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Zitiervorschlag

Quelle: Erstveröffentlichung in "engagement". Die Zeitschrift für Theorie und Praxis der Schulen und Internate in katholischer Trägerschaft, Ausgabe 37/2019[1]

 

Bildung und Beteiligung –

Ein Impuls aus der Erzieherausbildung an Fachschulen für Sozialpädagogik[2]

Axel Bernd Kunze

Bildung wird im jüngeren bildungsethischen Diskurs als zentrales Medium von Beteiligung betrachtet. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die 2019 dreißig Jahre alt wird, hat darauf aufmerksam gemacht, dass Kinder bereits von klein auf Beteiligungsrechte besitzen. Der vorliegende Beitrag fragt, welche Bedeutung der Beteiligungsbegriff für die pädagogische Arbeit von Erziehern und Erzieherinnen besitzt.

Bildung und Bindung gehören eng zusammen – dies ist jedem bekannt, der eine Erzieherausbildung absolviert hat. In der aktuellen Bildungsreformdebatte, die mit der ersten PISA-Studie vor nicht ganz zwanzig Jahren begann, ist aber noch ein weiterer Zusammenhang immer stärker ins Blickfeld der pädagogischen Debatte getreten: der Zusammenhang von Bildung und Beteiligung. Hierzu beigetragen hat nicht zuletzt der Besuch des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung, Vernor Munoz, 2006 in Deutschland (vgl. Kunze 2008). Der Vertreter der Vereinten Nationen aus Costa Rica machte Beteiligung zum Leitprinzip seines Berichts, den er ein Jahr später dem Menschenrechtsrat in Genf vorlegte. Im evangelischen Bereich war es nicht zuletzt der Systematische Theologe und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, der diesen Zusammenhang in seiner Gerechtigkeitstheorie herausgestellt hat (vgl. Huber 2006).

Menschen haben einen Anspruch darauf, sich am sozialen Leben beteiligen zu können. Dieser Anspruch auf Beteiligung bestimmt sich durch zwei, sich wechselseitig bedingende Aspekte, und zwar Beitragen und Teilhaben. Was meint dies?

Beitragende Gerechtigkeit

Betrachten wir zunächst einmal den Aspekt der beitragenden Gerechtigkeit. Niemand kann für sich allein leben. Der Einzelne kann sich nur im sozialen Miteinander verwirklichen. Sich nicht einfach treiben oder von äußeren Zwängen beherrschen zu lassen, sondern sein Leben aktiv gestalten und etwas zum Gemeinwohl beitragen zu können, ist eine (wenn auch nicht die einzige) Form sozialer Anerkennung und Wertschätzung. Bildung ist dabei eine unabdingbare Voraussetzung, zum Autor des eigenen Lebens werden zu können.

In der modernen Gesellschaft gibt es wohl keinen Bereich des Zusammenlebens, der nicht durch Bildung bestimmt wird. Wer keinen ausreichenden Zugang zu Bildung hat, wird sich in nahezu allen anderen Lebensbereichen schwer tun: auf dem Arbeitsmarkt oder im bürgerschaftlichen Engagement, bei politischer Beteiligung oder beim Konsum, in der eigenen Erziehungspraxis oder beim eigenen Gesundheitsverhalten, bei der Bewältigung des Alltags oder bei der privaten Selbstverwirklichung. Die Beteiligung an Bildung wird zudem immer wichtiger in einer Gesellschaft, die sich immer weiter ausdifferenziert und spezialisiert, beschleunigt und pluralisiert. Der Einzelne sieht sich heute einer Vielzahl konkurrierender Lebensentwürfe und Handlungsmuster gegenüber, aus denen er auswählen muss. Die Freiheit, die dem Einzelnen aufgegeben ist, fordert ihm ständig Entscheidungen ab. Dies verlangt Orientierungswissen und die Kompetenz, begründet und selbstverantwortlich entscheiden zu können. Wer nicht gelernt hat, mit der Vielfalt an Angeboten und Meinungen umzugehen, über den wird sehr leicht entschieden – aber eben von anderen.

Teilhabende Gerechtigkeit

Dann gibt es aber auch die andere Seite, gleichsam die Kehrseite derselben Medaille: die teilhabende Gerechtigkeit. Der Gemeinschaft kann es nicht gleichgültig sein, ob der Einzelne sich beteiligen kann oder nicht. Die sozialen Institutionen, etwa unser Bildungs- und Erziehungssystem, sind daher so zu gestalten, dass sie dem Einzelnen auch die aktive Teilhabe am sozialen Leben real ermöglichen. Der Einzelne soll seine Fähigkeiten in die Gemeinschaft einbringen können. Und er soll in der Lage sein, sich an jenen sozialen und politischen Aushandlungsprozessen zu beteiligen, in denen immer wieder von neuem um das Gemeinwohl und seine angemessene Verwirklichung gerungen wird.

