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Zitiervorschlag

Altershomogene und altersgemischte Kita-Gruppen: große Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland

Martin R. Textor

 

Kindertageseinrichtungen steht es in der Regel frei, ob sie die ihnen anvertrauten Kinder in altershomogenen Gruppen, in Gruppen mit bis zu drei Jahrgängen ("kleine" Altersmischung) oder in Gruppen mit mehr als drei Jahrgängen ("große" Altersmischung) einordnen, wobei im Extremfall - wenn auch Schulkinder in der Kita betreut werden - bis zu neun oder zehn Jahrgänge zusammenkommen können. Damit hat Deutschland einen Sonderweg beschritten, da in den meisten anderen hoch entwickelten Ländern Kleinkinder überwiegend in Jahrgangsgruppen erzogen und gebildet werden. Auch die in der Bundesrepublik weit verbreiteten offenen Gruppen sind in anderen Staaten weitgehend unbekannt.

Bisher wurde noch nicht wissenschaftlich geklärt, ob sich die jeweilige Gruppierungsform im Vergleich zu den anderen eher positiv oder eher negativ auf die (früh-) kindliche Entwicklung auswirkt. Dies wird auch im 6. nationalen Bildungsbericht "Bildung in Deutschland 2016" betont, der von der Autorengruppe Bildungsberichterstattung mit Mitteln der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung erstellt wurde: "Bislang liegen kaum Erkenntnisse über die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Gruppenstrukturen auf die Förderung und Entwicklung der Kinder vor" (S. 57).

In diesem Artikel möchte ich nicht auf die Vor- und Nachteile verschiedener Gruppierungsformen eingehen, da ich dies schon in anderen Fachtexten getan habe (z.B. Textor 1997, 1998, 2011). Vielmehr will ich der Frage nachgehen, wie weit die unterschiedlichen Gruppenstrukturen in Deutschland verbreitet sind. Darüber gibt der 6. nationale Bildungsbericht "Bildung in Deutschland 2016" meines Wissens zum ersten Mal Auskunft: "Um die Altersheterogenität genauer zu erfassen, kann seit 2014 die exakte Altersspanne zwischen dem ältesten und dem jüngsten Kind pro Gruppe berechnet werden" (S. 57), was seitens der Autorengruppe Bildungsberichterstattung anhand der Daten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder sowie mit deren Unterstützung geschah. Die Ergebnisse wurden in einer Abbildung (ebd., S. 57) und in zwei Tabellen präsentiert, wobei letztere nur über die Online-Version des Bildungsberichts zu finden sind. Die beiden Tabellen werden im Folgenden in einer gekürzten Fassung präsentiert. So wurde der Übersichtlichkeit willen auf die Wiedergabe der Zahl der Gruppen verzichtet, die in die sechs Kategorien von "gleicher Jahrgang" bis "6 Jahrgänge und mehr" fallen - die Prozentangaben sind viel aussagekräftiger.

In Tabelle 1 werden 83.053 Kita-Gruppen mit mindestens einem Kind unter drei Jahren und in Tabelle 2 66.923 Gruppen mit ausschließlich Kindern ab drei Jahren erfasst, also insgesamt 149.976 Gruppen. Laut dem Statistischen Bundesamt (2016, Tabelle 24) gab es 2015 bundesweit 165.504 Kita-Gruppen, wobei von dieser Zahl aber 8.498 Hortgruppen und 7.155 offen arbeitenden Gruppen abzuziehen sind, da sie in der hier präsentierten Studie nicht berücksichtigt wurden. Damit bleiben 149.851 Gruppen übrig, was ziemlich genau der von der Autorengruppe Bildungsberichterstattung untersuchten Zahl von Gruppen entspricht.

