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Zitiervorschlag

Begabte und hochbegabte Kinder in Kitas. Wie wird Hochbegabung erfasst? 

Intelligenz als Schlüsselkomponente von Hochbegabung

Stefanie Sroka

 

Einleitung

In diesem Fachartikel werden zunächst die Begriffe Hochbegabung und Intelligenz genauer betrachtet sowie mehrere Hochbegabungsmodelle vorgestellt.

2 Intelligenz und Hochbegabung

2.1 Intelligenz als Schlüsselkomponente von Hochbegabung

Für die Begriffe Intelligenz, Hochbegabung, Begabung und Talent mangelt es an einheitlichen, anerkannten Definitionen. Die vielfältigen Definitionsversuche und -ansätze zu diesen Begrifflichkeiten sind auch immer das Produkt des historischen und kulturellen Zeitgeistes, aus dessen Anschauung sie erwachsen sind, und entwickelten sich ferner auch häufig als Ergebnis einer – beabsichtigten oder indifferenten – Einreihung in einen politischen Hintergrund (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 18 ff.). Der Begriff der Intelligenz ist innerhalb der Hochbegabungsforschung aber von zentraler Bedeutung, da Intelligenz in den gängigen Hochbegabungsmodellen für gewöhnlich eine essenzielle Rolle einnimmt und der Nachweis eines hohen Intelligenzquotienten (IQ) die Voraussetzung für die Diagnose einer Hochbegabung ist (vgl. u.a. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015, S. 17 f.).

Rohrmann und Rohrmann (2017) bieten folgende Definition für Intelligenz an:

„Intelligenz kann definiert werden als allgemeine Fähigkeit zum Denken oder Problemlösen in Situationen, die für das Individuum neu, d.h. nicht durch Lernerfahrungen vertraut sind. Sie ist damit ein Sammelbegriff für einen Teilbereich der kognitiven Fähigkeiten des Menschen, zu denen auch Wahrnehmungsvorgänge sowie Speichervorgänge im Gedächtnis gehören. Oft werden jedoch die Begriffe Intelligenz und kognitive Fähigkeiten mehr oder weniger synonym verwendet.“ (Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 20)

Das Cattell-Horn-Carroll-Modell (CHC-Modell) ist ein Intelligenzstrukturmodell, das von Preckel und Vock (2021) als aktueller Stand der Intelligenzstrukturforschung benannt wird (vgl. ebd., S. 49). Es umfasst derzeit 18 breitere Fähigkeiten, die 4 übergeordneten Faktoren zugeordnet sind, woraus sich wiederum die allgemeine Intelligenz g als höchste Hierarchieebene bildet, die sich aus den positiven Korrelationen der breiteren Fähigkeiten zusammensetzt (vgl. ebd., S. 49 ff.). Den 18 breiteren Fähigkeiten sind außerdem spezifische Fähigkeiten untergeordnet, die hoch miteinander korrelieren (vgl. ebd.). Das CHC-Modell bietet u.a. die Grundlage des K-ABC-Intelligenztests (vgl. Rohrmann 2017, S. 161).

Abbildung 1 CHC Modell Schneider

Abbildung 1: CHC-Modell nach Schneider & McGrew 2018, vereinfacht. Quelle: Preckel & Vock 2021; S. 51.

2.2 Hochbegabung

Historisch gesehen hat die Begabten- und Hochbegabungsforschung in Deutschland eine eher kürzere Geschichte. Erst seit den 1980er-Jahren begannen Forscherinnen und Forscher damit, sich expliziter mit besonders begabten und hochbegabten Kindern und Jugendlichen auseinanderzusetzen (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 17). So bleiben Preckel und Baudson (2012) beispielsweise bei ihrer Zusammenfassung über Definitionen am Anfang äußerst allgemein: „Auf die Frage, was Hochbegabung ist, gibt es zahlreiche Antworten“ (S. 9). Albert Ziegler (2008) gibt in seinem Werk Hochbegabung an, dass in der Wissenschaft, wenn über die Begriffe Begabung und Hochbegabung gesprochen wird, ein „nahezu babylonisches Sprachgewirr“ (S. 14) herrscht. Weigand und Müller-Oppliger weisen in dem Handbuch Begabung von 2021 darauf hin, dass es sinnvoll ist, an vielen Stellen vom sozialen Konstrukt Begabung zu sprechen, „weil […] das Begabungs- und Hochbegabungsverständnis stark von gesellschaftlichen und mentalitätsgeschichtlichen Faktoren abhängig und in wechselnde kulturelle Praktiken eingebunden ist“ (Müller-Oppliger & Weigand 2021, S. 13).