Der schon erwähnte Wolfgang Huber hat darauf hingewiesen, dass diese Fähigkeiten nicht von vornherein vorausgesetzt werden können. Sie müssen gefördert und eingeübt werden. Er spricht daher des Weiteren von einer Befähigungsgerechtigkeit, gemeint ist die notwendige Befähigung zur Gerechtigkeit, zur Beteiligung und Mitbestimmung.

Kinderrechte

Und die Fähigkeiten hierzu sollten von klein auf eingeübt werden. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die in diesem Jahr vor genau dreißig Jahren verabschiedet wurde, macht deutlich, dass Kinder eigenständige Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte besitzen. Der UN-Kinderrechtsausschuss, der die Einhaltung der Konvention überwachen soll, verlangt im Sinne des Schutzauftrags eine auf das Kind konzentrierte Form der Bildung, welche die notwendigen Fähigkeiten zur Selbstbehauptung vermittelt. Eng verbunden ist damit ein Recht auf Erziehung, also auf pädagogische Unterstützung, Begleitung und Förderung, damit das Kind schrittweise, dem Alter und der Entwicklung angemessen, dazu befähigt wird, immer stärker Selbstverantwortung für das eigene Leben übernehmen und Beteiligungsmöglichkeiten eigenständig nutzen zu können.

Die Sozialethikerin Anna-Maria Riedl hat in ihrer 2017 veröffentlichten Doktorarbeit zum Kindeswohl angemahnt, dass noch einige Anstrengung notwendig ist, den eigenständigen Anspruch von Kindern auf Beteiligung zu qualifizieren – sie schreibt: „[E]s geht nicht nur um das ‚Dass‘ der Beteiligung, sondern auch um das ‚Wie‘“ (Riedl 2017, S. 37). Die Theologin lässt keinen Zweifel daran, dass aus einem erweiterten Beteiligungsbegriff auch erweiterte Rechtsansprüche der Kinder gegenüber Staat und Gesellschaft erwachsen. Diese dürften nicht allein der individuellen Verantwortung von Eltern und Pädagogischen Fachkräften überlassen bleiben, sie müssten auch strukturell verankert werden.

Dies geschieht bereits, wenn Beteiligungsansprüche der Kinder in den staatlichen Bildungsplänen oder den Konzeptionen der einzelnen Träger verankert werden. Die Kinderkonferenz oder das Kinderparlament beispielsweise sind didaktisch-methodische Möglichkeiten, diese Vorgaben dann auch in der pädagogischen Praxis umzusetzen. Bei alldem bleibt es aber wichtig, eines nicht zu vergessen: Verwirklichen lassen sich die eigenständigen Ansprüche der Kinder, wie sie etwa in der Kinderrechtskonvention formuliert sind, nur im angemessenen Zusammenspiel von Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechten. Denn Kinder bereits als vollgültige Akteure im Kampf um Anerkennung und Beteiligung anzusehen, nimmt ihnen jenen pädagogischen Bildungsraum des „Als-ob“, in dem sich die notwendigen Fähigkeiten für wirksame Beteiligung erst entwickeln können.

Beteiligung in der Elementarbildung

Der „Gemeinsame Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen“ von 2004, auf dem die Bildungspläne in den einzelnen Bundesländern fußen, hebt die „guten Beteiligungsmöglichkeiten“ in den Kindertagesstätten hervor. In der Elementarbildung soll sich der „Prozess der Weltaneignung“ (Jugendministerkonferenz/Kultusministerkonferenz 2004, S. 2) – wie Bildung im Gemeinsamen Rahmen der Länder umschrieben wird – vorrangig aus sozialen Situationen ergeben, also alltagsbasiert erfolgen. Wörtlich heißt es: „Eine Fächerorientierung oder Orientierung an Wissenschaftsdisziplinen ist dem Elementarbereich fremd. Eine Beschreibung von Themenfeldern, in denen sich kindliche Neugier artikuliert, aber ist sinnvoll, weil sie die Angebote der Kindertageseinrichtung konkretisiert“ (ebd., S. 3).

