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Zitiervorschlag

Aus: DIE ZEIT 45/2001, Teil Wissen

Fünf Sterne für die Kleinsten. Was ist ein guter Kindergarten? In Deutschland herrschen beliebige Maßstäbe

Susanne Mayer

 

Die Alarmzeichen sind deutlich sichtbar: Sie tauchen in Gestalt von Enten auf und watscheln auf den großen Fensterscheiben eines Kindergartens herum. Gelbe, rote, blaue Klone, von schwitzenden Fingern um Pappschablonen ausgeschnippelt, zwanzig-, dreißig-, vierzigfach: Zeugnisse von Sklavenarbeit, getarnt als Kindergartenidylle. Im Winter kommen die Enten als Engelchen daher.

Über die Sommermonate sieht man Zöglinge solcher Kindertagesstätten von morgens bis abends draußen mit Schippe und Förmchen, so viel frische Luft, loben dann manche. Die Wahrheit: Hier werden kleine Genies auf pädagogisch magere Kost gesetzt. Buddeln, buddeln, und schon sind die kostbaren Kindersommer im Sand verschwunden.

Es gibt auch Alarmzeichen für schlechte Kindergartenqualität, die man weder hört noch sieht: Wenn Kinder nach Hause kommen und nichts zu erzählen haben. Keine Würmer aus dem Boden gezogen, kein Lied gelernt, nichts Selbstgestaltetes nach Hause gebracht als stolze Tagesernte aus dem Kindergartenalltag.

Gibt es in Deutschland gute Kindergärten? Sagen wir es so. Es gibt über drei Millionen Betreuungsplätze für Vorschulkinder. Und bestimmt engagierte Erzieherinnen, glückliche Kinder, wundervolle kreative Prozesse fast jeden Tag, wie Donata Elschenbroich in der letzten Ausgabe der ZEIT gefordert hat. Aber wo gibt es die? Und welche Chancen haben Eltern, einen solchen Platz für ihr Kind zu finden?

Fragen wir eine aus der Praxis, Anke Steenken, die in Hamburg seit 20 Jahren junge Erzieherinnen ausbildet und an ihren Arbeitsplätzen alle Tage besucht. Es gebe, sagt Anke Steenken, gelegentlich günstige Konstellationen. Erzieherinnen, die wissen wollen, was die Forschung zur frühkindlichen Entwicklung sagt, und den Mut haben, das eigene Handeln nach wissenschaftlichen Maßstäben zu überprüfen. Bitte: Wie viele solche Kindertagesstätten gibt es? "Vielleicht zehn Prozent", sagt Steenken.

Traurige Schätzung. Noch trauriger ist, dass niemand Genaueres weiß über die Qualität der Einrichtungen, denen Eltern ihre Kinder anvertrauen. Die einzige systematische Untersuchung zur Frage Wie gut sind unsere Kindergärten? stammt vom Pädagogen Wolfgang Tietze. Sie ist vier Jahre alt und kam zum Schluss, zwei von drei Kindergärten seien höchstens mittelmäßig.

Die Berliner Studie ist einer der Gründe, warum die Diskussion um die Güte vorschulischer Bildung in Deutschland zurzeit explodiert. Erzieherinnen finden sich in Konferenzen wieder, in denen über Leistungsprofil und Qualitätscontrolling gestritten wird. Eltern sitzen ihnen im Nacken, hungrig haben sie Informationen über die Bildungsbedürfnisse ihrer Kinder verschlungen. Nun wollen sie hören, was passiert, wenn sie Julchen oder Lukas abgegeben haben. Selbst die Politik bewegt sich: Das Bundesfamilienministerium hat vor einem Jahr eine Untersuchung zur Kindergartenqualität in Auftrag gegeben.