Rohrmann und Rohrmann (2017) geben in ihrem Werk Begabte Kinder in der KiTa zu bedenken, dass Fachkräfte ein breites Verständnis von Hochbegabung bevorzugen, um Spezialbegabungen in Bereichen wie Musik oder Sport, die oft nicht als Teil einer allgemeinen Hochbegabung angesehen werden, mit berücksichtigen zu können (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 20). Holling (1998) übernimmt für sein Gutachten Forschung und Förderung von Kindern und Jugendlichen im Bereich der Hochbegabung sogar die Klassifizierungen, mit denen Davis und Rimm 2004 bereits zahlreiche Definitionen geordnet hatten, um so einen besseren Überblick über diese zu geben (vgl. Holling 1998, S. 6). Die IQ-Definitionen stellen dabei eine eigene Klassifikation dar (vgl. ebd.). Diese Arbeit beschäftigt sich vorwiegend mit der kognitiven Hochbegabung.

Hierbei ist die Messung des Intelligenzquotienten (IQ) – trotz vielerlei Kritik – weiterhin das anerkannteste und zuverlässigste Mittel, um eine intellektuelle Hochbegabung feststellen beziehungsweise diese sicher identifizieren zu können. In Deutschland spricht man ab einem IQ-Wert von mindestens 130, was zwei Standardabweichung von der Norm entspricht und auf etwa 2 % der allgemeinen Bevölkerung zutrifft, von einer kognitiven Hochbegabung (vgl. u.a. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 45; Simchen 2005, S. 13 oder Breuer-Küppers et al. 2021, S. 17). Die statistische Verteilung des Intelligenzquotienten in der Bevölkerung wird in Abbildung 2 grafisch dargestellt.

Abbildung 2 Normalverteilung IQ

Im Sinne einer umfassenden Begabungsförderung ist der alleinige Bezug auf den IQ-Wert als nicht ausreichend anzusehen, eine Beschränkung auf diesen jedoch auch nicht notwendig. Gerade im Bereich der Elementarpädagogik ist die Fachöffentlichkeit aktuell bestrebt, einen professionellen und selbstverständlichen Umgang mit dem Thema der (Begabten-)Frühförderung auch außerhalb der gängigen IQ-Wertermittlung in Kindertageseinrichtungen zu etablieren und ein dynamisches Verständnis von Begabung und Hochbegabung zu erzeugen, für das diagnostische und fördernde Elemente pädagogischer Arbeit als Einheit verstanden werden müssen (vgl. Koop & Seddig 2021).

Es gibt eine Reihe von Gründen, sich insbesondere im elementarpädagogischen Bereich nicht allein auf den IQ-Wert zu konzentrieren. Ein Grund ist, dass die IQ-Werte bei jungen Kindern nicht sehr stabil sind und während der Entwicklung eklatanten Schwankungen unterliegen können (vgl. Ziegler 2008, S. 26 f.). Rost (2000) schreibt hierzu:

„Bei einem für Test und Retest gewählten Cut-off-Score von IQ ≥ 130 (Hochbegabungskriterium) läßt [sic!] sich bei einer angenommenen Retest-Reliabilität von rtt = 0.85 (für die Zeitspanne 9-15 Jahren) gerade einmal für ca. 50 % der ursprünglich als hochbegabt identifizierten Kinder die Hochbegabungsdiagnose nach einem Zeitraum von sechs Jahren erneut bestätigen. Bei einer Aufweichung des Hochbegabungskriteriums bzw. einer Herabsetzung des Cut-off-Scores im Retest auf IQ ≥ 125 steigt die Re-Identifikationsrate auf etwa 72 %.“ (S. 98 f.)