Tabelle 1: Gruppen in Kindertageseinrichtungen1) 2) mit mindestens einem Kind unter 3 Jahren 2015 nach Alterspanne3) und Ländern

 

Gruppen insgesamt

Davon mit Kindern im Altersabstand von…

gleichem Jahrgang

2 Jahr-
gängen

3 Jahr-
gängen

4 Jahr-
gängen

5 Jahr-
gängen

6 Jahr-
gängen und mehr

Deutschland

83.053

21,8

29,4

13,7

28,1

5,4

1,5

Westdeutschland

62.855

14,4

30,1

15,4

32,9

5,7

1,6

Ostdeutschland

20.198

45,2

27,3

8,6

13,1

4,7

1,1

Baden-Württemberg

11.571

21,1

25,5

17,6

28,7

5,3

1,8

Bayern

10.917

14,3

45,8

12,9

21,2

3,4

2,4

Berlin

3.486

28,3

23,9

14,2

21,1

10,8

1,7

Brandenburg

2.938

48,7

28,9

7,9

9,9

3,5

1,1

Bremen

568

27,8

48,8

6,7

12,0

4,4

0,4

Hamburg

2.096

17,7

42,8

18,0

16,0

4,5

1,0

Hessen

6.345

16,8

31,3

10,6

31,8

6,9

2,6

Mecklenburg-Vorpommern

2.255

53,3

29,0

6,7

8,2

2,1

0,6

Niedersachsen

5.898

9,8

44,1

17,0

22,8

4,7

1,6

Nordrhein-Westfalen

17.056

8,7

17,2

18,0

49,3

6,4

0,4

Rheinland-Pfalz

4.755

15,7

21,2

13,5

41,5

6,6

1,5

Saarland

895

14,1

32,1

9,7

29,6

11,4

3,1

Sachsen

5.438

45,0

29,1

8,3

13,3

3,3

1,0

Sachsen-Anhalt

2.698

46,4

31,9

6,0

9,9

4,3

1,6

Schleswig-Holstein

2.754

18,3

36,0

11,9

23,0

8,7

2,1

Thüringen

3.383

53,3

21,5

7,4

13,5

4,0

0,3

1)Die Anzahl der Kindertageseinrichtungen enthält keine Einrichtungen mit ausschließlich Schulkindern (Horte)...
2)Ohne Gruppen in Einrichtungen ohne feste Gruppenstruktur und ohne Gruppen, die ausschließlich von Schulkindern besucht werden.
3)Die Altersspanne stellt die Altersdifferenz zwischen dem ältesten und dem jüngsten Kind in einer Gruppe dar. Der "gleiche Jahrgang" umfasst die Altersdifferenz von weniger als 18 Monaten. "2 Jahrgänge" umfassen alle Gruppen, in denen die Altersdifferenz 18 bis 29 Monate beträgt. Die Kategorie "3 Jahrgänge" entspricht der Altersspanne von 30 bis 41 Monaten, "4 Jahrgänge" entspricht der Altersspanne von 42 bis 53 Monaten, "5 Jahrgänge" entspricht der Altersspanne von 54 bis 65 Monaten und in der Kategorie "6 und mehr Jahrgänge" sind alle Gruppen enthalten, in denen die Altersspanne zwischen dem ältesten und dem jüngsten Kind mehr als 65 Monate beträgt.
Quelle: Tab. C2-11web (gekürzt), in: Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2016/bildung-in-deutschland-2016 (19.03.2018)

Es dürfte insbesondere für westdeutsche Fachkräfte und Expert/innen überraschend sein, dass laut Tabelle 1 im Jahr 2015 mehr als ein Fünftel aller Kita-Gruppen mit mindestens einem unter dreijährigen Kind altershomogen waren. Auffallend ist hier die große Diskrepanz zwischen Westdeutschland mit 14,4% und Ostdeutschland mit 45,2%. Während in Nordrhein-Westfalen gerade einmal 8,7% und in Niedersachsen 9,8% der Gruppen mit unter dreijährigen Kindern Jahrgangsgruppen waren, traf dies in Mecklenburg-Vorpommern und in Thüringen auf 53,3% zu - also auf mehr als die Hälfte der Gruppen!

Da die "klassischen" Kinderkrippen in der Regel zwei Jahrgänge in einer Gruppe betreuten, ist es nicht verwunderlich, dass auch 2015 die meisten Gruppen mit mindestens einem unter dreijährigen Kind (29,4%) solche Gruppen waren. Der Unterschied zwischen Westdeutschland (30,1%) und Ostdeutschland (27,3%) ist hier kaum nennenswert - bei den einzelnen Bundesländern reichte die Bandbreite aber von 17,2% (Nordrhein-Westfalen) bis 48,8% (Bremen). Gruppen mit drei Jahrgängen waren mit bundesweiten 13,7% eher selten; sie traten in Westdeutschland (15,4%) häufiger als in Ostdeutschland (8,6%) auf.