Der Alltag fordert die Neugier der Kinder heraus. Dieser soll bilden – aber eines sollte nicht übersehen werden: Es geht in weiten Teilen um einen gestalteten Alltag. Oder wie es der Kölner Pädagoge Matthias Burchardt unter Bezugnahme auf sogenannte „Wolfskinder“, mit denen sich angehende Erzieher und Erzieherinnen zu Beginn ihrer Ausbildung auseinandersetzen müssen, zuspitzt: Eben „nicht diese fiese Umwelt mit Spinnen und Dreck, sondern die arrangierte Vollwert-Umwelt: die Lernumgebung. Sie stellt die Herausforderungen, die einzeln oder kooperativ bewältigt werden müssen. Sie schafft Lerngelegenheiten und Entwicklungschancen“ (Burchardt 2018, S. 39).

Jörg Maywald beschreibt zu Beginn seines Buches „Kinderrechte in der Kita“, wie er sich eine Kindertageseinrichtung vorstellt, die „vom Kind denkt“ und dessen Wohl in den Mittelpunkt stellt: „Schnell erkennen [die Kinder], dass sie willkommen sind und eingeladen, die Welt um sie herum zu erkunden, und dabei von feinfühligen und engagierten Erwachsenen begleitet und unterstützt werden. Nicht zuletzt fühlen sich die Kinder davon angezogen, Schritt für Schritt die Begrenztheit ihrer Familie zu verlassen. Dies gilt umso mehr, weil sie die Erfahrung machen, am Ende des Kita-Tages in den familiären Raum zurückzukehren, wo sie Vertrauen begegnen und neue Kraft für den nächsten Tag schöpfen. Kinder sind wissbegierig und nutzen jede Gelegenheit, Neues auszuprobieren. Gerade weil sich die Familien-Welt von der Kita-Welt unterscheidet und an beiden Orten nicht die gleichen Regeln gelten, profitieren Kinder von dem geteilten Betreuungssetting“ (Maywald 2016, S. 7). Erziehung findet dabei nicht allein im direkten Kontakt zwischen Kind und pädagogischer Fachkraft statt, sondern auch auf indirekte Weise – über die Gestaltung von Beziehungen, Spielmaterial, Zeiten und Räumen. Das ist richtig, soweit bewusst bleibt, dass es zunächst einmal um Beteiligung im Rahmen einer gestalteten Umgebung geht.

Noch wichtiger aber sind wirksame Beteiligungsmöglichkeiten, die sich tatsächlich aus dem Alltagsgeschehen einer Kindertageseinrichtung heraus ergeben, aber nicht aus den „Angeboten“ – und solche realen Erfahrungen können ungemein fruchtbar sein für die Werterziehung, wie Volker Elsenbast beispielhaft verdeutlicht: Es können beispielsweise „Situationen entstehen, in denen Kinder, Erzieherinnen oder beide gerechte Entscheidungen herbeiführen wollen, zum Beispiel beim Teilen: Ob es um die Aufteilung von Spielmaterial geht oder um das Austeilen bei Mahlzeiten: Soll jede/jeder das Gleiche bekommen? Oder das, was er/sie will? Oder das, was Kinder so im Durchschnitt brauchen […]?“ (Elsenbast 2006, S. 17 [„Teilen“ im Original hervorgehoben].

Denn Vorsicht: Partizipation ist kein bloßes Mittel zum Zweck. Wo Beteiligungsmöglichkeiten pädagogisch allein arrangiert und zugeteilt werden, kann paradoxerweise gerade die Erfahrung von Beteiligung verloren gehen. Wer immer schon den Eindruck gewinnt, wirksamen Einfluss bereits zu besitzen, braucht sich, um eigene Gestaltungsmacht keine Gedanken mehr zu machen. Wo die Umwelt den Einzelnen steuert, gerät Bildung zur Anpassungsleistung: Entweder passt sich das Kind an seine gesellschaftliche Umwelt und die von ihr ausgehenden Erwartungen an, oder die Lernumwelt wird optimal an die Bedürfnisse des Kindes angepasst. Doch damit sich Selbständigkeit und Mündigkeit – die großen Themen der Bildung! – entwickeln können, braucht es gerade auch die Erfahrung, sich an den Widerständigkeiten der Umwelt abarbeiten zu müssen.

