Schulsprache hören, können beiden Sprachen auf hohem Niveau erwerben. Bei ihnen gibt es kaum Einflüsse, weder im positiven noch im negativen Sinne, von der einen auf die anderen Sprache (De Houwer, im Druck). Manchmal ist von außen nicht einmal zu bemerken, dass diese Kinder mehrsprachig sind. Ihr Deutsch ist meistens gut entwickelt, wenn sie in der Kita ankommen.

Anders ist es bei Kindern, die zu Hause zunächst nur eine nicht-deutsche Familiensprache gehört haben, und erst in der Kita mit dem Erwerb der deutschen Sprache beginnen. Längsschnittstudien zum frühen Zweitspracherwerb bei Kindern von zwei Jahren bis ins Vorschulalter und mit unterschiedlichen Sprachenpaaren haben gezeigt, dass, je besser die Erstsprache entwickelt ist, desto bessere Ergebnisse beim späteren Zweitspracherwerb zu verzeichnen sind (Marchman et al. 2020; Sierens et al. 2019; Hurtado et al. 2014; Winsler et al. 2014). Im Gegensatz zur landläufigen Annahme der „Konkurrenz“ zwischen mehreren Sprachen nimmt die Familiensprache also nichts von der Schulsprache weg, sondern kann den Erwerb einer Zweitsprache sogar unterstützen (vgl. Ertanir et al 2019).

Fazit

Kinder können eine, zwei oder mehr Sprache(n) gut lernen, wenn sie genügend Anregung in Form von kindgerechter Sprache erhalten. Ebenso werden eine, zwei oder mehr Sprache(n) nicht gut gelernt, wenn es wenig kindgerechte sprachliche Exposition gibt. Nicht die Zahl der Sprachen ist entscheidend, sondern das Maß an Zeit, die Familienmitglieder und andere Bezugspersonen sprechend, vorlesend, reimend und singend mit dem Kind verbringen.

Die Kita ist für Kinder der richtige Ort, um die Schulsprache Deutsch zu erleben und zu verbessern. Ebenso ist für die jeweilige Familiensprache das häusliche Umfeld der richtige Ort, auch diese Sprache zu erfahren und mit den Eltern wie weiteren Familienmitgliedern verwenden zu können. Auf diese Weise werden Kinder darin unterstützt, sich wohl und sicher zu fühlen, allen verwendeten Sprachen gegenüber offen zu sein, und schlussendlich auch in der Schule problemlos lernen zu können.

 

Literaturverzeichnis

Blank-Mathieu, M.: Zur Bedeutung von Reimen und Kinderliedern für das Erlernen der Sprache. Online verfügbar unter https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/sprache-fremdsprachen-literacy-kommunikation/1270, 2005.

De Houwer, A.: Entwicklung von Mehrsprachigkeit: Kindheit und frühe Jugend. In: Földes, C. und Roelcke, T. (Hg.): Handbuch Mehrsprachigkeit. Berlin: De Gruyter, im Druck.

Ertanir, Beyhan; Kratzmann, Jens; Sachse, Steffi: Sozio-emotionale Kompetenzen mehrsprachiger Kindergartenkinder und deren Wechselwirkungen mit den Sprachleistungen im Deutschen. In: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 51 (1), 2019, S. 31–44.

Hurtado, N., Grüter, T., Marchman, V. A., & Fernald, A.: Relative language exposure, processing efficiency and vocabulary in Spanish– English bilingual toddlers. Bilingualism: Language and Cognition, 17(01), 2014, pp. 189–202. doi:http://doi.org/10.1017/S136672891300014X.

Marchman, V. A., Bermúdez, V. N., Bang, J. Y., & Fernald, A.: Off to a good start: Early Spanish-language processing efficiency supports Spanish- and English-language outcomes at 41⁄2 years in sequential bilinguals. Developmental Science, 23(6) e12973, 2020. doi:http://doi.org/10.1111/desc.12973.

Sierens, S., Slembrouck, S., Van Gorp, K., & Ağırdağ, O.: Linguistic interdependence of receptive vocabulary skills in emergent bilingual pre-school children: Exploring a factor-dependent approach. Applied Psycholinguistics, 50(5), 2019, 1269–1297. doi:http://doi.org/10.1017 /S0142716419000250.

Winsler, A., Kim, Y., & Richard, E.: Socio-emotional skills, behavior problems, and Spanish competence predict the acquisition of English among English language learners in poverty. Developmental Psychology, 50, 2014, 2242–2254. doi:http://doi.org/10.1037/a0037161.

Verwendeter Direktlink:

HaBilNet Internetseite: www.habilnet.org/de

Autorinnen

Prof. em. Dr. Annick De Houwer ist Direktorin des Netzwerks für Harmonische Mehrsprachigkeit HaBilNet und Präsidentin der International Association for the Study of Child Language (Internationaler Verein für Kindersprachenforschung). Bis Ende März 2021 war sie Professorin für Spracherwerb und Mehrsprachigkeit an der Universität Erfurt. Seit vier Jahrzehnten forscht Annick De Houwer zum Thema frühe Mehrsprachigkeit. Ihre Schriften werden weltweit an Hochschulen als Lernmaterial genutzt. In Vorträgen zur harmonischen mehrsprachigen Sprachentwicklung spricht sie sowohl zu akademischen als auch nicht-akademischen Zuhörerschaften.

Mareen Pascall ist Deutsch-als-Fremd-/Zweitsprache-Lehrerin und Slawistin mit Schwerpunkt polnische Sprache, Kultur und Geschichte. Sie arbeitet freiberuflich als DaF-Lehrerin und für das Netzwerk HaBilNet.