Wolfgang Tietzes Studie dokumentiert den Umgang von Erziehern mit ihren Zöglingen in über 100 Kindergärten. Das Ergebnis: Nur in drei von zehn Kindergartengruppen gab es bedeutungsvolle Gespräche zwischen den Kindern und den Erziehern. Gemeinsame Spiele, die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten, künstlerische Anregung machten nicht mal sieben Prozent der beobachteten Zeit aus. Es fiel das böse Wort von der "pädagogischen Gleichgültigkeit". Die Auswirkungen auf Kinder seien gravierend, heißt es im Bericht. Die Entwicklung der Sprachfähigkeit von Kindern in guten und solchen in schlechten Gruppen differiert bis zu einem Jahr.

Besonders schlecht schnitten ausgerechnet Ganztagskindergärten ab, die sich viele Eltern so wünschen, weil sie zumindest eine Halbtagsarbeit der Mutter erlauben! In diesen Einrichtungen, so Tietze, sei nicht einmal die Norm, dass die Kinder begrüßt oder verabschiedet würden. Gerade Eltern, so zeigen andere Studien, erweisen sich als schlechte Anwälte ihrer Kinder. Sie neigen dazu, die Qualität des gewählten Kindergartens zu überschätzen, vermutlich, um Schuldgefühlen auszuweichen.

Wissen Erzieher, was sie tun? Wissen wir, was sie tun sollten? Schärfer nachgefragt: Haben wir Möglichkeiten der Kontrolle? Wer über die Qualität der Erziehung im Kindergarten nachdenkt, muss weit ausholen. Zu klären wäre, was wir den Kindern mitgeben wollen für ihr Leben. Und: "Welches Bild vom Kind legen wir zugrunde?", fragte Wassilios E. Fthenakis vom Münchner Institut für Frühpädagogik auf einer Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung zum bang formulierten Tagungsthema "Kinder in besten Händen?"

Das Zauberwort Konkurrenz

Fthenakis redete mit Passion über die Gesellschaft der Postmoderne als eine, die von kulturellen Unterschieden geprägt sei, aber auch von der Unsicherheit persönlicher und beruflicher Beziehungen. Eine Welt, die später permanentes Lernen und Hochleistung einfordern würde, in der Kinder sich aber auch rechtzeitig wappnen müssten gegen die Überflutung mit medialen Reizen und Anforderungen der gefräßigen Arbeitswelt. In der sie nicht aus dem Blick verlieren dürften, was sonst noch im Leben zählt. Welch ein Terrain für pädagogische Reflexion, die doch erkennen müsste, was aus all dem folgt. Es habe jedenfalls keinen Sinn, "die Fünfjährigen sich im Kindergarten langweilen zu lassen", sagte Fthenakis.

Jeden Tag sei die Qualität einer Pädagogik neu zu erringen, betont Hedi Colberg-Schrader, Leiterin der "Vereinigung", einem Zusammenschluss von über 170 Einrichtungen in Hamburg. Zum Beispiel als Antwort auf die Frage: Wie soll die Begrüßung eines neuen Kindes im Kindergarten aussehen? Oder: An welchen Merkmalen erkennen wir, ob das, was Kinder spielen, auch ein gutes Spiel ist?

Vor wenigen Jahren war es so einfach. Qualität hieß Gruppengröße mal Quadratmeter und Anzahl der Erzieherinnen, multipliziert mit Sicherheitsstandards. So entstanden gelegentlich wundervolle Einrichtungen mit Schlafräumen, Kuschelecken aus feuerresistenten Materialien und bunten Zwergenklos. Dumm nur, dass es so wenige waren. Und nicht selten noch nicht geöffnet hatten oder schon zu waren, wenn Eltern sie brauchten. Zur Beurteilung der Qualität des Kindergartens als Dienstleistung jedenfalls wird keine Studie benötigt: Sie ist eine Katastrophe.