Mit 28,1% umfassten recht viele Kita-Gruppen mit mindestens einem unter dreijährigen Kind vier Jahrgänge. Hier dürfte es sich vor allem um "klassische" Kindergärten handeln, die sich für Zweijährige geöffnet haben. Vier Jahrgänge in einer Gruppe gab es mehr als doppelt so häufig in Westdeutschland (32,9%) als in Ostdeutschland (13,1%), wobei die Bandbreite bei den Bundesländern mit 49,3% in Nordrhein-Westfalen und gerade einmal 8,2% in Mecklenburg-Vorpommern noch viel größer war. Auch Gruppen mit fünf oder sechs und mehr Jahrgängen waren in Westdeutschland mit 7,3% stärker vertreten als in Ostdeutschland mit 5,8%.

Tabelle 2: Gruppen in Kindertageseinrichtungen1) 2) mit ausschließlich Kindern ab 3 Jahren 2015 nach Alterspanne3) und Ländern

 

Gruppen insgesamt

Davon mit Kindern im Altersabstand von…

gleichem Jahrgang

2 Jahr-
gängen

3 Jahr-
gängen

4 Jahr-
gängen

5 Jahr-
gängen

6 Jahr-
gängen und mehr

Deutschland

66.923

13,4

14,8

61,3

8,9

0,5

1,0

Westdeutschland

50.011

3,3

10,6

74,3

9,9

0,6

1,3

Ostdeutschland

16.912

43,1

27,4

22,8

6,2

0,2

0,2

Baden-Württemberg

7.581

2,0

7,3

74,5

13,2

1,0

2,0

Bayern

10.339

3,8

8,2

72,9

12,9

0,9

1,3

Berlin

1.990

38,8

30,5

27,2

3,4

0,1

-

Brandenburg

2.578

48,4

28,5

18,6

4,0

0,2

0,3

Bremen

781

1,0

5,4

85,7

7,3

0,3

0,4

Hamburg

1.257

13,8

27,1

49,8

8,7

0,4

0,2

Hessen

5.195

2,3

7,2

67,9

18,2

0,9

3,3

Mecklenburg-Vorpommern

2.247

38,1

28,3

24,7

8,1

0,3

0,5

Niedersachsen

7.802

3,5

13,4

75,9

5,7

0,4

1,1

Nordrhein-Westfalen

11.143

2,2

11,8

83,5

2,4

0,0

0,2

Rheinland-Pfalz

2.227

6,7

17,3

65,4

7,8

0,8

2,1

Saarland

685

2,6

4,8

60,0

31,5

0,7

0,3

Sachsen

5.404

43,9

25,0

22,5

8,2

0,2

0,2

Sachsen-Anhalt

2.299

44,3

25,7

22,5

7,2

0,3

0,1

Schleswig-Holstein

3.001

4,8

11,4

69,4

12,8

0,6

1,1

Thüringen

2.394

43,0

29,9

23,2

3,6

0,1

0,2

1)Die Anzahl der Kindertageseinrichtungen enthält keine Einrichtungen mit ausschließlich Schulkindern (Horte)...
2)Ohne Gruppen in Einrichtungen ohne feste Gruppenstruktur und ohne Gruppen, die ausschließlich von Schulkindern besucht werden.
3)
Die Altersspanne stellt die Altersdifferenz zwischen dem ältesten und dem jüngsten Kind in einer Gruppe dar. Der "gleiche Jahrgang" umfasst die Altersdifferenz von weniger als 18 Monaten. "2 Jahrgänge" umfassen alle Gruppen, in denen die Altersdifferenz 18 bis 29 Monate beträgt. Die Kategorie "3 Jahrgänge" entspricht der Altersspanne von 30 bis 41 Monaten, "4 Jahrgänge" entspricht der Altersspanne von 42 bis 53 Monaten, "5 Jahrgänge" entspricht der Altersspanne von 54 bis 65 Monaten und in der Kategorie "6 und mehr Jahrgänge" sind alle Gruppen enthalten, in denen die Altersspanne zwischen dem ältesten und dem jüngsten Kind mehr als 65 Monate beträgt.
Quelle: Tab. C2-12web (gekürzt), in: Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2016/bildung-in-deutschland-2016 (19.03.2018)