Der IQ-Wert stellt immer einen Bezug zur eigenen Altersgruppe dar, und Entwicklung, besonders in den ersten Jahren, findet sehr individuell und auch abhängig von einer frühen ganzheitlichen Förderung statt. Für junge Kinder ist hier primär die Familie wichtig und verantwortlich, aber auch die Kindertagesbetreuung, in der viele junge Kinder einen Hauptteil ihres Tages verbringen, ist in den letzten Jahren immer wichtiger in Bezug auf die Frühförderung geworden. Warum eine gute Frühförderung wichtig ist, dazu äußert Rost (2000) sich ebenfalls:

„Kinder aus Elternhäusern mit einem höheren sozioökonomischen Hintergrund weisen in Bezug auf Rangplatzverschiebungen bei Intelligenztestleistungen über das Alter hinweg eher einen Aufwärtstrend auf, bei Kindern aus Familien mit geringem Sozialstatus ist eher ein Abwärtstrend zu verzeichnen. Dieser Einfluß hält jedoch nicht an; die diesbezüglichen Korrelationen liegen für die Altersspanne von 12 bis 17 Jahren bei Null oder fallen leicht negativ aus. Das heißt, in der Phase der kindlichen Entwicklung, in der Intelligenz noch gut formbar ist bzw. keine ausgesprochen hohen Stabilitätswerte erreicht und in der das Elternhaus für das Kind von zentraler Bedeutung ist, spielt der elterliche Sozialstatus eine wichtige Rolle zur Vorhersage der intellektuellen Entwicklung (S. 101 f.).

Gerade bei sehr jungen Kindern ist es sinnvoll, von Entwicklungsvorsprüngen zu sprechen und nicht von einem stabilen Persönlichkeitsmerkmal auszugehen (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 49). Beispielsweise wird damit zum einen eine Etikettierung vermieden, die sowohl das Kind als auch Erziehende unter Druck setzen könnte, zum anderen lässt man die Dynamik zu, dass sich Entwicklungsvorsprünge mit der Zeit auf natürliche Weise wieder an die Altersgruppe anpassen. Gleichzeitig wird der Begabung aber Aufmerksamkeit geschenkt, sie wird wahrgenommen und kann auch entsprechend gefördert und kommuniziert werden. Als weiterer Grund ist sicherlich zu nennen, dass die wenigsten Kinder im Vorschulalter in Deutschland eine professionelle psychologische Entwicklungsdiagnostik durchlaufen, die eine IQ-Testung beinhaltet.

Auch wenn sich die Definitionen von Begabung und Hochbegabung sehr unterscheiden und gerade im Vorschulalter ein auf den IQ-Wert reduzierter Befund nicht ausreichend ist, so wird in der Fachliteratur dennoch immer wieder deutlich, dass Begabung und Hochbegabung als Potential verstanden werden, welches sich bestenfalls in außergewöhnlichen Leistungen oder Fähigkeiten niederschlägt. Dieses Potential entwickelt sich aber entgegen der auch heute noch verbreiteten Annahme nicht von allein, sondern bedarf Kenntnis, Förder- und Forderung sowie einer geeigneten Lernumwelt, um sich entfalten zu können (vgl. Preckel 2013, S. 24). Von einer positiven und anregenden Lernumwelt profitieren wiederum alle Kinder (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 48).

Es existieren zahlreiche voneinander differente, sich in Teilen sogar widersprechende Hochbegabungsmodelle. In der Begabungsforschung lassen sich zunächst zwei unterschiedliche Ansätze feststellen. Entweder wird die Performanz oder das Potential untersucht (vgl. Kuger 2013, S. 30). Während eine Performanzforschung retroperspektiv erfolgt, also bereits erbrachte Leistungen ausgewertet werden, setzt die Potentialforschung wesentlich früher an, nämlich zu dem Zeitpunkt, an dem von einer „Annahme günstiger Bedingungen für mögliche zukünftige Performanz“ (Kuger 2013, S. 31) ausgegangen werden kann. Hier gibt es zahlreiche Modelle, mit deren Hilfe darzustellen versucht wird, wie sich aus Potential eine außergewöhnliche Leistung entwickeln kann. Dass sowohl die genetische Anlage als auch eine möglichst positive (Lern-)Umwelt vorhanden sein müssen, um das zu erreichen, gilt inzwischen als selbstverständlich (vgl. Hoyer et al. 2013, S. 69).

Die multifaktoriellen, multidimensionalen oder auch mehrdimensionalen genannten Begabungs- und Hochbegabungsmodelle findet man in nahezu jeder Basisliteratur zum Thema (Hoch-)Begabung (vgl. u.a. Ziegler 2008, S. 48 ff.; Preckel & Baudson 2013, S. 15 ff.; Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 27 ff.). Diese Modelle bilden ab, dass Hochbegabung nicht nur als ein Potential, sondern auch als eine Entwicklungsaufgabe verstanden werden muss, damit im Verlauf (überdurchschnittliche) Leistungen erbracht werden können (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 30).