Im System der öffentlichen Kinderbetreuung waren Eltern bislang Leute, die Kinder zu spät ablieferten, nicht rechtzeitig abholten und auch noch Fragen stellten. In privaten Elterninitiativen waren sie verplant als - unbezahlte - Köche, Betreuer, Anstreicher oder Gärtner. Eine zu knappe Zahl an Plätzen erlaubte es, Eltern ausgefeilten Demütigungsritualen zu unterwerfen, wenn sie einen Platz ergattern wollten: vorsprechen Monat für Monat zum immergleichen Info-Abend!

Vorbei, ein Zauberwort hat alles verändert: Konkurrenz. Vielen Einrichtungen dämmert, dass bei schrumpfender Kinderzahl - in wenigen Jahren ist mit 20 Prozent weniger Kleinkindern zu rechnen - Eltern womöglich eine Kita wählen können. Plötzlich ist die Rede von der Macht der Eltern als Kunden.

Das Konzept haben Michaela Kreyenfeld, Katharina Spiess und Gert Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung entwickelt, es trägt den Namen Kita Card. Aufgewühlte Diskussion in Berlin, wo das System schrittweise eingeführt wird, oder in Hamburg, wo die Einführung angesichts vieler Schwierigkeiten verschoben wurde. Die Idee sieht vor, die öffentlichen Zuschüsse für Kindergartenplätze nicht mehr an die Einrichtungen auszuzahlen, sondern direkt an Eltern in Form von Gutscheinen, eben den Kita Cards.

Die Eltern erwerben diese Scheine gegen Zahlung ihres Beitrags und leiten sie an Institutionen ihrer Wahl weiter - natürlich nur an solche, die ihre Wünsche behend erfüllen. Flexible Öffnungszeiten bitte! Und schon mal ein bisschen Musikunterricht? Oder Computer und ein wenig Englisch? Womöglich ein kleines Kindergarten-Sommercamp, als Service für berufstätige Eltern, deren Urlaubszeit die satten Ferien der deutschen Bildungsinstitutionen natürlich weit unterschreitet? Institutionen, die flexibel auf Elternwünsche reagieren, könnten die meisten Gutscheine einheimsen und so das meiste Geld.

Die kleinsten Einheiten sollen 2-Stunden-Betreuungsscheine sein. Die größten Befürchtungen sind, dass Bildung von Kindern nicht in 2-Stunden-Einheiten zu vermitteln ist, geschweige denn so eine gute Gruppendynamik wächst. Kinder arbeitsloser Eltern würden womöglich kostenfrei ganz zu Hause rumdümpeln, Kinder arbeitswütiger Eltern vielleicht auf lange Tage wegorganisiert.

Zudem: Welche Chancen hätten Eltern, die Qualität der Betreuung zu beurteilen? Sie sind ja schließlich nicht dabei. Weshalb Katharina Spiess nun zusammen mit dem Berliner Pädagogen Wolfgang Tietze vorgeschlagen hat, die Qualität der Kindergärten durch unabhängige Experten zu bewerten und nach amerikanischem Vorbild durch die Vergabe von Sternen kenntlich zu machen. Gute Fortbildung, ein eigenes Labor, ein Kunstschwerpunkt: Wow, das gibt eine Fünf-Sterne-Kita!

Der Haken ist: Bislang fehlt in Deutschland, anders als beispielsweise in Schweden, ein national verbindliches Bildungskonzept für die frühen Jahre, dessen Einhaltung überprüft werden könnte - ja, es gibt noch nicht einmal den Entwurf eines Konzepts. So herrscht in den Einrichtungen allgemeines Durchwursteln. Was die eine Einrichtung sich vornimmt ("Das Kind in seiner Autonomie stärken"), kann das Gegenteil sein von dem, was die Einrichtung nebenan für eine Priorität hält ("Die Einfügung des Kindes in die Gruppe fördern"). Innerhalb ein und derselben Einrichtung hat womöglich jedes Erzieherteam eigene Vorstellungen oder jede Kollegin für sich ein Konzept der Marke Eigenbau. Bei aller Freude über eine Pluralität der Angebote gehen Kritiker von einer großen Beliebigkeit aus, nach der mit den Kleinen verfahren wird. Der Sachverständigenrat Bildung der Hans-Böckler-Stiftung begutachtete die Situation und kam im Juni zu dem Schluss: "Der pädagogische Auftrag der Einrichtungen bleibt diffus." Es fehlten "konkrete, in Curricula umsetzbare Vorgaben".