Ausblick

Dennoch bleibt der Auftrag an Erzieher und Erzieherinnen, die Beteiligungsansprüche der Kinder in ihrer pädagogischen Arbeit ernst zu nehmen. Der schon zitierte Jörg Maywald nennt drei Ebenen, auf denen pädagogische Fachkräfte die Beteiligung der Kinder fördern sollten (vgl. Maywald 2016, S. 31 f.): Erstens sind sie selbst ein Vorbild im Umgang mit den Beteiligungsrechten der Kinder. Zweitens sollten sie Kindern erschließen, welche Rechte sie haben. Und drittens sollten sich Erzieher und Erzieherinnen dafür einsetzen, die Rechte der Kinder auch in den Leitbildern, Konzepten und im Curriculum der jeweiligen Kindertageseinrichtung zu verankern.

Wer Erziehen zu seinem Beruf macht, sollte aber auch nicht vergessen, welche Beteiligungsmöglichkeiten er selbst hat: Pädagogische Fachkräfte sind „Experten“ für frühe Bildung und Erziehung. Und als solche sollten diese sich einmischen und das eigene Arbeitsfeld selbst mitgestalten: in beruflichen Gremien und Arbeitsgruppen, im Personalrat und in der Mitarbeitervertretung, in Gewerkschaft und Berufsverbänden, in der Kommunalpolitik oder in der bildungspolitischen Öffentlichkeit.

 

[1] Axel Bernd Kunze: Bildung und Beteiligung. Ein Impuls aus der Erzieherausbildung an Fachschulen für Sozialpädagogik, in: Engagement 37 (2019), H. 4, S. 209 – 213.

[2] Anmerkungen. Der Beitrag wurde am 22. Juli 2019 an der Evangelischen Fachschule für Sozialpädagogik Weinstadt als Schulleitungsrede bei der feierlichen Zeugnisübergabe nach Abschluss des Berufspraktikums im Rahmen der Erzieher- und Kinderpflegeausbildung gehalten.

Literatur

Burchardt, M. (2018): Bildungsarrangements. In: Franz Kasper Krönig (Hg.): Kritisches Glossar der Kindheitspädagogik, Weinheim/Basel, S. 39.

Elsenbast, V. (2006): Beziehungen gerecht gestalten, in: Christoph T. Scheilke/Friedrich Schweitzer (Hg.): Das ist aber ungerecht! Mit Kindern Gerechtigkeit erfahren, 2., korrigierte Aufl., Gütersloh, S. 15 – 28.

Huber, W. (2006): Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, 3., überarb. Aufl., o. O. (Darmstadt) 2006.

Jugendministerkonferenz/Kultusministerkonferenz (2004): Gemeinsamer Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen. Beschluss der Jugendministerkonferenz vom 13./14.05.2004; Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 03./04.06.200, online: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_06_03-Fruehe-Bildung-Kindertageseinrichtungen.pdf [Zugriff: 24.07.2019].

Kunze, A., B. (2008): Beitragen und Teilhaben. Konturen von Bildungsgerechtigkeit im Licht des Berichts des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung zu seinem Deutschlandbesuch 2006, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 1/2008, S. 65 – 84.

Maywald, J. (2016): Kinderrechte in der Kita. Kinder schützen, fördern, beteiligen, Freiburg i. Brsg.

Riedl, A., M. (2017): Ethik an den Grenzen der Souveränität. Christliche Sozialethik im Dialog mit Judith Butler unter Berücksichtigung des Kindeswohlbegriffs, Leiden/Boston/Singapur/Paderborn.

Autor

Privatdozent Dr. Axel Bernd Kunze

Stiftung Großheppacher Schwesternschaft

Evangelische Fachschule für Sozialpädagogik Weinstadt

Pädagogisch-didaktische Schulleitung

Oberlinstraße 4

D-71384 Weinstadt (Rems)

E-Mail: [email protected]

Der Verfasser, promovierter Sozialethiker und habilitierter Erziehungswissenschaftler, lehrt als Privatdozent an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er ist als Schulleiter einer kirchlichen Fachschule für Sozialpädagogik tätig. Daneben hält er Lehraufträge in den Fächern Soziale Arbeit und Kindheitspädagogik an der Katholischen Stiftungshochschule München, der Evangelischen Hochschule Freiburg sowie der DIPLOMA Hochschule. Er war von 2006 bis 2009 in einem bildungsethischen DFG-Forschungsprojekt zum Recht auf Bildung tätig. Von 2009 bis 2011 war er Vertretungsprofessor für Schulpädagogik mit den Schwerpunkten Bildung und Erziehung sowie Leiter der Abteilung I (Bildung, Erziehung, Entwicklung) im Bereich Bildungswissenschaften der Universität Trier.