Wie Tabelle 2 verdeutlicht, waren 2015 in Ostdeutschland mehr als zwei Fünftel der Kita-Gruppen (43,1%) mit Kindern zwischen drei Jahren und dem Schuleintritt altershomogen, während in Westdeutschland diese Gruppenform mit gerade einmal 3,3% nahezu unbedeutend war. Noch auffälliger waren die Unterschiede auf Länderebene: Das eine Extrem bildete Brandenburg mit 48,4% Jahrgangsgruppen, das andere Extrem Bremen mit gerade einmal 1,0%. Diese großen Unterschiede zwischen den ostdeutschen und den westdeutschen Bundesländern dürften wohl den wenigsten Erzieher/innen und Fachleuten bewusst sein. Aber auch Gruppen mit zwei Jahrgängen von Kindern ab drei Jahren waren in Ostdeutschland mit 27,4% mehr als doppelt so häufig wie in Westdeutschland mit 10,6%. Die Bandbreite variierte hier zwischen 30,5% in Berlin und 4,8% im Saarland.

"Klassische" Kindergärten mit drei Jahrgängen in einer Gruppe waren mit bundesweiten 61,3% immer noch die häufigste Betreuungsform. Sie war in Westdeutschland mit 74,3% bei weitem stärker verbreitet als in Ostdeutschland mit gerade einmal 22,8%. Die Extreme auf Länderebene waren 85,7% in Bremen und 18,6% in Brandenburg. Gruppen mit vier, fünf, sechs und mehr Jahrgängen, in denen neben Kleinkindern ab drei Jahren also auch Schulkinder betreut wurden, waren mit bundesweiten 10,4% relativ selten. Sie traten etwas häufiger in Westdeutschland (11,8%) als in Ostdeutschland (6,6%) auf. Relativ hohe Prozentsätze bei Gruppen mit vier Jahrgängen verzeichneten das Saarland mit 31,5% und - in geringerem Maße - Hessen mit 18,2%. In Hessen gab es auch die meisten Gruppen mit sechs und mehr Jahrgängen (3,3%).

Fazit

Dieser Artikel zeigt, dass unter dreijährige Kinder und Kinder zwischen drei Jahren und dem Schuleintritt in Gruppen mit ganz verschiedenen Altersstrukturen aufwachsen, wobei die Unterschiede zwischen den Bundesländern außerordentlich groß sein können. Dasselbe gilt auch für andere Faktoren wie z.B. Betreuungs- und Ganztagsquoten, Gruppengrößen, Fachkraft-Kind-Relationen, Qualifikationen der Fachkräfte und zeitliche Leitungsressourcen, was an anderer Stelle erörtert wurde (siehe z.B. Textor 2016). Es überrascht, dass die Auswirkungen dieser Unterschiede auf die (früh-) kindliche Entwicklung bisher noch nicht erforscht wurden und dass die damit verbundene Ungleichbehandlung von Kindern erst ansatzweise in der (politischen, Fach-) Öffentlichkeit thematisiert wird.

Literatur

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: Bertelsmann 2016

Statistisches Bundesamt (2016): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Kinder und tätige Personen in Tageseinrichtungen und in öffentlich geförderter Kindertagespflege am 01.03.2015. Wiesbaden: Selbstverlag

Textor, M.R. (1997): Vor- und Nachteile einer weiten Altersmischung in Kindertageseinrichtungen. https://www.kindergartenpaedagogik.de/29.html

Textor, M.R. (1998): Weite Altersmischung. https://www.kindergartenpaedagogik.de/789.html

Textor, M.R. (2011): Altershomogene Gruppen - eine weitgehend ungenutzte Alternative. https://www.kindergartenpaedagogik.de/2184.html

Textor, M.R. (2016): Kindertagesbetreuung - Ungleichbehandlung von Kindern, Ungerechtigkeiten und schlechte Qualität bekämpfen! https://www.kindergartenpaedagogik.de/1763.html

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de