 

2.2.1 Das triadische Interdependenzmodell (Mönks)

Das von Mönks (1990) erweiterte triadische Interdependenzmodell der Hochbegabung basiert auf dem sehr bekannten Drei-Ringe-Modell, das von Renzulli in den 1970er-Jahren entwickelt wurde. Mönks (1990) fügte dem Drei-Ringe-Modell neben den Faktoren Intelligenz, Kreativität und Motivation die drei Lebenswelten Familie, Peers und Schule hinzu und verweist damit darauf, „dass sich Hochleistung in bestimmten sozialen Kontexten entwickelt und die wechselseitige Abhängigkeit (Interdependenz) von hochbegabten Verhalten und Umweltmerkmalen kaum zu trennen ist.“ (Müller-Oppliger 2021, S. 209)

Abbildung 3 Mönks erweiterte triadische Interdependenzmodell

Dieses Modell weist in einfacher Weise aus, dass das IQ-Grenzwertkriterium (in der Regel 130) allein keine Aussage darüber geben kann, ob vorhandenes Potential auch in Leistung umgesetzt werden kann und dass es hierfür weitere Faktoren benötigt (vgl. ebd.). Sowohl das Modell von Renzulli (vgl. 1978; 1993) als auch das von Mönks (1990) stimmen mit der heute vorherrschenden Sichtweise der Entwicklungspsychologie überein, dass es signifikant ist, wie „die Anlage und Bedürfnisse des einzelnen Individuums mit der Umwelt aufeinandertreffen“ (Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 29). Renzullis Modell (vgl. 1978; 1993) ist deshalb so wichtig, weil es das erste systemische Modell ist, das den IQ-Wert und damit die kognitive Hochbegabung als Ergebnis des Zusammenspiels des Betroffenen und diverser auf ihn wirkenden Einflüsse darstellt (vgl. Müller-Oppliger 2021, S. 207).

Es gibt jedoch auch Kritik an diesem Modell. Beispielsweise bleibt die Gewichtung der Faktoren Intelligenz, Kreativität und Motivation unklar, ebenso wie die Wechselwirkung oder Wirkmechanismen, womit auch die empirische Überprüfbarkeit erschwert ist. Unklar ist auch, ob es einer Mindestausprägung einzelner Faktoren bedarf oder ob eine geringere Ausprägung bei einem Faktor durch einen anderen kompensierbar ist. Sollte eine Mindestausprägung aller Faktoren angenommen werden, könnten viele Personen nicht berücksichtigt werden (vgl. Preckel & Vock 2021, S. 27). Das oben dargestellte Modell ist außerdem eine Übersetzung, die von Müller-Oppliger (2021) als „durchgängig verfälscht und unvollständig“ kritisiert wird, da der Faktor Intelligenz – im Englischen above average ability – besser und richtiger mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten übersetzt werden sollte, da es sonst zu einer „Verkürzung auf vorwiegend kognitive Fähigkeiten“ (Müller-Oppliger 2021, S. 207) kommt. Auch den Faktor Motivation übersetzt Müller-Oppliger (2021) anders, und zwar mit Aufgabenverpflichtung (vgl. ebd.).  

 

2.2.2 Das Münchner Hochbegabungsmodell (Heller)

Das Münchner Hochbegabungsmodell von Kurt Heller, Christopher Perleth und Ernst Hanny (1994) zählt ebenfalls zu den multifaktoriellen Modellen. Hier werden sieben Begabungsbereiche – Intellektuelle Fähigkeiten, Kreative Fähigkeiten, Soziale Kompetenz, Musikalität, Künstlerische Fähigkeiten, Psychomotorik und Praktische Intelligenz – unterschieden (vgl. Preckel & Vock 2021). Die Begabungsfaktoren werden „als Prädiktor für die Leistungsentwicklung gesehen, wobei die Umsetzung in Leistung wiederum durch personenbezogene und Umweltmerkmale moderiert wird.“ (Preckel & Vock 2021, S. 31)