Deutschland ist, mit Ausnahme Österreichs, das einzige Land Europas, das glaubt, für Erzieher der kleinen Kinder keine einheitlichen Ausbildungsstandards zu brauchen. Mal reicht ein Hauptschulzeugnis als Zugang, mal soll es die Realschule sein, hier wird zum Abschluss geprüft, dort nicht. Die Hans-Böckler-Stiftung listet auf, was fehlt: Die zentralen Probleme der Praxis seien im Fächerkanon nicht beachtet, der Ausbildung fehle die wissenschaftliche Vertiefung.

Revolution von unten

Während Europa seine Kleinsten nur Erziehern anvertraut, die an Hochschulen ausgebildet sind und die wie ein Grundschullehrer honoriert werden, rekrutiert die Bundesrepublik Frauen, die nicht selten, so Donata Elschenbroich, mit der Last eigener unerfreulicher Bildungswege antreten. Und sich von der Diskussion über die Qualität ihrer Arbeit überfordert fühlen. Es sind Frauen, die gerade mal ein bisschen über 2000 Mark brutto verdienen, die weder Aufstiegschancen haben noch gesellschaftliche Anerkennung. Was die wohl leisten können, fragt man sich.

Die Antwort ist erstaunlich. Gerade unter ihnen sind viele, die sich auf den Weg gemacht haben. Es findet eine Art Revolution von unten statt. Die Erzieher - meist also Frauen - entwickeln in Ermangelung von Vorgaben eigene Qualitätskonzepte mit so unhandlichem Werkzeug, das da heißt: ISO 9000 oder Total Quality Management Modell. In Hamburg bei der "Vereinigung" erarbeitet jede Einrichtung eigene Profile im Rahmen eines übergreifenden Erziehungskonzeptes, das für alle Einrichtungen verbindlich ist.

Die Arbeiterwohlfahrt entwickelt für einzelne Kindergartensituationen Leitlinien und Merkmale, anhand derer alle prüfen können, ob Vereinbarungen eingehalten werden. Die Kinder zanken sich. Wie reagiert eine gute Pädagogin? Sie bietet Hilfe an. Sie sucht mit den Kindern nach den Ursachen des Streits, bespricht mögliche Lösungen. Nach und nach sollen so Schlüsselsituationen des Alltags aufgearbeitet werden, vielleicht eine pro Jahr. Man ahnt: Es ist ein weiter Weg.

Wo es hingehen könnte mit der Pädagogik für Vorschulkinder haben übrigens schon 1996 die Experten der Europäischen Kommission in einem auf zehn Jahre angelegten Aktionsprogramm vorgelegt. Öffentlich geförderte Einrichtungen sollten für 90 Prozent der Kinder zwischen drei und sechs Jahren Tagesplätze anbieten - und für 15 Prozent der Kinder unter drei. Die Bildung in Kindertagesstätten habe "ein Verständnis für mathematische, biologische, naturwissenschaftliche, technische und ökologische Konzepte" zu fördern, außerdem "musikalische" und "ästhetische" Fähigkeiten.

Im Augenblick haben 16 Prozent unserer Kindergartenkinder einen Ganztagsplatz, Krippenplätze gibt es für knapp 5 Prozent der Kleinen. Ein Ausbau des Systems, sodass es den Bedarf deckt und hohen Qualitätsansprüchen genügt, ist nicht umsonst zu haben. Die Hans-Böckler-Stiftung rechnet mit bis zu 60 Milliarden Mark Mehrausgaben pro Jahr. Die Frage ist, ob es uns das wert ist.