Abbildung 4 Münchner Hochbegabungsmodell

In diesem Modell werden die Umwelteinflüsse und Persönlichkeitsmerkmale sehr differenziert dargestellt, die eine Leistungsentwicklung sowohl fördern als auch hemmen können (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 29 f.). Diskussionswürdig erscheint laut Müller-Oppliger (2021), dass keine Zusammenhänge zwischen Umweltfaktoren und Persönlichkeitsmerkmalen ausgewiesen werden und dass von Persönlichkeitsmerkmalen und Umweltfaktoren kein Rückbezug auf die Leistung vorgenommen wird. Das Münchner Begabungsmodell setzt keinen Grenzwert für Hochbegabung, sondern operiert mit anhaltenden Übergängen zwischen guten, sehr guten und hohen Begabungen (vgl. Preckel & Vock 2021, S. 32). Das Fehlen des für eine exakte Definition notwendigen Grenzwerts in mehrfaktoriellen Intelligenztests wird jedoch beispielweise von Rost (2000) kritisiert, da seiner Meinung nach in Untersuchungsergebnissen die prognostische Validität der allgemeinen Intelligenz für spätere Erfolge belegt wurde und es methodisch problematisch bleibt, mehrdimensionale Intelligentestes zur Identifikation oder Selektion von Hochbegabung einzusetzen (vgl. hierzu Rohrmann 2010, S. 162).

 

2.2.3 Die multiplen Intelligenzen (Gardner)

Howard Gardners Theorie von den multiplen Intelligenzen (vgl. Gardner 1982; 1983; 1988; 1991a; 1991b) ist sehr umstritten und häufig kritisiert worden, findet bei Pädagogen und Pädagoginnen in der Begabungsforschung aber weiterhin großen Anklang, da sie den unterschiedlichsten Anlagen und individuellen Eigenheiten, die jedes Kind mitbringt, Beachtung schenkt (vgl. Rohrmann & Rohrmann 2017, S. 23). Gardner (1993) unterscheidet zunächst sieben unterschiedliche Intelligenzen – in späteren Veröffentlichungen sogar neun (vgl. Koop & Müller 2010, S. 178). Er unterscheidet:

  • Linguistische Intelligenz
  • Logisch -mathematische Intelligenz
  • Musikalische Intelligenz
  • Räumliche Intelligenz
  • Körperlich-kinästhetische Intelligenz
  • Inter- und
  • Intrapersonale Intelligenz
  • Naturalistische Intelligenz
  • Existenzielle Intelligenz (vgl. ebd.)

In mehreren Studien konnte inzwischen nachgewiesen werden, dass es klare Zusammenhänge zwischen den von Gardner (vgl. 1993) aufgeführten Intelligenzen gibt und diese somit nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können (vgl. Koop & Müller 2010, S. 178). Die weiteren Überlegungen von Gardner (siehe hierzu Gardner 2002, S. 76 ff.) zu einer spirituellen Intelligenz, disziplinierten Intelligenz oder respektvollen Intelligenz lassen laut Rohrmann und Rohrmann (2017) „den Begriff Intelligenz zunehmend als Worthülse erscheinen, der mit beliebigen Inhalten angefüllt werden kann“ (S. 23).

Wie eine Worthülse erscheint auch der Titel des populärwissenschaftlichen Werkes von Gerald Hüther und Uli Hauser (2012): Jedes Kind ist hoch begabt. Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen. Dieses Buch zeigt auf, wie sich die Potentiale von Kindern positiv entwickeln und was nötig wäre, damit Lernfreude möglichst lange erhalten bleibt. Leider wird, wie auch Rohrmann und Rohrmann (2017) schon feststellten, der Begriff von Begabung dabei jedoch sehr beliebig verwendet (vgl. ebd., S. 47). Zudem wird der Eindruck erweckt, jedes Kind verfüge über eine Hochbegabung, die es nur zu entfalten gelte.

 

Literaturverzeichnis

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Autorin

Stefanie Sroka *1984, hat an der FH Münster den Bachelor Studiengang Soziale Arbeit und an der WWU Münster den Master of Arts Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik absolviert. Seit 2017 arbeitet sie im Amt für Kinder, Jugendliche und Familien der Stadt Münster im Bereich der Planung von Kindertagesstätten und konzeptionellen Grundsatzangelegenheiten. Sie ist verheiratet und hat zwei Töchter *2014 und *2016.